Flieden (Hessen)
Flieden ist eine Kommune mit derzeit knapp 9.000 Einwohnern im äußersten SW des osthessischen Landkreises Fulda - ca. 20 Kilometer südlich der Kreisstadt gelegen (Ausschnitt aus hist. Karte, aus: wikipedia.org, gemeinfrei und Kartenskizze 'Landkreis Fulda', aus: ortsdienst.de/Hessen/Fulda).
Ortsansässige jüdische Familien sind in Flieden erst gegen Mitte des 17.Jahrhunderts namentlich nachweisbar; allerdings kann davon ausgegangen werden, dass sich bereits früher Juden hier ansiedelten; erste Spuren lassen sich ab 1562 finden - in Rechnungen des fuldischen Amts Neuhof; denn die geografische Lage Fliedens an der Handelsstraße Leipzig - Frankfurt und als Grenzort des Fuldaer Gebietes war ideal für jüdische Händler und Geldwechsler.
Als der Fuldaer Abt im Jahre 1671 die Ausweisung aller Juden aus seinem Stift „für ewige Zeiten” anordnete, sollen auch fünf Familien aus Flieden betroffen gewesen sein; doch schon wenige Jahre später durften sie zurückkehren. „Judenordnungen“ grenzten nun nahezu alle Lebensbereiche der jüdischen Bevölkerung im Stift Fulda detailliert ein; die wichtigste Ordnung war 1751 vom Fürstbischof Amand von Useck erlassen worden. Als 1810 Fulda an das Großherzogtum Frankfurt fiel, verbesserte sich der Status der Fuldaer Juden grundlegend.
Ihren ersten Betraum mit Frauenbad und Lehrerwohnung besaß die Fliedener Judenschaft in einem Haus Ecke Magdloser Straße/Hinzergasse, „Judenberg“ genannt. Die Fliedener Kultusgemeinde gründete sich offiziell im Jahr 1824.
aus der Zeitschrift „Der Israelit“ vom 15.6.1870
Ein schlichtes Synagogengebäude wurde in den 1870er Jahren in der Hinzergasse errichtet und bot knapp 80 Personen Platz; das bisher benutzte Bethaus wurde alsbald abgebrochen.
Synagoge in Flieden (hist. Aufn., um 1925, aus: flieden.de)
1876 wurde am Ort eine israelitische Elementarschule eröffnet, die allerdings stets nur wenige Kinder beschulte; als Anfang der 1930er Jahre kaum noch jüdische Kinder in Flieden lebten, wurde die Schule endgültig geschlossen.
Stellenanzeigen aus der Zeitschrift „Der Israelit“ vom 26.Juni 1878, vom 8.Sept.1887 und vom 24.Mai 1928
Der langjährige Lehrer/Kantor Simon Freudenberger, der fast vier Jahrzehnte in Flieden seinen Wirkungskreis hatte, unterhielt am Ort eine kleine „Mädchenpension“ (vgl. Anzeige).
Anzeige aus der Zeitschrift "Der Israelit" vom 19.Mai 1921
Ihre verstorbenen Angehörigen begrub die jüdische Gemeinde auf dem israelitischen Friedhof in Fulda. Um 1905 wurde ein eigenes Beerdigungsgelände an der Gemarkungsgrenze „Am Galgengraben“ in Richtung Neuhof angelegt, das auch von den Juden aus Neuhof mitgenutzt wurde. Allerdings soll zu Beginn des 18.Jahrhunderts in Flieden bereits ein jüdischer Friedhof existiert haben.
Die Kultusgemeinde Flieden unterstand dem Bezirksrabbinat Fulda.
Juden in Flieden:
--- um 1650 ........................ 3 jüdische Familien,
--- 1790 ........................... 25 Juden,
--- 1861 ........................... 43 “ ,
--- 1871 ........................... 39 “ (ca. 2% d. Bevölk.),
--- 1886/87 ........................ 83 “ (ca. 3% d. Bevölk.),
--- 1895 ........................... 105 “ ,* *andere Angabe: 86 Pers.
--- 1905 ........................... 86 “ ,* *andere Angabe: 73 Pers.
--- 1930 ........................... 62 “ ,
--- 1932/33 .................... ca. 60 “ (in 18 Familien),
--- 1942 (Sept.) ................... keine.
Angaben aus: Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang - Untergang - Neubeginn, Bd. 1, S. 165
und Raimund Henkel, Zur Geschichte der Juden in Flieden (diverse Beiträge)
In der Judenmatrikel des Jüdischen Landtags von 1801 sind sieben jüdische Haushalte für Flieden aufgelistet. Bis in die erste Hälfte des 19.Jahrhunderts betrieben die Juden Fliedens mehrheitlich Kramwaren- und Viehhandel, erst danach gab es auch Handwerker/Gewerbetreibende. Wie fast überall in den Landgemeinden wanderten ab 1850/1860 auch aus Flieden jüdische Familien ab, vor allem in die USA. Trotz dieser Tatsache erreichte die Zahl der Fliedener Gemeindeangehörigen um 1895 ihren Höchststand; danach waren die Zahlen wieder rückläufig.
Hinsichtlich ihrer Berufsstruktur setzte sich die Fliedener Judenschaft um 1930 aus mehreren Viehhändlern, Kleinhändlern und Maklern zusammen; Nathan Katz besaß am Ort ein Kaufhaus bzw. eine Kolonialwarenhandlung.
Lehrstellenangebote (1894/1904)
Juden hatten in Flieden auch wichtige Funktionen im Kommunalwesen inne, so z.B. Salomon Katzmann (1855-1926), der als Gründer der Freiwilligen Feuerwehr Fliedens gilt.
Nach der NS-Machtübernahme änderte sich allmählich das dörfliche Zusammenleben, obwohl die Nationalsozialisten anfänglich relativ wenig Einfluss hatten. Von den 1932/1933 18 jüdischen Familien Fliedens emigrierten etwa die Hälfte in die USA; weitere ca. 20 Personen verzogen in deutsche Städte.
Während des Novemberpogroms drangen NSDAP-Anhänger gewaltsam in die Synagoge ein, zerstörten mit Äxten die Einrichtung und setzten diese anschließend auf dem Vorhof in Brand. Zu diesem Zeitpunkt hatten aber bereits die allermeisten Juden Flieden verlassen. Ein älteres Ehepaar, Markus Goldschmidt und seine Ehefrau, wurde im Frühjahr 1942 direkt von hier aus deportiert.
Nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem/Jerusalem und des "Gedenkbuches - Opfer der Verfolgung der Juden ..." sollen 23 gebürtige bzw. länger in Flieden lebende jüdische Bewohner Opfer des Holocaust geworden sein (namentliche Nennung der betroffenen Personen siehe: alemannia-judaica.de/flieden_synagoge.htm).
Jüdischer Friedhof in Flieden (Aufn. H. Hausmann, 2005)
Auf dem jüdischen Friedhof erinnert seit 1947 ein Mahnmal an die Opfer der NS-Herrschaft; neben den 19 Namen ist der folgende Text zu lesen:
Es möge sich Gott erinnern an diejenigen, welche umgekommen sind durch die frevelhafte deutsche Naziregierung
zur Heiligung des Namens und zur Heiligung des Volkes !
Im Paradies möge ihre Seele Ruhe finden, für ewig werden sie nicht vergessen werden.
Das einstige Synagogengebäude in der Hinzergasse wurde Anfang der 1950er Jahre von der evangelischen Kirchengemeinde übernommen; trotz eines kleinen Anbaus und eines aufgesetzten Dachreiters hat das Gebäude bis heute kaum sein äußeres Erscheinungsbild verändert.
Ehem. Synagogen- bzw. heutiges Kirchengebäude und Gedenkplatte (Aufn. J. Hahn, 2007)
Am Standort der einstigen jüdischen Schule erinnert seit 1988 ein schlichtes Denkmal mit einer Gedenkplatte an die ehemalige jüdische Gemeinde Fliedens; die folgende Inschrift ist zu lesen:
Zur Erinnerung an die Israelitische Kultusgemeinde, deren erste Synagoge und später die Schule erstmals hier standen, wurde dieser Stein gesetzt. Die NS-Gewaltherrschaft 1933 – 1945 hat das Ende dieser Gemeinde herbeigeführt.
Die Gemeinde Flieden wahrt das Andenken an die jüdischen Mitbürger, die Jahrhunderte hindurch ein fester Bestandteil der Bevölkerung waren.
Das ehemalige jüdische Schulhaus wurde Anfang der 1970er Jahre abgebrochen.
Ehem. jüdische Schule (Aufn. Th. Altaras, vor 1970)
2015 wurden in der Reinhardstraße und Hinzergasse zum Gedenken an die ehemals in Flieden beheimateten jüdischen Familien, die Opfer des NS-Regimes geworden sind, vier sog. „Stolpersteine“ verlegt; damit wurde ein Beschluss der Gemeindevertretung umgesetzt, der bereits fünf Jahre zuvor gefasst worden war.
Aufn. aus: spd-flieden.de
Weitere Informationen:
Raimund Henkel, Zur Geschichte der Juden in Flieden, in: "Buchenblätter - Beilage der Fuldaer Zeitung für Heimatfreunde", ab No. 25/Okt. 1970 (mehrere Folgen)
Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang - Untergang - Neubeginn, Societäts-Verlag, FrankfurtM. 1971, Bd. 1, S. 178 f.
Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Bilder - Dokumente, Eduard Roether Verlag, Darmstadt 1973, S. 52
Thea Altaras, Synagogen in Hessen, Königstein 1988, S. 33
Raimund Henkel, Heimat als Hobby - Die ehemalige jüdische Gemeinde in Flieden, in: "Jahrbuch des Landkreises Fulda 1988", S. 199 f.
Thea Altaras, Das jüdische rituelle Tauchbad, in: "Die Blauen Bücher", 1994, S. 39/40
Bert Wallace, ‘Der Sturm zieht auf’ - Die Lebenserinnerung eines deutschen Juden bis zu seiner Flucht 1939, Ahriman-Verlag, Freiburg 1998 (Anm.: B.Wallace stammte aus Flieden)
Flieden, in: alemannia-judaica.de (mit diversen, zumeist personenbezogenen Dokumenten zur jüdischen Ortshistorie und Aufnahmen vom jüdischen Friedhof)
Christian Schad, Jüdisches Leben in Flieden von 1920 bis 1940, Wiss. Hausarbeit für das Lehramt an Haupt- u. Realschulen, o.O. 2005
Thea Altaras, Synagogen und jüdische Rituelle Tauchbäder in Hessen – Was geschah seit 1945?, Königstein im Taunus, 2007, S. 116 - 118
Raimund Henkel/u.a., Ausstellung: 380 Jahre jüdisches Leben in Flieden 1562 – 1942, Geschichtsverein Flieden, 2008
Michael Imhof (Hrg.), Juden in Deutschland und 1000 Jahre Judentum in Fulda, hrg. von Zukunft Bildung Region Fulda e.V., Michael Imhof Verlag, Petersberg 2011, S. 298 - 313
Raimund Henkel (Red.), Der Gehsteig als Ort der Erinnerung, in: „Fuldaer Zeitung“ vom 28.7.2015
Förderverein Ev. Kirche/ehem. Synagoge Flieden e.V. (Hrg.), Ein Haus – zwei Geschichten, online abrufbar unter: kirchesynagogeflieden.jimdofree.com
Über die beabsichtigte Neuverglasung der Kirchenfenster durch einen amerikanisch-jüdischen Künstler wurde am 22.12.2015 im ZdF-heute-journal berichtet
Christian Schad, Jüdisches Leben in Flieden 1920 – 1942, hrg. von der Kommune Flieden, 2016