Bürstadt (Hessen)
Bürstadt ist eine Kleinstadt mit derzeit ca. 16.000 Einwohnern im Nordwesten des südhessischen Kreises Bergstraße – wenige Kilometer östlich von Worms gelegen (Ausschnitt aus hist. Karte von 1905, aus: wikipedia.org, gemeinfrei und Kartenskizze 'Landkreis Bergstraße', aus: ortsdienst.de/hessen/landkreis-bergstrasse).
In der Ortschaft Bürstadt existierte vermutlich ab der ersten Hälfte des 18.Jahrhunderts eine kleine jüdische Gemeinde - bestehend aus nur wenigen Familien. Sie waren bis 1803 dem Erzbistum Mainz, danach dem Großherzogtum Hessen schutzgeldpflichtig.
Anm.: Schon im Laufe des 17.Jahrhunderts lassen sich einzelne in Bürstadt lebende Juden nachweisen.
Zu gottesdienstlichen Treffen versammelte sich die Gemeinde in der 1861 neu erbauten Synagoge (oder umfassend renovierten ?) in der Mainstraße; seitens der hiesigen christlichen Gemeinde sollen 200 Gulden zu den Baumaßnahmen an der Synagoge und des jüdischen Schul- u. Gemeindehauses beigesteuert worden sein. Zur Besorgung religiöser Aufgaben der Gemeinde war seit Mitte des 19. Jahrhunderts ein eigener Lehrer (zugleich Vorbeter und Schochet) am Ort. Langjährig – nämlich von 1865 bis 1899 - war Marx (Markus) Lösermann hier tätig; danach erteilten Lehrer umliegender Gemeinden den Religionsunterricht, so ab 1904 bis Anfang der 1930er-Jahre Jonas Meyer aus Lampertheim.
Verstorbene Gemeindeangehörige fanden auf dem zentralen jüdischen Friedhof in Alsbach-Hähnlein ihre letzte Ruhe; dort wurden auch Angehörige von 13 weiteren israelitischen Gemeinden begraben.
Friedhof in Alsbach (Aufn. Th. Pusch, 2008, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 3.0)
Die kleine Gemeinde war bis Mitte der 1920er Jahre dem orthodoxen Rabbinat Darmstadt unterstellt, danach dem liberalen Bezirksrabbinat Darmstadt.
Juden in Bürstadt:
--- 1806 ............................ 27 Juden,
--- 1830 ............................ 44 “ ,
--- 1847 ............................ 49 " ,
--- 1861 ............................ 45 “ (ca. 1% d. Bevölk.),
--- 1880 ............................ 31 “ ,
--- 1887 ............................ 30 " ,
--- 1900/05 ......................... 44 “ (in 8 Familien),
--- 1932 ............................ 24 “ ,
--- 1936 ............................ 20 " ,
--- 1939 ............................ 5 “ .
Angaben aus: Paul Arnsberg, Die Jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang - Untergang - Neubeginn, Bd. 1, S. 101
Die jüdischen Familien in Bürstadt bestritten ihren Lebensunterhalt mit Handlungen und Ladengeschäften; so gab es bis in die 1930er-Jahre das von Gustav Flörsheim betriebene Geschäft mit Holz, Baumaterialien und Haushaltwaren (Ernst-Ludwig-Straße), das Textilgeschäft von Adolf Brückmann (Andreasstraße), das Schuh-, Manufaktur- und Modewarengeschäft von Moses Brückmann (gegenüber dem alten Rathaus), die Getreide- und Futtermittelhandlung von Salomon Sinsheimer (Ernst-Ludwig-Straße) und die Getreide-, Futtermittel- und Düngemittelhandlung von Adolf Sondheimer (Mainstraße).
Die Baumaterialien-Handlung Gustav Flörsheimer (hist. Aufn., aus: alemannia-judaica.de)
Auf Grund der zunehmenden Entrechtung und des damit einhergehenden wirtschaftlichen Drucks verließ nach 1933 ein Teil der jüdischen Bewohner Bürstadt. Mitte der 1930er Jahre wurde das Synagogengebäude veräußert und anschließend vom neuen Besitzer abgerissen. Die während der Novembertage 1938 noch hier lebende jüdische Familie Meyer musste miterleben, wie ihre Wohnung verwüstet wurde. 1939/1940 haben die letzten jüdischen Bewohner Bürstadt verlassen; einigen gelang die Emigration nach Übersee.
Nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem/Jerusalem sind 17 gebürtige bzw. länger in Bürstadt lebende jüdische Bewohner Opfer der NS-Gewaltherrschaft geworden (namentliche Nennung der betroffenen Personen siehe: alemannia-judaica.de/buerstadt_synagoge.htm).
2013/2014 wurden in den Gehwegen Bürstadt sog. „Stolpersteine“ verlegt; sie erinnern an jüdische Deportationsopfer und an diejenigen, die durch Emigration ihr Leben retten konnten.
in der Mainstraße für Angehörige der Fam. Mehrl (Aufn. A., 2020, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 4.0)
verlegt in der Andreasstraße
Weitere Informationen:
Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen - Anfang - Untergang - Neubeginn, Societäts-Verlag, Frankfurt/M. 1971, Bd. 1, S. 101/102
Studienkreis Deutscher Widerstand (Hrg.), Heimatgeschichtlicher Wegweiser zu Stätten des Widerstandes und der Verfolgung 1933 - 1945. Hessen I Reg.bezirk Darmstadt, 1995, S. 16 f.
Bürstadt, in: alemannia-judaica.de (mit zumeist personenbezogenen Dokumenten der jüdischen Ortshistorie)
Hans Goll/Burkhard Vetter, Von Aaron bis Zacharias. Die israelitische Religionsgemeinde von Bürstadt, 1988/2013 (erste Bearbeitung von Hans Goll 1988; 2013 ergänzt von Burkhard Vetter)
Corina Merkel (Red.), Über Vergangenheit stolpern, in: morgenweb.de vom 14.7.2012
Matthias Rebsch (Red.), Nur der Auftakt: Stolpersteine als Mahnmal gegen die Nazis in Bürstadt, in „Bürstädter Zeitung" vom 26.6. 2013
Corina Merkel (Red.), Sieben weitere Stolpersteine genehmigt, in: „Mannheimer Morgen“ vom 4.6.2014
Corina Merkel (Red.), „Furchtbar wie diese Familie behandelt wurde“, in: morgenweb.de vom 24.11.2014
Auflistung der in Bürstadt verlegten Stolpersteine, online abrufbar unter. wikipedia.org/wiki/Liste_der_Stolpersteine_in_Bürstadt
Oliver Lohmann (Red.), Weitere Stolpersteine geplant, in: echo-online.de vom 9.12.2020
Sandra Bollmann (Red.), Herta und Alice Sondheimer gelingt Flucht von Bürstadt nach Amerika, in: „Mannheimer Morgen“ vom 27.1.2021
Sandra Bollmann (Red.), Stolpersteine sollen an Familie Sondheimer aus Bürstadt erinnern, in: „Mannheimer Morgen“ vom 4.2.2022