Ellwangen/Jagst (Baden-Württemberg)

Datei:Ellwangen (Jagst) in AA.svg Ellwangen (Jagst) Bundesland: In welchem Bundesland liegt Ellwangen (Jagst)?Ellwangen (Jagst) ist eine Stadt mit derzeit nahezu 26.000 Einwohnern im Osten Baden-Württembergs nahe der Landesgrenze zum Freistaat Bayern - knapp 20 Kilometer nördlich von Aalen (Kartenskizze 'Ostalbkreis', Hagar 2010, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 3.0).

 

Bereits im 13. Jahrhundert lebten im ostwürttembergischen Ellwangen wenige jüdische Familien; Belege über Verfolgungen finden sich aus den Jahren 1298 und 1349. Vermutlich bestand diese mittelalterliche Gemeinde bis ins beginnende 15.Jahrhundert. Bauliche Überreste von jüdischen Kultuseinrichtungen aus dieser Zeit sind aber nicht mehr vorhanden. Einen jüdischen Friedhof gab es damals am Ort nicht; Verstorbene wurden in Nördlingen beerdigt. Über lange Zeit war es Juden verboten, sich in Ellwangen niederzulassen; nur Handel war ihnen in beschränkter Form hier gestattet. So traten sie fast regelmäßig auf dem Ellwanger Pferdemarkt in Erscheinung; allerdings war beim Besuch des ‚Kalten Marktes’ eine Kopfsteuer fällig, die der Abtei zufloss.

 

undefinedEllwangen um 1900 (Abb. aus: wikipedia.org, gemeinfrei)

Es sollte bis um 1870 dauern, ehe sich am Ort wieder eine neue kleine Gemeinde gründete, die in ihrer Blütezeit ca. 100 Mitglieder besaß. Die zugezogenen jüdischen Familien stammten zumeist aus Landgemeinden der Region, die in Ellwangen günstigere wirtschaftliche Perspektiven und für ihre Kinder bessere schulische Bildungsmöglichkeiten sahen.

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Anzeigen aus der Zeitschrift „Der Israelit“ vom 7.Febr. 1877 und vom 17.Juli 1890

Für gottesdienstliche Treffen stand ab Ende der 1870er Jahre zunächst ein angemieteter Betraum im „Gasthaus Rössle” an der Marienstraße zur Verfügung. Ab 1909 wurde ein Raum im ehemaligen Kapuzinerkloster genutzt. Bis 1926 versammelten sich hier die in Ellwangen angesehenen jüdischen Familien Heinrich, Levi, Neumaier und Neuburger. Ende 1926 stellte dann die Stadt Ellwangen der israelitischen Gemeinde im Erdgeschoss des Kammergebäudes (in der Bergstraße) einen größeren Raum zur Einrichtung des dritten Betsaales zur Verfügung. Dieser Betraum wurde am 5. Dezember 1926 feierlich eingeweiht, wie der folgende Zeitungsbericht dokumentiert:

Ellwangen, 6. Dezember (Israelitisches Gebetshaus). Der gestrige Sonntag war für die hiesige israelitische Gemeinde - der kleinsten in Württemberg - ein Gedenktag, wie sie noch nie einen feiern konnte: er galt der Einweihung eines Gebetshauses, eingebaut in das Hintergebäude des Versorgungsamts. Der freundliche und schmucke Raum vermochte die erschienenen Gemeindemitglieder und Gäste kaum zu fassen. Unter den Geladenen befanden sich Vertreter der katholischen und evangelischen Kirchengemeinde, des Oberamts, der Stadt mit fast dem gesamten Gemeinderat. Ferner waren vertreten die israelitischen Nachbargemeinden von Crailsheim, Gmünd und Oberdorf, sowie die Repräsentanten des israelitischen Oberrats in Stuttgart und des Bezirksrabbinats. Die Feier nahm einen schönen Verlauf. Namens der Stadt überbrachte an Stelle des verhinderten Stadtvorstandes Ratsschreiber Maier in treffenden Worten die Glückwünsche der Stadtgemeinde. Er konnte dabei auf das reibungslose Zusammenleben der Israeliten mit den anderen Konfessionen hinweisen. In glänzender Rhetorik wiesen Bezirksrabbiner Dr. Kroner - Oberdorf und namentlich auch das theologische Mitglied des israelitischen Oberrats, Dr. Rieger - Stuttgart, auf Zweck und Bedeutung der Feier hin, betonend, dass die Errichtung eines Hauses des Gottesdienstes einer Gemeinde nur zum Wohle gereichen könne. Letzterer gab noch einen Rückblick in die Geschichte der jüdischen Gemeinde in Ellwangen ... Weiter sprach noch der Präsident des Oberrats der israelitischen Religionsgemeinschaft Württembergs, Louis Hirsch - Stuttgart, der vor dem rührigen Vorstand der hiesigen israelitischen Gemeinde Louis Neumaier, den verdienten Dank zum Ausdruck bracht. Verschönt wurde die Feier noch durch den Gesang des Synagogenchors Gmünd unter der Leitung von Lehrer Uhlmann. ... Der israelitischen Gemeinde wird die erhebende Feier der Einweihung eines Gebetshaus, die einen Markstein in ihrer Entwicklung darstellt, dauernd im Gedächtnis haften.

(aus: „Jagstzeitung“ vom 7. Dez. 1926)

Verstorbene Gemeindeangehörige wurden zunächst auf dem Friedhof in Aufhausen bestattet; ab der Jahrhundertwende wurden die Toten auf einem eigenen Areal am „Hungerberg“ in der Dalkinger Straße beerdigt.

                                            aus der Zeitschrift „Der Israelit“ vom 22.Nov. 1900 

Die jüdische Gemeinde Ellwangen unterstand dem Rabbinat Oberdorf; die jüdischen Kinder wurden aber von dem Rabbinat Crailsheim religiös unterwiesen.

Juden in Ellwangen:

    --- 1825 ...........................  eine jüdische Familie,

    --- 1850 ...........................   18 Juden (in 4 Familien),

    --- 1863 ...........................   20   “  ,

    --- 1885/86 ........................   99   “   (ca. 2% d. Bevölk.),

    --- 1892 ...........................   67   “  ,

    --- 1910 ...........................   32   “  ,

    --- 1925 ...........................   17   “  ,

    --- 1933 ...........................   15   “  ,

    --- 1938 ...........................    2   “  ,

    --- 1940 ...........................    keine.

Angaben aus: Isolde Burr, Der jüdische Friedhof in Ellwangen. Notizen zur Geschichte der Juden ..., S. 124/125

Blick auf Ellwangen um 1900 (aus: wikipedia.org, CCO)

 

In den 1880er Jahren umfasste die Zahl der Gemeindemitglieder knapp 100 Personen; fast alle Juden Ellwangens gehörten damals dem höheren Bürgertum an. Doch schon wenige Jahre später war ihre Zahl stark rückläufig. Der Viehhandel spielte für die jüdischen Viehhändler der Stadt eine existentielle Rolle.

Zu Beginn der NS-Zeit lebten dann nur noch 15 Bewohner jüdischen Glaubens in Ellwangen; zwei Jahre später wurde die Gemeinde offiziell aufgelöst.

http://www.alemannia-judaica.de/images/Images%20392/Ellwangen%20GemZeitung%20Wue%2017061935.jpg aus: „Gemeindezeitung für die Israelitischen Gemeinden Württembergs“ vom 17.6.1935

1940 lebten überhaupt keine jüdischen Familien mehr in Ellwangen; Deportationen direkt aus Ellwangen hat es deshalb nicht gegeben. Wem nicht mehr die Emigration gelang, der wurde von seinem neuen Wohnort verschleppt. Nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem/Jerusalem und des "Gedenkbuches - Opfer der Verfolgung der Juden ..." wurden fünf gebürtige Ellwangener Juden Opfer des Holocaust (namentliche Nennung der betroffenen Personen siehe: alemannia-judaica.de/ellwangen_synagoge.htm).

1943 wurde der jüdische Friedhof aufgelassen, die Grabsteine verkauft und abtransportiert.

In den Jahren 1943 bis 1945 befanden sich in Ellwangen mehrere Außenkommandos des KZ Natzweiler-Struthof: etwa 100 Häftlinge, mehrheitlich Juden, wurden hier zu Arbeiten im Straßen-, Bunker- und Wohnungsbau eingesetzt. Zuletzt unterstanden die Kommandos dem KZ Dachau. Im Zuge des ‚Hessentaler Todesmarsches’ wurden am Bahnhof von Ellwangen kranke Häftlinge zurückgelassen, von denen die meisten wenig später in Dalkingen erschossen wurden. Auf dem Ellwangener Friedhof wurden im Sommer 1945 23 Opfer des ‘Hessentaler Todesmarsches’ beigesetzt.

 

Nach Kriegsende ordnete die amerikanische Militärverwaltung die umgehende Wiederherstellung des Beerdigungsgeländes an; ehemals aktive NSDAP-Mitglieder wurden zu diesen Arbeiten zwangsverpflichtet.

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Teilansicht des jüdischen Friedhofs in Ellwangen (Aufn. J. Hahn, um 1985)

Ein Gedenkstein zur Erinnerung an die Opfer des "Hessentaler Todesmarsches" wurde 1978 vor dem Eingangstor des jüdischen Friedhofs aufgestellt; die Inschrift ist auf Deutsch und teilweise Hebräisch abgefasst.

Seit 2003 erinnert vor dem Haupteingang des Peutinger-Gymnasiums eine Stele an die letzten drei jüdischen Schüler.

2018 beschloss der Ellwanger Gemeinderat, dass künftig in der Stadt sog. „Stolpersteine“ verlegt werden sollen. Zwei Jahre später wurde dann der erste Stein verlegt, der an den Maler u. Restaurator Max Reeb, einen bekennenden Katholiken, erinnert; der in Gegenerschaft zum Nationalsozialismus stehende Reeb wurde 1940 im KZ Dachau ermordet.

2023 wurden an vier Standorten weitere zehn messingfarbene Gedenkquader in die Gehwegpflasterung eingefügt.

 

 Zu den bekanntesten Söhnen der jüdischen Gemeinde Ellwangen gehörte der Buchhändler, Antiquar und Zeitungsverleger Isaak Hess (1789 in Lauchheim), der sich bei der Judenemanzipation in Württemberg einen Namen gemacht hatte.  Nach ihm wurde 1998 der kurze Verbindungsweg zwischen Brauer- und Hafnergasse benannt. 

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aus: „Allgemeine Zeitung des Judentums“ vom 6.4.1857 und Kleinanzeige aus: "Allgemeine Zeitung des Judentums" vom 7.10.1844

 

 

 

In Aalen - etwa 15 Kilometer südlich von Ellwangen – sind bis ins ausgehende 19.Jahrhundert keine jüdischen Bewohner nachweisbar; erst Ende der 1880er Jahre lebten vier Juden in der Stadt; ihre Zahl vergrößerte sich in der Folgezeit nur unwesentlich. In der „Reichskristallnacht“ wurden die Schaufenster der drei von Juden betriebenen Geschäfte zerstört, deren Inhaber "in Schutzhaft" genommen. Die letzte Aalener Jüdin (Fanny Kahn) wurde nach ihrer Zwangsumsiedlung „in den Osten“ deportiert und in Treblinka ermordet. Heute erinnert eine Straße an Fanny Kahn.

2018 wurden erstmalig mehrere sog. „Stolpersteine“ verlegt, die an ehemalige jüdische Bewohner erinnern; ein Jahr später fanden weitere Steine ihren Platz in der Gehwegpflasterung.

Stolperstein Aalen Fanny Kahn, Oesterleinstraße 10.jpgStolperstein Aalen Eduard Heilbron Bahnhofstraße 18.jpgStolperstein Aalen Frieda Heilbron Bahnhofstraße 18.jpgStolperstein Aalen Wilhelm Heilbron Bahnhofstraße 18.jpgAbb. M., 2018, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 4.0

 

 

 

Weitere Informationen:

Jüdische Friedhöfe und Gotteshäuser in Württemberg, Hrg. vom Oberrat der Israeliten in Württemberg 1932

Paul Sauer, Die jüdischen Gemeinden in Württemberg und Hohenzollern. Denkmale - Geschichte - Schicksale, Hrg. Archivdirektion Stuttgart, Kohlhammer Verlag Stuttgart 1966, S. 71/72

Germania Judaica, Band II/1, Tübingen 1968, S. 202

Isolde Burr, Der jüdische Friedhof in Ellwangen - Notizen zur Geschichte der Juden in dieser Stadt, in: "Ellwanger Jahrbuch", No.30 (1983/84), S. 115 ff.

Friedensforum Ellwangen (Hrg.), Vernichtung und Gewalt - Die KZ-Außenlager Ellwangens, Missionsdruckerei Reimlingen 1987

Joachim Hahn, Erinnerungen und Zeugnisse jüdischer Geschichte in Baden-Württemberg, Konrad Theiss Verlag, Stuttgart 1988, S. 423/424

Frowald H. Hüttenmeister (Bearb.), Der jüdische Friedhof Ellwangen, Unveröffentlichte Grunddokumentation des Landesdenkmalamtes Baden-Württemberg, 1991

Sabine Wierlemann/Nina Kenntner, Steine der Erinnerung - Der jüdische Friedhof in Ellwangen. Arbeit der 13. Klasse des Peutinger-Gymnasiums Ellwangen im Rahmen des Schülerwettbewerbs Deutsche Geschichte 1992/1993

Immo Eberl, Ellwangen um 1900. Die Württembergische “Gute Stadt” in der Tradition einer geistlichen Residenz, in: "Ellwanger Jahrbuch", No. 35 (1993/94), S. 89/90

Ellwangen/Jagst, in: alemannia-judaica.de (mit zahlreichen Dokumenten zur jüdischen Ortshistorie)

Inge Barth-Grözinger, Etwas bleibt – Das Schicksal der Familie Levi, Verlag Piper 2004 (Roman/Jugendbuch)

Andrea Huber (Red.), Stolz auf einen unbekannten Vater – In Ellwangen und in einem Roman entdeckte der Amerikaner Michael Levy seine Geschichte, in: "Die WELT“ vom 27.11.2004

Joachim Hahn/Jürgen Krüger, “Hier ist nichts anderes als Gottes Haus ...” Synagogen in Baden-Württemberg, Teilband 2: Orte und Einrichtungen, Konrad Theiss Verlag GmbH, Stuttgart 2007, S. 104 – 106

Immo Eberl, Die jüdischen Einwohner und die jüdische Gemeinde in Ellwangen, hrg. vom Geschichts- u. Altertumsverein (Sonderdruck), Ellwangen 2007

Peter Malle (Red.), Wo könnten die Stolpersteine liegen?, in: „Schwäbische Post“ vom 9.2.2018

Petra Rapp-Neumann (Red.), Stolpersteine sollen an Holocaust-Opfer erinnern, in: „Schwäbische - Ellwangen“ vom 17.3.2019

N.N. (Red.), Neue Stolpersteine werden verlegt, in: "Schwäbische - Aalen" vom 1.7.2019

Alexandra Rimkus (Red.), Der jüdische Friedhof in Ellwangen: von Nazis zerstört – von Nazis wieder angelegt, in: „Schwäbische – Ellwangen“ vom 8.5.2020

Alexandra Rimkus (Red.), Ellwangen hat seinen ersten Stolperstein – In Gedenken an einen unauslöschbaren Künstler, in: „Schwäbische – Ellwangen“ vom 10.7.2020

Gerhard Königer (Red.), Die letzte Jüdin in Ellwangen, in: “Schwäbische Post“ vom 26.5.2023

Gerhard Königer (Red.), Wenn die Geschichte lebendig wird, in: „Schwäbische Post“ vom 30.5.2023 (betr. Verlegung von zehn Stolpersteinen)