Bürgel (Hessen)
Bürgel mit seinen derzeit mehr als 10.000 Einwohnern ist bereits seit 1908 ein Ortsteil der südhessischen Großstadt Offenbach/Main (Ausschnitt einer hist. Karte von 1905, aus: wikipedia.org, gemeinfrei und Kartenskizze 'Stadtteile von Offenbach', NNW 2019, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 2.0).
In den 1820/30er Jahren war fast jeder dritte Einwohner Bürgels mosaischen Glaubens.
Vermutlich haben bereits im Mittelalter jüdische Familien in Bürgel gelebt. Urkundliche Erwähnungen von Juden aus Bürgel stammen aus den Jahren 1492, 1566 und 1594/1599 (in Gerichts- u. Steuerakten). Nach dem Dreißigjährigen Krieg setzte eine Zuwanderung ein, die zur Vergrößerung der bereits 1603 gebildeten, aber im Verlauf des Krieges wieder dezimierten jüdischen Gemeinde führte.
Die wirtschaftliche Lage der Bürgeler Juden - sie gehörten bis 1802 zum Erzstift Mainz - war bis in die Mitte des 18.Jahrhunderts schlecht; sie lebten zumeist vom kaum Ertrag bringenden Kleinhandel und von Almosen. Erst mit dem Aufstieg Offenbachs zur Industriestadt verbesserte sich auch ihre ökonomische Situation.
Hatte man seit dem späten Mittelalter Gottesdienste in einem Raum im Torturm (Falltor) abgehalten, so errichtete die Gemeinde 1824 auf einem angekauften Doppelgrundstück in der Niedergasse (heutige Bürgerstraße) eine kleine Synagoge, die über ca. 80 Männer- und 40 Frauensitze verfügte.
Computersimulation des ehem. Synagogengebäudes (Bearb. Dominik Mangelmann, in: alemannia-judaica.de)
Vermutlich existierte in der Nähe ein rituelles Bad.
Religiöse Aufgaben der Gemeinde besorgte ein angestellter Lehrer; letzter Lehrer der Gemeinde war von 1895 bis 1923 Abraham Weinberg.
Der zunächst im Torturm abgehaltene Religionsunterricht wurde ab den 1820er Jahren im Obergeschoss eines von der jüdischen Gemeinde erworbenen Wohnhauses erteilt. Trotz ihrer angespannten Finanzsituation weihte die Gemeinde Bürgel 1854 ein neues Schulhaus ein. Von der Auflösung der bestehenden Konfessionsschulen in den 1870er Jahren war auch die jüdische Elementarschule betroffen, sie ging in das Eigentum der Kommune über.
Ein außerhalb der Ortschaft gelegener jüdischer Friedhof muss bereits im 17.Jahrhundert angelegt worden sein. Er diente anfangs auch den verstorbenen Offenbacher und Mühlheimer Juden als letzte Ruhestätte. In den 1820er und 1840er Jahren wurde das Bestattungsgelände erweitert, und auch nach der Eingemeindung Bürgels nach Offenbach nutzte man den Friedhof weiter.
Der jüdischen Gemeinde Bürgel – sie unterstand dem Rabbinat in Offenbach - gehörten bis in die 1890er Jahre auch die wenigen Juden aus Mühlheim/Main an. Nach der Eingemeindung Bürgels in die Stadt Offenbach bestand die jüdische Gemeinde aber bis 1939 weiter.
Juden in Bürgel:
--- um 1625 ....................... 2 jüdische Familien,
--- um 1660 ....................... 10 “ “ ,
--- um 1760 ....................... 25 “ “ ,
--- um 1810 ................... ca. 40 “ “ ,
--- 1830 .......................... 233 Juden (ca. 27% d. Bevölk.),
--- 1861 .......................... 304 “ (ca. 20% d. Bevölk.),
--- 1871 .......................... 229 “ ,
--- 1880 .......................... 211 “ (ca. 8% d. Bevölk.),
--- 1890 .......................... 204 “ (ca. 6% d. Bevölk.),
--- 1900 .......................... 149 “ ,
--- 1905 .......................... 131 “ ,
--- 1924 .......................... 84 “ ,
--- 1932/33 ................... ca. 15 jüdische Familien,
--- 1939 (Mai) .................... 27 Juden,
--- 1942 (Dez.) ................... keine.
Angaben aus: Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang - Untergang - Neubeginn, Bd. 1, S. 98
und Zur Geschichte der Juden in Offenbach a. Main, Hrg. Magistrat der Stadt Offenbach a.M., Bd. 2, S. 228
Ortszentrum Von Bürgel, hist. Postkarte (Abb. aus: postcard-shop.de)
In den 1920er Jahren verdienten die jüdischen Familien in Bürgel ihren Lebensunterhalt zumeist als Leder-Kleinfabrikanten und als Portefeuiller, aber auch als Viehhändler.
Anlässlich des 100jährigen Bestehens der Synagoge in Bürgel erschien in der "CV-Zeitung" vom 21.8.1924 ein Kurzbericht: "Anläßlich der Feier des hundertjährigen Bestehens der Synagoge in Bürgel, einem Stadtteil der Stadt Offenbach, hielten nach der Festpredigt des Bezirksrabbiners Dr. Dienemann aus Offenbach in der Synagoge Vertreter der Stadt, der Schulbehörde, der Vorsteher der Gemeinde Offenbach, der katholische und der evangelische Ortsgeistliche warmempfundene Ansprachen, die das harmonische Verhältnis priesen, das stets dort zwischen Juden und Christen herrschte.“
In den Jahren vor Beginn des Zweiten Weltkrieges hatten die meisten jüdischen Einwohner Bürgel verlassen und waren nach Offenbach und Frankfurt/M. verzogen oder emigriert. Während des Novemberpogroms zerstörten und plünderten auswärtige SA-Angehörige die Inneneinrichtung der Synagoge; das Gebäude selbst blieb erhalten und musste ein Jahr später verkauft werden. 1943 wurde es durch eine Luftmine schwer beschädigt und später dann zu einem Wohnhaus umgebaut. Die letzten neun jüdischen Einwohner Bürgels wurden im Jahre 1942 deportiert.
Nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem/Jerusalem und des „Gedenkbuches – Opfer der Verfolgung der Juden ...“ wurden 15* aus Bürgel stammende bzw. hier längere Zeit ansässig gewesene Juden Opfer der „Endlösung“ (namentliche Nennung der betroffenen Personen siehe: alemannia-judaica.de/buergel_synagoge.htm). * Anm. Die Angaben sind nicht vollständig, da weitere Shoa-Opfer aus Bürgel unter „Offenbach“ aufgeführt werden.
Heute erinnert nur noch der Friedhof an die jüdische Gemeinde in Bürgel.
Jüdischer Friedhof in Bürgel (Aufn. Otmar Frühauf, 2009)
Anm.: Die volkstümliche Bezeichnung des Bürgerplatzes, „Dalles“, stammt aus dem Jiddischen; abgeleitet ist sie vom hebräischen Wort für "Armut" – vermutlich deshalb, weil sich auf dem hier bestehenden Markt auch ärmere jüdische Bürger versorgen konnten.
Eine wertvolle Menora, die 1767 von einem in Bürgel lebenden Ehepaar der hiesigen Kultusgemeinde gestiftet worden war, gelangte kurz vor dem Ersten Weltkrieg in die USA, wo sie dem Jüdischen Museum in New York als Ausstellungsstück übergeben wurde.
US-Ex-Präsident Bush jun. neben der „Truman-Menora“ (Aufn. aus: ynetnews.com)
Seit 2009 sind auch in Offenbach-Bürgel sog. „Stolpersteine“ anzutreffen; in den Folgejahren wurden weitere Steine in die Gehwegpflasterung verlegt.
Aufn. J., 2019, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 4.0
[vgl. Offenbach/Main (Hessen)]
Weitere Informationen:
Caspar Lammert, Die israelische Gemeinde Bürgel a.M. - Jubiläumsschrift, Offenbach am Main 1924
Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang - Untergang - Neubeginn, Societäts-Verlag, Frankfurt/M. 1971, Bd. 1, S. 98 - 101
A.Kurt/O.Schlander, Der Kreis Offenbach und das Dritte Reich - Leben und Politik, Verfolgung und Widerstand im Kreisgebiet in den Jahren 1930 bis 1945, Dreieich 1991
Zur Geschichte der Juden in Offenbach am Main, Hrg. Magistrat der Stadt Offenbach a.M., 1994, Band 2, S. 228 f.
Thea Altaras, Synagogen und jüdische Rituelle Tauchbäder in Hessen – Was geschah seit 1945?, Königstein im Taunus 2007, S. 366
Bürgel, in: alemannia-judaica.de (mit Text- u. Bilddokumenten zur jüdischen Ortshistorie)
Stolpersteine Bürgel – Aktion am 14. Februar 2009 (Familie Salomon Reiss, Offenbacher Strasse 7), online abrufbar unter: pro-buergel.de
Auflistung der Stolpersteine in Bürgel/Offenbach am Main, online unter: wikipedia.org/wiki/Liste_der_Stolpersteine_in_Offenbach_am_Main
Stadt Bürgel (Bearb.), 19 neue Stolpersteine erinnern an das Schicksal jüdischer Mitbürger und Mitbürgerinnen, Romnija und Oppositionelle, online abrufbar unter: offenbach.de/kultur-und-tourismus/stadtgeschichte/geschichte-offenbach/stolpersteine20.03.2019.php
Frank Sommer (Red.), Auf den Spuren jüdischen Lebens in Offenbachs Stadtteil Bürgel, in: op-online.de vom 13.7.2024