Flensburg (Schleswig-Holstein)

 Angeln (Halbinsel) – Wikipedia Mit derzeit ca. 93.000 Einwohnern ist das nahe der deutsch-dänischen Grenze liegende Flensburg - nach den Städten Kiel und Lübeck - die drittgrößte Stadt des Bundeslandes Schleswig-Holstein (Kartenskizze MEs, 2008, aus: wikipedia.org, CC BY 2.5).

Flensburger Förde (hist. Karte von 1910, aus: wikiwand.com)

2011 10 05 Hafen Flensburg 1833 DSCI0051.JPG

Hafen von Flensburg, um 1835 (Abb. K.-H. Hochhaus, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0)

 

Bis ins beginnende 19.Jahrhundert hinein gab es in Flensburg keine Ansässigkeit von Juden. Aus einer Ratsmitteilung des Jahres 1808:„ ..., daß Flensburg zu denjenigen Städten der Herzogtümer gehört, woselbst noch niemalen Genossen der jüdischen Nation zum beständigen Aufenthalt oder zu häuslicher Niederlassung die Erlaubnis höheren Ortes bewirkt haben, so oft auch einige ... hierum nachgesucht haben.

Erst mit Unterstützung des dänischen Königs Friedrich VI. konnten sich 1809 zwei jüdische Familien in Flensburg niederlassen. Es dauerte noch mehrere Jahrzehnte, ehe weitere jüdische Familien zuzogen. Mit der Verordnung zur bürgerlichen Gleichstellung der jüdischen Bevölkerung von 1854 stieg die Zahl der Juden in Flensburg an. Noch im gleichen Jahre gründeten die etwa 15 Flensburger Juden ihre eigene religiöse Gemeinde.

Wegen interner Streitigkeiten kam es hier nicht zur Anlage eines eigenen jüdischen Friedhofes und einer Synagoge; vielmehr fanden die Gottesdienste an wechselnden Orten statt; die eigenständige Gemeinde löste sich auf. Das letzte jüdische Bethaus in der Süderfischerstraße 3 wurde zum Ersten Weltkrieg genutzt; danach fanden gottesdienstliche Zusammenkünfte u.a. im „Hotel Nordischer Hof“ statt. Ab 1903 gab es in Flensburg eine kleine jüdische Religionsschule, die aber bereits 1912 wieder aufgegeben wurde.

Juden in Flensburg:

         --- um 1810 ......................    2 jüdische Familien,

    --- um 1855 .................. ca.   15     “       “    ,

    --- 1895 .........................  103 Juden,

    --- um 1928 .................. ca.   60   “  ,

    --- 1933 ..................... ca.   40   “  ,

    --- 1942 .........................   keine.

Angaben aus: Bettina Goldberg/Bernd Philipsen, Juden in Flensburg, Flensburg 2006

 

Ansichtskarte / Postkarte Flensburg in Schleswig Holstein, | akpool.de Große Straße in Flensburg, Postkarte um 1906 (Abb. aus: akpool.de)

Vorzugsweise arbeiten die Juden der Fördestadt im Handel, hauptsächlich dem Textil- und Manufakturwarenhandel. Während der Kaiserzeit gelang es zahlreichen jüdischen Händlern in die Mittelschicht aufzusteigen. Ende der 1920er Jahre soll es noch ca. 60 jüdische Einwohner in der Stadt gegeben haben. Vermutlich kam es - kurz vor der NS-Machtübernahme - nochmals zur Gründung einer eigenen jüdischen Gemeinde in Flensburg. Allerdings war jüdisches Leben in Flensburg nicht besonders ausgeprägt; religiös-orthodoxe Familien waren eher die Ausnahme. Auch lebten jüdische Familien oft nebeneinander, ohne voneinander zu wissen.

In den „Flensburger Nachrichten” erschien am 31.3.1933 eine Anzeige, die auf den Boykott aufmerksam machte und alle zu meidenden jüdischen Geschäfte in Flensburg aufzählte; dabei waren einige genannte Geschäfte nachweislich falsch deklariert.

                 In der Anzeige hieß es:

Wir warnen alle nationalen Kreise Flensburgs in den aufgeführten Geschäften zu kaufen bzw. mit diesen Geschäften in Verbindung zu treten. wer es trotzdem tut, ist geächtet und ein Lump und Verräter am deutschen Volk. Zu meiden sind:

Fa. Wohlwerth Holm 41, Fa Rath & Co. Holm 30 - 34, Fa. Lindor Holm 39, Fa.Tack & Co. Holm 23, Fa. Nord-Radio Holm 9, Schuhhaus Bata Holm 22 - 26, Fa. Katz Holm 66, “Flensburger Hof” Gebr. Grabbe, Central Schuhhaus Große Str. 32, Fa. Löwenthal Norderstr. 27 - 29, Fa. Fertig Norderstr. 145 und die Versicherungskonzerne Agrippina, Allianz, Gerling-Konzern, Germania, Nordstern, Viktoria, Dresdener, Frankfurter und Gothaer ...

Am 1.April 1933 marschierten SA- und SS-Angehörige vor Geschäften jüdischer Besitzer auf. Kurz danach entschlossen sich die ersten jüdischen Familien zur Emigration. Bis zur „Reichskristallnacht“ hatten die allermeisten jüdischen Bewohner die Stadt bereits verlassen.

                Aufnahme anläßlich des Boykotts jüdischer Geschäfte am 1. April 1933 in Flensburg Flensburg am 1.April 1933 (hist. Aufn., Stadtarchiv)

Der Novemberpogrom richtete sich in Flensburg - im Anschluss an die „Revolutionsfeierlichkeiten zu Ehren des 9.November 1923“ - vor allem gegen den landwirtschaftlichen Hof „Jägerlust“, auf dem ab 1934 junge auswanderungswillige Juden unter der Ägide des „Hachschara“ für ihre neue Tätigkeit als Landwirte vorbereitet wurden. Er war am westlichen Stadtrand, am Exerzierplatz Schäferhaus gelegen, und gehörte der Familie Wolf - einer wohlhabenden Kaufmannsfamilie aus Berlin, die Anfang des 20.Jahrhunderts den "Gutshof Jägerlust" übernommen hatte. Das Gut wurde überfallen, die Wohnräume verwüstet und alle dort anwesenden Juden verhaftet. Den Betreiber des landwirtschaftlichen Gutes misshandelte man und jagte ihn über die dänische Grenze. Organisiert und ausgeführt wurden die gewalttätigen Maßnahmen von SS und Gestapo, aber auch von der Flensburger Polizei.Die Ausbildung auf dem Hof musste eingestellt werden; zahlreiche „Schüler“ gingen in die Niederlande, um von hier aus nach Palästina zu emigrieren. SA-Angehörigen blieben „Aktionen“ in Flensburg vorbehalten. In der Lokalpresse war über das Geschehen in Flensburg nur eine kleine Notiz zu lesen:

In der Frühe des heutigen Donnerstag wurden die beiden großen Schaufensterscheiben der jüdischen “Kleinpreis-GmbH” durch Steinwürfe zertrümmert. Man darf in dieser Tat einen Ausdruck allgemeiner Empörung erblicken, die das deutsche Volk angesichts der jüngsten jüdischen Mordtat erfaßt und auch an vielen anderen Stellen des Reiches zu ähnlichen Handlungen geführt hat.

Ein Teil der Flensburger SA und SS war nach Friedrichstadt beordert worden, um zusammen mit anderen die dortige Synagoge zu zerstören.

Namentlich sind 44 gebürtige bzw. längere Zeit in Flensburg wohnhaft gewesene jüdische Bürger Opfer der Shoa geworden.

 

Durch die Zuwanderung aus Gebieten der ehemaligen Sowjetunion hat jüdisches Leben inzwischen wieder Einzug in Flensburg gehalten. Ende 2004 haben sich die Jüdische Gemeinde Lübeck und die Gemeindezentren in Flensburg und Kiel im Landesverband der „Jüdischen Gemeinschaft Schleswig-Holstein“ zusammengeschlossen. Derzeit gehören der Flensburger Gemeinde etwa 80 Mitglieder an (Stand 2020).

Der jüdische Friedhof in Flensburg (Schleswig-Holstein) Auf dem neu angelegten jüdischen Gräberfeld auf dem Friedhof „Friedenshügel“ wurde 2013 eine granitene schwarze Stele aufgestellt, die namentlich an die 42 bekannten jüdischen NS-Opfer erinnert; der Entwurf dafür stammt von fünf Kunststudentinnen der Flensburger Universität (Aufn. Dieter Peters, 2015, aus: alemannia-judaica.de).                          

Im Oktober 2014 konnte die jüdische Gemeinde ihre zweite Thorarolle ins Gemeindezentrum an der Toosbüystraße bringen. Diese ursprünglich in Böhmen vor ca. 180 Jahren gefertigte und danach im fränkischen Fürth benutzte Schriftrolle überstand die NS-Zeit, weil Gemeindemitglieder diese vergraben hatten. Die durch Feuchtigkeit stark beschädigte Thorarolle - nach 1945 wieder ans Tageslicht gebracht - wurde in den USA aufwändig restauriert und nun der Flensburger Gemeinde zur Verfügung gestellt. Seit 2019 besitzt die Gemeinde ein neues Gemeindezentrum in der Friesischen Straße.

2004 wurden erstmals sog. „Stolpersteine“ in der Fördestadt verlegt; inzwischen sind es ca. 45 messingfarbene Gedenkquader, die zumeist in den Gehwegen der Innenstadt, aber auch in der Nordstadt und am Ostufer liegen (Stand 2023); sie erinnern z.g.T. an jüdische Opfer der NS-Herrschaft.

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verlegt in der Harrisleerstraße und Norderstraße (alle Aufn. EvilMaren, 2023/2024, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 4.0)


 

Für die 44 Flensburger jüdischen Glaubens, die Opfer der NS-Gewaltherrschaft geworden sind, möchte die hiesige jüdische Gemeinde ein Mahnmal in der Stadt errichten lassen. Die ersten Entwürfe dafür haben Studierende der Universität Flensburg jüngst vorgestellt (2024).

 

 

Weitere Informationen:

W. Raube, Flensburg in der Zeit des Nationalsozialismus, in: "Schriften der Gesellschaft für Flensburger Stadtgeschichte e.V.", Heft 32, Flensburg 1983, S. 83 f.

Bernd Philipsen, Erst abgewiesen, dann geduldet, zuletzt entrechtet, in: Sonderbeilage im "Flensburger Tageblatt" zum 700jährigen Stadtjubiläum 1984

Klaus Bästlein, Die Judenpogrome am 9./10.November 1938 in Schleswig-Holstein, in: Grenzfriedensbund (Hrg.), Jüdisches Leben u. die Novemberpogrome 1938 in Schleswig-Holstein, Flensburg 1988, S. 9 - 54

Bernd Philipsen, Schimon Monin - jüdisches Emigrantenschicksal, in: Grenzfriedensbund (Hrg.), Jüdisches Leben und die Novemberpogrome 1938 in Schleswig-Holstein, Flensburg 1988, S. 75 - 87

Heimatgeschichtlicher Wegweiser zu Stätten des Widerstandes und der Verfolgung 1933 - 1945, Schleswig-Holstein I (Nördlicher Landesteil), VAS-Verlag, Frankfurt/M. 1993, S. 101 ff.

Gerhard Paul/u.a., Verführt. Verfolgt. Verschleppt. Aspekte nationalsozialistischer Herrschaft in Flensburg, in: "Flensburger Beiträge zur Zeitgeschichte", Band 1, Flensburg 1996 (2. Aufl., 2003)

Gerhard Paul/u.a., Ausgegrenzt. Ausgebürgert. Ausgesondert - Opfer politischer und rassischer Verfolgung in Flensburg 1933 - 1945, in: "Flensburger Beiträge zur Zeitgeschichte", Band 3, Flensburg 1998

Bernd Philipsen, ’Atempause auf der Flucht in ein Leben mit Zukunft’: der Kibbuz auf Gutshof 'Jägerlust' bei Flensburg (1934 - 1938), in: G. Paul/M. Gillis-Carlebach (Hrsg.), Menora und Hakenkreuz: zur Geschichte der Juden in und aus Schleswig-Holstein, Lübeck und Altona (1918 - 1998), Verlag Wachholtz, Neumünster 1998, S. 411 - 424

Was aus uns wird, bleibt ein Rätsel” Emigration, Vertreibung u. Flucht der Juden aus Schleswig-Holstein 1933 - 1941. Ausstellung im Städtischen Museum, Flensburg 2001

Nordelbische Kirche (Hrg.) Kirche - Christen - Juden in Nordelbien 1933 - 1945. Wanderausstellung

Bettina Goldberg/Bernd Philipsen, Juden in Flensburg, hrg. von der Gesellschaft für Flensburger Stadtgeschichte, Flensburg 2006

Bettina Goldberg, Abseits der Metropolen. Die jüdische Minderheit in Schleswig-Holstein, Wachholtz-Verlag, Neumünster 2011, S. 102 f.

Auflistung der Stolpersteine in Flensburg, online abrufbar unter: wikipedia.org/wiki/Liste_der_Stolpersteine_in_Flensburg

Irina Leytus (Red.), Flensburg: Gemeinde mit viel Herzenswärme, in: haGalil.com - Jüdisches Leben online vom 10.6.2012

Bernd Philipsen (Red.), Dunkler Tag der Stadtgeschichte: Wie in Flensburg der Weg in den Holocaust begann, in: „Flensburger Tageblatt“ vom 2.4.2013

Bernd Philipsen (Red.), Gedenkstein für die Opfer der Shoa, in: „Flensburger Tageblatt“ vom 9.11.2013

Bernd Philipsen (Red.), Eine Thora-Rolle mit Geschichte, in: „Flensburger Tageblatt“ vom 14.10.2014

Bernd Philipsen (Bearb.), „Dat Judennest hebbt wi utrökert“ - Vom gewaltsamen Ende des Auswanderer-Lehrguts Jägerlust bei Flensburg, in: Rainer Hering (Hrg.), Die „Reichskristallnacht" in Schleswig-Holstein, Veröffentlichungen des Landesarchivs Schleswig-Holstein, Band 109/2016, S. 231- 254

Lisa Knittel (Red.), Die vergessenen Juden vom Flensburger Kibbuz, in: "NDR" vom 18.11.2018

Bernd Philipsen (Red.), Opfer des Nazi-Regimes: Flensburgerin erhält Stolperstein in Berlin, in: „Flensburger Tageblatt“ vom 14.4.2019

Bernd Philipsen (Red.), Jüdische Gemeinde Flensburg. Die Thorarollen sind heimgekehrt, in: „Flensburger Tageblatt“ vom 8.9.2019

Bernd Philipsen (Red.), Historisches Möbelstück. Während der Pogromnacht in Flensburg gestohlen – Ein Lehnstuhl mit Geschichte, in: „Flensburger Tageblatt“ vom 28.10.2019

Bernd Philipsen (Red.), Drei weitere Stolpersteine sollen an Opfer des NS-Regimes erinnern, in: „Flensburger Tageblatt“ vom  21.11.2019

Manfred Jakubowski-Tiessen, Die ersten jüdischen Gemeinden in den Herzogtümern Schleswig und Holstein im 17.Jahrhundert, Matthiesen Verlag Husum 2020

Bernd Philipsen (Red.), Pogromnacht 1938. Der Überfall auf die Flensburger Familie Lazarus, in: „Flensburger Tageblatt“ vom 5.11.2020

Bernd Philipsen (Red.), Das Schicksal von zwei jungen Jüdinnen aus Flensburg, in: „Flensburger Tageblatt“ vom 25.1.2021

Bernd Philipsen, Stolpersteine in Flensburg: ein Wegbegleiter zu Mahnmalen für NS-Opfer, hrg. von der Jüdischen Gemeinde Flensburg 2021 (2. erw. Auflage, 2023)

N.N. (Red.), Die Geschichten hinter den Stolpersteinen – aufgeschrieben von Bernd Philipsen, in: „Der Nordschleswiger“ vom 22.11.2021

Volker Heesch (Red.), Erweiterte Neuauflage des Standardwerks „Juden in Flensburg“, in: „Der Nordschleswiger“ vom 30.3.2022

Bettina Goldberg (unter Mitarbeit von Bernd Philipsen), Juden in Flensburg, hrg. von der Gesellschaft für Flensburger Stadtgeschichte, Band 62, Flensburg 2022 (erw. Neuauflage der Publikation von 2006)

Bernd Philipsen (Red.), Vor 90 Jahren: Boykott jüdischer Geschäfte in Flensburg, in: „Flensburger Tageblatt“ vom 31.3.2023

Ove Jensen (Red.), 14 neue Stolpersteine für Holocaust-Opfer aus Flensburg, in: „SHZ - Schleswig-Holsteinische Zeitung“ vom 18.4.2023

Bernd Philipsen (Red.), Flensburg soll ein Holocaust-Mahnmal bekommen, in: „SHZ – Schleswig-Holsteinische Zeitung“ vom 20.11.2024