Erwitte (Nordrhein-Westfalen)

Lipperode Cappel 1905.pngErwitte in SO.svg Erwitte ist eine Kleinstadt mit derzeit ca. 16.000 Einwohnern südlich von Lippstadt im Kreis Soest – ca. 30 Kilometer westlich von Paderborn gelegen (Ausschnitt aus hist. Karte von 1905, aus: wikipedia.org, gemeinfrei  und  Kartenskizze 'Kreis Soest', TUBS 2008, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 3.0).

                           Bildergebnis für Erwitte historischDorf Erwitte um 1605 (Abb. aus: jsv-erwitte.net/historie/)

 

Nach Ende des 30jährigen Krieges haben sich vermutlich erstmals Juden in Erwitte im Herzogtum Westfalen niedergelassen; der „Daviden Jude zu Erwitte sambt seinen Brodtgenossen” wurde in einem Geleitbrief aus dem Jahre 1660 erstmals urkundlich erwähnt; demzufolge mussten Schutzgelder an den Fürstbischof von Köln gezahlt werden. Bis ca. 1800 waren in Erwitte nie mehr als sechs jüdische Familien ansässig; erst in der ersten Hälfte des 19.Jahrhunderts war ein deutlicher Anstieg der jüdischen Bevölkerung in Erwitte zu verzeichnen. In dieser Zeit muss sich auch die Synagogengemeinde gegründet haben.

Erwitter Juden trafen sich in einem Synagogenraum, der sich in einem Privathaus in der damaligen Kletterstraße, dem heutigen Hellweg, befand. Gottesdienste fanden ab 1914 nur noch sehr selten statt, da man kaum noch einen Minjan zusammenbrachte. In Erwitte gab es im 19.Jahrhundert eine private jüdische Elementarschule; sie war 1829 eröffnet worden. Diese hatte immer mit vielerlei Schwierigkeiten zu kämpfen; unter anderem gab es Raumprobleme und die Lehrer wechselten häufig. 1891 wurde sie wegen Schülermangels geschlossen.

Der „alte Judenfriedhof“ zwischen dem Brockbach und der Gografenstraße war in den 1780er Jahren angelegt worden; etwa ein Jahrhundert später richtete die jüdische Gemeinde eine neue, größere Begräbnisstätte in der Nähe des Kommunalfriedhofs ein.

Die Juden aus Westernkotten gehörten dem 1857 gebildeten Synagogenbezirk Erwitte an.

Juden in Erwitte:

    --- 1667 ...........................   3 jüdische Familien (ca. 20 Pers.),

    --- um 1720 ........................   3     “       “    ,

    --- um 1780 ........................   6     “       “    ,

    --- 1801 ...........................   5     “       “    ,

    --- 1812 ...........................  52 Juden (in 8 Familien),

    --- 1840 ...........................  68   “  ,

    --- 1860 ........................... 102   “   (ca. 6% d. Bevölk.),

    --- 1872 ...........................  79   “  ,

    --- 1890 ...........................  52   “  ,*     * mit Westernkotten

    --- 1903 ...........................  40   “  ,*

    --- 1912 ...........................  33   “  ,*

    --- 1925 ...........................  23   “  ,*

    --- 1933 ...........................  27   “  ,*

    --- 1936 ...........................  27   “  ,*

    --- 1942 ...........................  14   “  ,

             (Dez.) ....................  keine.

Angaben aus: Clemens Böckmann, Die jüdische Gemeinde in Erwitte, S. 5 und S. 11/12

 

Ab den 1860er Jahren wanderten die jüdische Bewohner Erwittes vermehrt ab. Bis ins 19.Jahrhundert hinein lebten die Erwitter Juden vom Kleinhandel und Verkauf von ‚Kramwaren’, einige handelten mit Pferden und fast alle waren als Metzger tätig. Zu Beginn des 20.Jahrhunderts besaß die Mehrheit der Juden Erwittes Einzelhandelsgeschäfte in verschiedenen Branchen. In das kleinstädtische Leben waren sie fest eingebunden; sie gehörten lokalen Vereinen an und waren bei der Bevölkerung geachtet. Waren zu Beginn der NS-Zeit die Beziehungen zwischen den jüdischen und „arischen“ Bewohnern noch weitgehend spannungsfrei, so wurde in den Folgejahren das Leben der Erwitter Juden immer beschwerlicher; unter dem Druck der NS-Behörden mussten geschäftliche Kontakte gekappt und persönliche Beziehungen eingestellt werden. Auch erste Tätlichkeiten - begangen durch aufgehetze HJ-Mitglieder - wurden nun verzeichnet. Ab- und Auswanderung der Erwitter Juden war die Konsequenz ihrer Ausgrenzung und wirtschaftlichen Ausblutung.

Während des Novemberpogroms demolierten auswärtige SA- und SS-Angehörige die Inneneinrichtung der Erwitter Synagoge in der Kletterstraße; dazu gehörten auch Kultgegenstände wie Thora-Rollen; das Gebäude selbst blieb aber unzerstört. In den wenigen, noch bestehenden Geschäfte demolierten Gewalttäter die Einrichtungen und warfen die Waren auf die Straße.

Das jüdische Leben in Erwitte endete dann mit den 1942 durchgeführten Deportationen; die letzten 14 Bewohner wurden im April bzw. Juli dieses Jahres in die Nähe von Lublin bzw. nach Theresienstadt abtransportiert. Ihr Hab und Gut wurde öffentlich versteigert.

 

Nur der jüdische Friedhof erinnert heute noch daran, dass in Erwitte einst eine jüdische Gemeinde bestanden hat; seit 1988 erinnert ein Mahnmal auf dem Gelände an die Opfer der Shoa.

Jüdischer FriedhofJüdischer Friedhof (Aufn. DonGatley, 2011, aus: wikipedia.org, CC BY 3.0)

Stolperstein Erwitte Hellweg 50 Synagoge.jpg Das ehemalige Synagogengebäude war vom neuen Besitzer zu einem Wohnhaus umgebaut worden und wurde Anfang der 1980er Jahre abgebrochen.

Seit 2012 sind in den Gehwegen von Erwitte zahlreiche sog. „Stolpersteine“ zu finden.

          verlegt für Fam. Eichenwald (Aufn. Städtisches Gymnasium Erwitte)

... in der König-Heinrich-StraßeStolperstein Erwitte König-Heinrich-Straße 16 Helene Ratheim.jpgStolperstein Erwitte König-Heinrich-Straße 16 Paul Bendix Ratheim.jpgStolperstein Erwitte König-Heinrich-Straße 16 Johanna Ratheim.jpgStolperstein Erwitte König-Heinrich-Straße 16 Erna Ratheim.jpgStolperstein Erwitte König-Heinrich-Straße 16 Willi Ratheim.jpg

Stolperstein Erwitte Am Markt 3 Klara Schreiber.jpgStolperstein Erwitte Am Markt 3 Regina Schreiber.jpgStolperstein Erwitte Am Markt 3 Siegfried Schreiber.jpg verlegt am Markt (alle Abb. aus: wikipedia.org, CCO)

 

 

 

Im Dorfe Horn - heute ein Stadtteil von Erwitte - gab es im 19.Jahrhundert eine relativ große israelitische Gemeinschaft, die um 1850/1860 immerhin ca. 80 Angehörige zählte; als Filialgemeinde war sie dem Synagogenbezirk Lippstadt angeschlossen. Zu den gemeindlichen Einrichtungen gehörte neben einem Friedhof auch ein Synagogengebäude, das Ende der 1850er Jahre neu erbaut worden war.

Juden in Horn:

--- 1738 ..........................  7 Juden,

--- 1858 .......................... 71   “  ,

--- 1871 .......................... 61   “  ,

--- 1895 .......................... 32   “  ,

--- 1925 ..........................  7   “  ,

--- 1933 ..........................  2 jüdische Familien.

Angaben aus: Joachim Rüffer (Bearb.), Erwitte-Horn, in: Historisches Handbuch der jüdischen Gemeinschaften in Westfalen und Lippe, S. 321

Zu Beginn der 1930er Jahre lebten noch zwei jüdische Familien in Horn. Obwohl zum Zeitpunkt des Novemberpogroms das Synagogengebäude nicht mehr in jüdischem Besitz war, verwüsteten SA-Männer die Räume.

Im Juli 1942 wurden die letzten in Horn lebenden jüdischen Personen ins Ghetto Theresienstadt verschleppt.

Auf dem jüdischen Friedhof – nordwestlich der Ortschaft gelegen – sind ca. 20 Grabsteine erhalten geblieben

Der jüdische Friedhof in der südwestlichen Feldflur von Horn hält die ehemalige jüdische Bevölkerung des Ortes in Erinnerung. Mit den Stolpersteinen soll dies bald auch im Dorf selbst geschehen. Foto: PulsFriedhofsgelände (Aufn. Bastian Puls, aus: "Der Patriot - Lippstädter Zeitung")

Derzeit werden Überlegungen angestellt, in Horn-Willinghausen „Stolpersteine“ zu verlegen (Stand 2024).

 

 

Weitere Informationen:

Franz Herberhold, Die politischen, wirtschaftlichen und rechtlichen Verhältnisse der Gemeinde Erwitte bis zum Beginn des 19.Jahrhunderts, in: 1100 Jahre Erwitte, Münster 1936, S. 31 ff. (bes. 128 - 131)

Eduard Mühle, Bildung der Synagogenbezirke im Kreis Lippstadt (1847 - 1855). Zur Geschichte der Juden unter preußischer Gesetzgebung, in: "Lippstädter Heimatblätter", Lippstadt 1984, S. 119 - 224

Clemens Böckmann, Die jüdische Gemeinde in Erwitte - Die Aufarbeitung von fast 300 Jahren jüdischer Geschichte in einer kleinen Stadt, Hrg. Volkshochschule Möhne-Lippe, Soest 1986

Walter Wahle, Ein Beitrag zur Geschichte der Juden in Erwitte, in: "Lippstädter Heimatblätter", No. 67/1987, S. 17 - 19

Margarete Meschede, Juden in Erwitte 1815 - 1871, Examensarbeit für die Lehrämter der Sekundarstufen I und II, Köln 1994

Willi Mues, Zur Geschichte der Juden im Kirchspiel Horn. Fragmente und Impressionen aus einer einstmals blühenden jüdischen Gemeinde, in: "Lippstädter Heimatblätter", No. 77/1997, S. 57 ff.

Günter Birkmann/Hartmut Stratmann, Bedenke vor wem du stehst - 300 Synagogen und ihre Geschichte in Westfalen und Lippe, Klartext Verlag, Essen 1998, S. 113

Michael Brocke (Hrg.), Feuer an dein Heiligtum gelegt - Zerstörte Synagogen 1938 in Nordrhein-Westfalen, Ludwig Steinheim-Institut, Kamp Verlag, Bochum 1999, S. 157 f.

Elfi Pracht-Jörns, Jüdisches Kulturerbe in Nordrhein-Westfalen - Regierungsbezirk Arnsberg, J.P.Bachem Verlag, Köln 2005, S. 536 - 540

Willi Mues, Erinnerung an die jüdische Gemeinde Erwitte, in: "Lippstädter Heimatblätter", No. 86/2006, S. 153 - 158

N.N. (Red.), Stolpersteine als Zeichen von Toleranz und Menschlichkeit, in: „Der Patriot – Lippstädter Zeitung“ vom 6.6.2012

Joachim Rüffer (Bearb.), Erwitte, in: Historisches Handbuch der jüdischen Gemeinschaften in Westfalen und Lippe – Die Ortschaften und Territorien im heutigen Regierungsbezirk Arnsberg, Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Westfalen, Ardey-Verlag Münster 2016, S. 308 - 314

Joachim Rüffer (Bearb.), Erwitte-Horn, in: Historisches Handbuch der jüdischen Gemeinschaften in Westfalen und Lippe – Die Ortschaften und Territorien im heutigen Regierungsbezirk Arnsberg, Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Westfalen, Ardey-Verlag Münster 2016, S. 318 – 324

Maria Peters (Bearb.), Erwitte-Westernkotten, in: Historisches Handbuch der jüdischen Gemeinschaften in Westfalen und Lippe – Die Ortschaften und Territorien im heutigen Regierungsbezirk Arnsberg, Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Westfalen, Ardey-Verlag Münster 2016, S. 315 – 318

Bastian Puls (Red.), Vom Leid der Erwitter Familie Eichenwald: Die Geschichte hinter den zerkratzten Stolpersteinen, in: „Der Patriot – Lippstädter Zeitung“ vom 22.12.2022

Bastian Puls (Red.), Gegen das Vergessen: Bürgerring plant Stolpersteine für Horn-Millinghausen, in: „Der Patriot – Lippstädter Zeitung“ vom 1.2.2024