Eichstetten/Kaiserstuhl (Baden-Württemberg)
Eichstetten am Kaiserstuhl ist ein südbadisches Winzerdorf mit derzeit ca. 3.700 Einwohnern im Südwesten von Baden-Württemberg nur wenige Kilometer nordwestlich von Freiburg im Breisgau (Kartenskizze 'Landkreis Breisgau-Hochschwarzwald', Hagar 2010, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0).
Nach Emmendingen besaß Eichstetten den höchsten Anteil jüdischer Bevölkerung im Oberamt Hochberg. In den Jahrzehnten nach Mitte des 19.Jahrhunderts stellten die jüdischen Bewohner etwa 15% der Ortsbevölkerung.
In der ersten Hälfte des 18.Jahrhunderts ließen sich aus der Schweiz und dem Elsass vertriebene Juden in Eichstetten nieder; diese Familien hatten verwandtschaftliche Bindungen zu dem in Breisach lebenden Juden Josef Günzburger und durften sich deshalb gegen Zahlung eines Schutzgeldes an den Markgrafen zeitlich befristet ansiedeln. Ihr Wohngebiet konzentrierte sich ursprünglich vor allem auf die „Judengasse“, der heutigen Eisengasse. Gottesdienste hielt die konservative Gemeinde zunächst in einem Privathause ab; im Jahre 1828 wurde im Unterdorf eine Synagoge mit einer Mikwe eingeweiht. Im Vorfeld des geplanten Synagogenbaues hatte es im Dorf erhebliche Widerstände gegeben; so hatte man sich jahrelang geweigert, der jüdischen Gemeinde ein geeignetes Grundstück für einen Neubau zu verkaufen.
Eingangsportal und Innenansicht der Synagoge - hist. Aufn. (Landesarchiv Baden-Württ., Abb. in: Hundsnurscher /Taddey, aus: alemannia-judaica.de)
Mit der christlichen Ortsbevölkerung gab es während und nach dem Synagogenbau mancherlei Schwierigkeiten; so reichte im Nov. 1829 die jüdische Gemeinde beim Oberamt Emmendingen eine Beschwerde ein, nach der „schon etliche Male in der Nacht ... die neuerbaute Synagoge dahier nicht nur allein mit Geißenkot, sondern sogar auch mit Menschenkot angeworfen“ wurde. Zur Synagogengemeinde Eichstetten zählten auch die jüdischen Familien aus den Nachbargemeinden Endingen und Riegel. Seit 1840 gehörte zu den Gemeindeeinrichtungen auch ein neues Schulhaus, in der auch die Wohnung für den Lehrer/Kantor untergebracht war.
Stellenausschreibung aus der Zeitschrift „Der Israelit“ vom 10.2.1875
Bis um 1810 hatten die Eichstetter Juden ihre Verstorbenen auf dem jüdischen Friedhof in Emmendingen bestattet; danach verfügten sie über ein eigenes Friedhofsgelände am südlichen Ortsrand im Unterdorf.
jüdischer Friedhof in Eichstetten (hist. Aufn.)
Die Kultusgemeinde war seit 1827 dem Bezirksrabbinat Breisach, seit 1885 dem von Freiburg zugehörig.
Juden in Eichstetten:
--- 1721 .......................... 6 jüdische Familien,
--- 1738 .......................... 11 “ “ ,
--- 1766 .......................... 15 “ “ ,
--- 1777 .......................... 92 Juden,
--- 1801 .......................... 142 “ ,
--- 1825 .......................... 227 “ ,
--- 1840 .......................... 302 “ ,
--- 1867 .......................... 427 “ ,
--- 1875 .......................... 359 “ (ca. 14% d. Bevölk.),
--- 1887 .......................... 342 “ (ca. 12% d. Bevölk.),
--- 1900 .......................... 253 “ ,
--- 1913 .......................... 197 “ (ca. 9% d. Bevölk.),
--- 1925 .......................... 129 “ ,
--- 1933 .......................... 91 “ ,
--- 1938 .......................... 68 “ ,
--- 1940 (Sept.) .................. 22 “ ,
(Nov.) ................... keine.
Angaben aus: F.Hundsnurscher/G.Taddey, Die jüdischen Gemeinden in Baden, Denkmale, ..., S. 72/73
Ansicht von Eichstetten mit Synagoge im Vordergrund (Ausschnitt aus hist. Bildpostkarte, um 1910)
Noch zu Beginn des 20.Jahrhunderts lebten die meisten jüdischen Familien Eichstettens vom Viehhandel; im Jahre 1933 gab es hier 14 Viehhändler; ferner verdienten die jüdischen Familien ihren Lebensunterhalt im Einzelhandel. Der starke Rückgang der jüdischen Bevölkerung im Dorfe Eichstetten begann Ende des 19.Jahrhunderts. Viele Juden wanderten in die Städte ab, auch in die benachbarte Schweiz.
Die NS-Machtübernahme verschlechterte auch im Dorfe Eichstetten die Lebensbedingungen der hiesigen Juden. Der reichsweite Boykotttag am 1.4.1933 betraf die Eichstettener Juden aber kaum, da sie als religiös-orthodox eingestellte Juden die Sabbatruhe einhielten und an diesem Tage ihre wenigen Geschäfte ohnehin geschlossen hatten. Erst 1937/1938 führten Handelsverbote bzw. -einschränkungen zur Aufgabe von Geschäften. Beim Novemberpogrom von 1938 brachen SA- und SS-Angehörige - vor allem aus Freiburg kommend - die Synagoge auf, zerschlugen die Inneneinrichtung und setzten diese dann in Brand. Die jüdische Männer wurden aus ihren Häusern geholt und festgenommen, durchs Dorf geführt, tags darauf abtransportiert und für mehrere Wochen im KZ Dachau gefangengehalten; zwei von ihnen kamen hier ums Leben. An der Räumung der Synagogentrümmer mussten sich auch die jüdischen Einwohner beteiligen; außerdem wurden ihnen von der Kommune die angefallenen Kosten in Rechnung gestellt. Das unmittelbar neben der Synagoge stehende Badehaus wurde am 11.November von Eichstettener Dorfbewohnern völlig zerstört; auch der Leichenwagen wurde verbrannt. Das Synagogengelände ging zunächst für 500,- RM an die Kommune Eichstetten, danach in Privatbesitz über. Im Oktober 1940 deportierten die NS-Behörden die noch in Eichstetten lebenden jüdischen Bewohner ins südfranzösische Internierungslager Gurs; die meisten von ihnen überlebten die Kriegsjahre nicht.
Nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem/Jerusalem und des "Gedenkbuches - Opfer der Verfolgung der Juden ..." wurden nachweislich 81 Juden gebürtige bzw. längere Zeit in Eichstetten ansässig gewesene jüdische Bewohner Opfer der NS-Gewaltherrschaft (namentliche Nennung der betroffenen Personen siehe: alemannia-judaica.de/eichstetten_synagoge.htm).
Wenige Jahre nach Kriegsende wurden die Verantwortlichen für die Zerstörung der Eichstettener Synagoge angeklagt und zu milden Haftstrafen verurteilt. Den neun Rädelsführern warf das Gericht „Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Landfriedensbruch, Religionsbeschimpfung, Zerstörung eines Bauwerkes, Brandstiftung, Freiheitsberaubung und Körperverletzung” vor.
Auf dem jüdischen Friedhof Eichstettens zeugen heute noch etwa 470 Grabsteine von der jüdischen Geschichte der Ortschaft. 1988 wurde neben dem Friedhofstor eine Gedenktafel zur Erinnerung an die jüdischen NS-Opfer Eichstettens in die umgebende Mauer eingelassen.
Tor zum jüdischen Friedhof und Teilansicht (Aufn. L., 2021, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 4.0)
Gedenktafel (Aufn. L. 2021, aus: commons.wikimedia.org CC BY-SA 4.0)
Am 72.Jahrestag der Pogromnacht von 1938 wurde am ehemaligen Standort der Synagoge eine neue Tafel enthüllt, die auf die Zerstörung des Gotteshauses hinweist:
Hier stand die Synagoge der israelitischen Gemeinde Eichstetten. Sie wurde am 10.November 1938 gewaltsam zerstört.
Zum 70.Jahrestag der Deportation nach Gurs
Geht so mit den Menschen um, wie ihr selbst behandelt werden möchtet.
Bergpredigt Jesu nach Matthäus
Gedenktafel (Aufn. Chr. Michelides, 2020, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 4.0)
Seit 2003 wurden in Eichstetten sog. „Stolpersteine“ verlegt; inzwischen zählt man ca. 50 dieser in die Gehwege eingelassenen messingfarbenen Gedenkquader (Stand 2023).
in der Hauptstraße (Aufn. A. Schwarzkopf, 2016, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0)
"Stolpersteine" in Eichstetten (Aufn. Ursula Kügele/Manfred Breisacher, 2011 in: eichstetten.de)
Mit der Gestaltung eines Memorialsteines beteiligten sich Schüler/innen der Eichstettener Adolf-Gänshirt-Schule im Jahre 2008 am überregionalen Mahnmalprojekt Neckarzimmerns (Abb. aus: mahnmal-neckarzimmern.de). Während eine Skulptur neben der ehemaligen jüdischen Schule Eichstettens (Bahlinger Str.) aufgestellt wurde, befindet sich deren Doublette auf dem Gelände der zentralen Deportations-Gedenkstätte in Neckarzimmern.
Im Eichstettener Volksmund werden - meist von älteren Menschen - noch Ausdrücke verwendet, die aus dem Jiddischen, Hebräischen oder Rotwelschen stammen.
Im wenige Kilometer entfernten Endingen steht an der Hauptstraße der Wettebrunnen, im Volksmund „Judenbrunnen“ genannt. Die mündliche Überlieferung geht darauf zurück, dass sich von hier nach Osten bis zum Riegeler Tor hin die Judengasse erstreckte. Da mittelalterliche schriftliche Quellen in Endingen kaum anzutreffen sind, lässt sich keine jüdische Gemeinde belegen. Im Jahre 1313 sind erstmals Juden in Endingen genannt. Nach den Verfolgungen z.Zt. des Schwarzen Todes sind erst wieder in den 1460er Jahren mehrere jüdische Familien bezeugt. Aus dem Jahre 1462 ist ein Mord an einer christlichen Familie mit zwei Kindern nachweisbar; acht Jahre später wurden deshalb drei Juden zum Tode verurteilt; die übrigen jüdischen Bewohner sollen vertrieben worden sein. An die 1470 hingerichteten Juden erinnern heute noch die Flurbezeichnung „Judenbuck“ und das naheliegende „Judenloch“. Im 18.Jahrhundert sind zwei jüdische Händler in Endingen urkundlich genannt; ob sie hier allerdings eine dauerhafte Bleibe hatten, ist ungewiss. Seit den 1860er Jahren fanden dann einige jüdische Familien im Ort einen festen Wohnsitz; 1895 erreichte die jüdische Minderheit mit ca. 45 Personen ihre maximale Zahl; 1925 waren es dann nur noch sieben. Ihre Angehörigen waren der Synagogengemeinde Eichstetten angeschlossen.
Nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem wurden drei jüdische Bewohner Opfer des Holocaust (namentliche Nennung der betreffenden Personen siehe: alemannia-judaica.de/endingen_juedgesch.htm).
Weitere Informationen:
Adolf Gänshirt, 900 Jahre Heimatgeschichte des Weindorfes und Marktfleckens Eichstetten am Kaiserstuhl, o.O. 1952
Karl Kurrus, Die unschuldigen Kinder von Endingen – sog. Christenmord 1462 und Judenverbrennung 1470, in: "Schau-ins-Land", No. 83 (1965), S. 3 - 16
F.Hundsnurscher/G.Taddey, Die jüdischen Gemeinden in Baden. Denkmale, Geschichte, Schicksale, Hrg. Archivdirektion Stuttgart, Kohlhammer Verlag, Stuttgart 1968, S. 72 – 74
Germania Judaica, Band III/1, Tübingen 1987, S. 300 – 302 (Endingen)
Joachim Hahn, Erinnerungen und Zeugnisse jüdischer Geschichte in Baden-Württemberg, Konrad Theiss Verlag, Stuttgart 1988, S. 146 f.
Michael Longerich, Judenverfolgungen in Baden im 14. Jahrhundert am Beispiel von Breisach, Endingen, Freiburg und Waldkirch, in: "S' Eige zeige. Jahrbuch des Landeskreises Emmendingen", No. 4/1990, S. 33 - 46
Karl Günther, Juden aus Ihringen und Eichstetten auf dem alten jüdischen Friedhof in Emmendingen, in: "S'Eige zeige., Jahrbuch des Landkreises Emmendingen", No. 5/1991, S. 75 - 99
Christina Weiblein, Die geschichtliche Entwicklung der jüdischen Gemeinde Eichstetten a.K. im 18. u. 19.Jahrhundert - Arbeit im Fach Geschichte zur wissenschaftlichen Prüfung für das Lehramt an Gymnasien, Freiburg 1995
Barbara Löslein (Bearb.), Der jüdische Friedhof Eichstetten, Unveröffentlichte Grunddokumentation des Landesdenkmalamtes Baden-Württemberg, 1996
Thomas Steffens, Die ersten acht Jahrzehnte der jüdischen Gemeinde, in: Thomas Steffens (Hrg.), Eichstetten - Die Geschichte eines Dorfes, Band I, Hrg. Gemeinde Eichstetten, Eichstetten 2000, S. 231 - 234
Chr. Weiblen/U. Baumann, Die jüdische Gemeinde Eichstetten im 19. und 20. Jahrhundert, in: Thomas Steffens (Hrg.), Eichstetten - Die Geschichte eines Dorfes, Band II: Von 1800 bis heute, Hrg. Gemeinde Eichstetten, Eichstetten 2000, S. 109 - 160
Karl Schmidt, Hebräisch-jiddische und rotwelsche Ausdrücke im Eichstetterischen, in: Thomas Steffens, Eichstetten - Die Geschichte eines Dorfes, Band II: Von 1800 bis heute, Hrg. Gemeinde Eichstetten, Eichstetten 2000, S. 165 - 188
Eichstetten mit Riegel und Endingen, in: alemannia-judaica.de (mit diversen Text- u. Bilddokumenten zur jüdischen Ortshistorie)
Ursula Huggle, Angeklagt wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit - die Pogromnacht in Freiburg, Breisach, Ihringen und Eichstetten im Spiegel des Prozesses von 1949, in: "ZGO" 149/2001, S. 437 - 469
Ulrich Baumann, Zerstörte Nachbarschaften. Christen und Juden in badischen Landgemeinden 1862 - 1940, Studien zur jüdischen Geschichte Band 7, Dölling und Galitz Verlag, Hamburg 2001
Joachim Hahn/Jürgen Krüger, “Hier ist nichts anderes als Gottes Haus ...” Synagogen in Baden-Württemberg, Teilband 2: Orte und Einrichtungen, Konrad Theiss Verlag GmbH, Stuttgart 2007, S. 101 – 104
Abschluss des Mahnmalprojektes mit der Einweihung des Gedenksteins in Eichstätten am 22.Oktober 2008, online abrufbar unter: eichstetten.de/ortsinfo/aktuelles/2008
Mario Schöneberg (Red.), Die Eichstetter Synagoge brannte am hellen Tag, in: „Badische Zeitung“ vom 12.11.2008
Manfred Breisacher (Red.), Enthüllung der neuen Gedenktafel an der Synagogenmauer durch Wiltrude Hene-Lavelle am 10.Nov. 2010, online abrufbar unter: eichstetten.de
Manfred Frietsch (Red.), Helle Tafel erinnert an dunkle Zeit, in: „Badische Zeitung“ vom 12.11.2010
www.swr.de/swr2/stolpersteine/orte/akustische-stolpersteine-eichstetten
Auflistung der in Eichstetten verlegten Stolpersteine, online abrufbar unter: wikipedia.org/wiki/Liste_der_Stolpersteine_in_Eichstetten