Geilenkirchen (Nordrhein-Westfalen)

Bildergebnis für geilenkirchen  Geilenkirchen mit derzeit ca. 28.000 Einwohnern ist eine Mittelstadt im Kreis Heinsberg – ca. 25 Kilometer nördlich von Aachen gelegen (Ausschnitt aus hist. Karte von 1905, aus: wikipedia.org, gemeinfrei und Kartenskizze 'Kreis Heinsberg', TUBS 2008, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 3.0).

 

Seit Mitte/Ende des 17.Jahrhunderts waren Juden auf dem Territorium der heutigen Stadt Geilenkirchen ansässig; bis dahin galten Bestimmungen der vereinigten Herzogtümer Jülich-Cleve-Berg), die jüdische Ansässigkeit einschränkten bzw. mit Verboten belegten („sollen in unsern Fürstentumben und Landen ... keine Juden, so nit nach christlicher Ordnung getaufft, gestattet, ausgehalten oder vergleitet werden, bei Vermeidung von straff und peen).

Erste Belege über fünf jüdische Familien in Geilenkirchen stammen aus den Jahren 1740 und 1758. In Hünshoven, das heute zu Geilenkirchen gehört, lebten bereits von 1706 bis 1716 zwei jüdische Familien. Die Synagogengemeinde Geilenkirchen-Heinsberg-Erkelenz hatte ihren Sitz in Geilenkirchen; ihr angeschlossen waren auch Gangelt, Waldenrath und Schwanenberg.

Die Juden Geilenkirchens waren zumeist strenggläubig. Anders als in den umgebenden Landgemeinden, deren Synagogen meist in Hinterhäusern untergebracht und damit kaum sichtbar für die übrige Bevölkerung waren, besaß die jüdische Gemeinde in Geilenkirchen eine recht repräsentative Synagoge - ein mit neoromanischen Stilelementen versehenen Backsteinbau. Dieser war im Jahre 1869 auf einem von der Gemeinde neu erworbenen Grundstück eingeweiht worden und lag - weithin sichtbar - am Wurmufer in der damaligen Neustraße, der heutigen Herzog-Wilhelm-Straße. Dessen Eingangsportal befand sich in einem Anbau zwischen dem Synagogengebäude und dem Gebäude, in dem die Schule untergebracht war.

Synagoge in Geilenkirchen - hist. Aufn. (Stadtarchiv)  und  Synagogenraum (Meir Baum, aus dem Gedächtnis gezeichnet, 2014)

An die Synagoge angebaut war die jüdische Religionsschule; ihren Elementarunterricht erhielten die jüdischen Kinder in evangelischen Schule in Hünshoven.

Vor der Stadt verfügte jüdische Gemeinde ab den 1820er Jahren über eine eigene Begräbnisstätte am Heinsberger Weg, die zu den größten und ältesten jüdischen Friedhöfen der Umgebung gehörte. Diese war bereits in einem Dekret des Landesherrn Herzog Karl Theodor vom 7. Mai 1749 an den Vogt Krey in Geilenkirchen erwähnt worden als "den von altersher vor dahiesigem Städtlein habenden Begräbnisplatz".

Zum Synagogenbezirk Geilenkirchen gehörten auch zeitweilig die Gemeinden Gangelt, Heinsberg und Erkelenz.

[vgl.  Erkelenz (Nordrhein-Westfalen)]

Juden in Geilenkirchen:

    --- um 1710 ........................   2 jüdische Familien,

    --- um 1740 ........................   5    “        “    ,

    --- 1799 ...........................  43 Juden,*

    --- 1806 ...........................  56   “  ,*

         --- 1857 ...........................  41   “  ,

    --- 1872 ...........................  91   “  ,

    --- 1895 ........................... 101   “  ,

    --- 1901 ........................... 168   “  ,*

             ........................... 113   “  ,

    --- 1905 ........................... 162   “  ,*

             ........................... 115   “  ,

    --- 1911 ........................... 129   “  ,

    --- 1933 ........................... 242   “  ,*

    --- 1942 ........................... keine.        * incl. Hünshoven und Bauchem

Angaben aus: Elfi Pracht, Jüdisches Kulturerbe in Nordrhein-Westfalen, Reg.bez. Köln, S. 432

Blick auf Geilenkirchen, um 1860 (Abb. aus: wikipedia.org, PD-alt-100)

 

Die Juden Geilenkirchens hatten sich im Laufe des 19.Jahrhunderts weitgehend dem kleinstädtischen Leben angepasst und galten als angesehene Bürger; sie waren Mitglieder in örtlichen Vereinen, man feierte gemeinsame Feste und hielt gute Nachbarschaft; geheiratet wurde zwischen den Religionsgruppen aber kaum. Um 1900 gehörten die beiden Stadtteile Hünshoven und Bauchem zu den Siedlungsschwerpunkten der jüdischen Bevölkerung der Stadt.

Ansichtskarte Geilenkirchen-Hünshoven, Partie auf dem Marktplatz Zentrum von Hünshoven (hist. Postkarte)

Mehrheitlich verdiente die Geilenkirchener Judenschaft um 1920/1930 ihren Lebensunterhalt im Viehhandel und als Metzger. Einige Familien besaßen Textil- bzw. Textilfachgeschäfte; eine Familie führte seit mehreren Generationen einen Maler- und Anstreicherbetrieb.

Wie fast überall in Deutschland wurden auch in Geilenkirchen seit dem 1.April 1933 jüdische Geschäfte boykottiert.

In der Nacht vom 9./10.November 1938 drangen unter Führung des NSDAP-Kreisleiters Konrad Volm einige SA-Angehörige aus Köln in das Synagogengebäude ein, zerschlugen die Einrichtung und setzen dann das Gebäude in Brand, das vollständig zerstört wurde. Während die Front des Synagogengebäudes sofort niedergerissen wurde, brach man die Ruine Tage später dann völlig ab. Ende Januar 1939 kam das Grundstück in kommunalen Besitz.

Am Morgen des 10.November 1938 wurden die jüdischen Bewohner aus ihren Häusern und in Richtung niederländische Grenze verbracht; als die niederländischen Behörden ihre Einreise verweigerten, kehrten die meisten wieder nach Geilenkirchen zurück. Doch nach kurzer Zeit wurden sie erneut aus der Kleinstadt vertrieben; wer nicht bei Verwandten oder anderswo Unterschlupf finden konnte, der wurde nach Aachen bzw. nach Düren gebracht. Die Unterbringung erfolgte in Notunterkünften oder in sog. "Judenhäusern"; die meisten waren zu Zwangsarbeiten verpflichtet. Mit den Deportationstransporten 1941/1942 erfolgte dann ihre „Umsiedlung in den Osten“.

58 in Geilenkirchen wohnhaft gewesene und weitere 42 aus dem Umland stammende Juden sind dem Holocaust zum Opfer gefallen. Das Schicksal von 39 weiteren Bürgern mosaischen Glaubens aus Geilenkirchen ist ungeklärt.

Die Vorgänge während der Pogromnacht in Geilenkirchen wurden 1949 vor dem Schwurgericht des Landgerichts Aachen aufgearbeitet. In dem Prozess wurde der Hauptangeklagte Konrad Volm zu einer 15monatigen Haftstrafe verurteilt.

 

Im Bereich der Herzog-Wilhelm-Straße befindet sich heute ein vom Heimatforscher Hermann Wassen und seiner Ehefrau gestifteter Gedenkstein, der an die ehemalige Synagoge erinnert; die Inschrift auf dem Steine lautet:

An dieser Stelle stand bis 1938 die Synagoge der Jüdischen Gemeinde.

Zum Gedenken an die jüdischen Mitbürger.

Das Synagogengelände war 1939 an die Kommune übergegangen; sie erwarb es wenige Jahre nach dem Kriege auch rechtmäßig.

Anlässlich des 50.Jahrestages des Novemberpogroms wurde im Bürgerhaus in der Gerbergasse eine Gedenktafel enthüllt; ihre Inschrift trägt die Sätze:

Psalm 74, Vers 7

Sie legten an Dein Heiligtum Feuer,

entweihten die Wohnung Deines Namens bis auf den Grund.”

Zum Gedenken an die jüdischen Mitbürger, die während der NS-Zeit Opfer der Gewaltherrschaft wurden.

Den Toten zur Ehre - den Lebenden zur Mahnung.

 

Der jüdische Friedhof an der Heinsberger Straße/Ecke An der Linde - der größte jüdische Friedhof im Kreis Heinberg, seit 1983 in die Denkmalliste der Stadt Geilenkirchen eingetragen - befindet sich trotz mehrfacher Schändungen in einem gepflegten Zustand; auf dem Areal stehen ca. 120 Grabsteine.

  13 Jüdischer Friedhof, Heinsberger Straße, (Geilenkirchen).jpg

Jüdischer Friedhof (Aufn. Klaus Littmann, 2011, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0) - Denkmal (Aufn. K. u. B. Limburg, 2009, aus: wikimedia.org)

Im Dez. 2019 hatten „Unbekannte" den jüdischen Friedhof geschändet, indem sie mehr als 40 Grabsteine umgeworfen und mit Farbe beschmiert hatten. Ermittelt wurden dann zwei dem rechten Spektrum zugeordnete erwachsene Täter.

    Foto des StolpersteinsDie örtliche Gesamtschule trägt den Namen von Anita Lichtenstein; sie war ein jüdisches Mädchen aus Geilenkirchen (geb. 1933), das vor seiner Deportation ihr liebstes Spielzeug, eine Puppe, ihrer Freundin schenkte. Seit 1998 erinnert auf dem jüdischen Friedhof eine Gedenkskulptur an Anita Lichtenstein, ihre Familie und alle ehemaligen jüdischen Bewohner Geilenkirchens. Zusammen mit einer Gedenkschrift haben Schüler/innen damit der Namensgeberin ihrer Schule ein Denkmal gesetzt. Die „Initiative Erinnerung”, der neben einzelnen Geilenkirchenern u.a. die Anita-Lichtenstein-Gesamtschule, das Berufskolleg, die Realschule, das St.-Ursula-Gymnasium und die beiden christlichen Kirchengemeinden angehören, will die Schicksale der Geilenkirchener Juden aufarbeiten. 2022 wurde in Geilenkirchen vor dem jüdischen Friedhof der Anita-Lichtenstein-Platz eingeweiht; ein hier aufgestellter Gedenkstein erinnert an die deportierten und ermordeten jüdischen Kinder aus Geilenkirchen.

2013 fanden im Gehwegpflaster der Stadt 27 sog. „Stolpersteine“ ihren Platz; 2014 kamen noch 20 Steine hinzu; in den Jahren danach folgten noch weitere. Insgesamt findet man derzeit an 22 Standorten insgesamt ca. 90 messingfarbene Gedenkquader, die an Opfer der NS-Gewaltherrschaft erinnern (Stand 2023).

                Bildergebnis für Geilenkirchen stolpersteine verlegt in der Konrad-Adenauer-Straße (Aufn. Georg Schmitz)

Stolpersteinputzaktion 2022 (c) Bischöfliches Gymnasium St. Ursula (Aufn. Bischöfliches Gymnasium)

 

Am Bischöflichen Gymnasium St.Ursula in Geilenkirchen haben Schüler die in der Nazi-Zeit zerstörte Synagoge der Stadt virtuell rekonstruiert; eine Ausstellung über die einstige jüdische Gemeinde ergänzte das Projekt (2023).

Außenansicht (c) Architectura Virtualis / Bischöfliches Gymnasium St. Ursula Geilenkirchenvirtuelle Rekonstruktion (Abb. Bischöfliches Gymnasium St. Ursula)

 

 

 

Weitere Informationen:

Wilhelm Franken (Bearb.), Vom gelben Ring zum gelben Stern. Die Geschichte der Juden im Heinsberger Land, in: „Heimatkalender des Kreises Heinsberg 1980“, S. 103 - 118

Friedel Krings, Die Juden im Erkelenzer Land - Ihre wirtschaftliche und gesellschaftliche Stellung, in: "Heimatkalender des Kreises Heinsberg 1981"

Hermann Wassen, Der siebenarmige Leuchter - Die Geschichte der Geilenkirchener Juden, in: "Heimatkalender des Kreises Heinsberg 1985", S. 163 - 178

Elfi Pracht, Jüdisches Kulturerbe in Nordrhein-Westfalen, Teil I: Regierungsbezirk Köln, J.P.Bachem Verlag, Köln 1997, S. 432 ff.

Sammlung Hermann Wassen, Die Bestände des Stadtarchivs Geilenkirchen, Band 1/2, Geilenkirchen 1997

Schüler/innen der Anita-Lichtenstein-Gesamtschule Geilenkirchen, Anita Lichtenstein - ein Beispiel für jüdisches Leben in Geilenkirchen (Aufsatz), 1998

Michael Brocke (Hrg.), Feuer an dein Heiligtum gelegt - Zerstörte Synagogen 1938 in Nordrhein-Westfalen, Ludwig Steinheim-Institut, Kamp Verlag, Bochum 1999, S. 179/180

Geilenkirchen. Orte der Erinnerung für jüdische Mitbürger und andere Verfolgte in der NS-Zeit, online abrufbar unter: geilenkirchen-erinnerung.de

Udo Stüßer (Red.), 25 Stolpersteine gegen das Vergessen, in: „Aachener Zeitung“ vom 14.12.2012

Laura Beemelmanns (Red.), Als Dankeschön zehn Bäume in Jerusalem gepflanzt, in: „Geilenkirchener Zeitung“ vom 14.6.2013

Karl-Heinz Nieren, Jewish Citizens of Geilenkirchen during Nazi Era – Jüdische Bürger in Geilenkirchen während der NS-Zeit, Geilenkirchn 2013

St. (Red.), Geilenkirchen. Jüdisches Leben: Auf Spurensuche in der Stadt, in: „Aachener Nachrichten“ vom 22.8.2014

Karl-Heinz Nieren, Juden in Geilenkirchen – Auf Spurensuche in der Stadt. Ein Gang durch Geilenkirchens jüdische Vergangenheit, hrg. von der Initiative Erinnern Geilenkirchen, Geilenkirchen 2014

Georg Schmitz (Red.), Zehn neue Stolpersteine – Kultur der Erinnerung, in: „Aachener Zeitung“ vom 8.5.2015 

Berufskolleg Wirtschaft - Schulwiki (Red.), BKW übernimmt Patenschaft für neue Stolpersteine in Geilenkirchen, in: bkwirtschaft.de vom 14.5.2015

Anita-Lichtenstein-Gesamtschule (Hrg.), Anita Lichtenstein – Ein Name, der verpflichtet, online abrufbar unter: alg-gk.de/index.php/wir-ueber-uns/anita-lichtenstein/97-anita-lichtenstein-ein-name-der-verpflichtet

Bischöfliches Gymnasium Sankt Ursula Geilenkirchen (Hrg.), Erinnern und Gedenken, online abrufbar unter: st-ursula-gk.de/die-schule/konzepte/erinnern-und-gedenken/

Der jüdische Friedhof in Geilenkirchen – epigraphische Datenbank, in: steinheim-Institut.de

Stadt Geilenkirchen (Hrg.), Initiative „Erinnern“ - Ein Aktionsbündnis gegen das Vergessen, online abrufbar unter: geilenkirchen.de/geilenkirchen/initiative-erinnern/

Michèle-Cathrin Zeidler (Red.), Gegen das Vergessen – Schüler bringen Stolpersteine wieder zum Glänzen, in: „Aachener Zeitung“ vom 8.11.2019

dpa/lnw (Red.), Jüdischer Friedhof geschändet, in: „Süddeutsche Zeitung“ vom 30.12.2019

N.N. (Red.), Auf den Spuren jüdischen Lebens – Rheinlandtaler für Karl-Heinz Nieren, in: „Aachener Nachrichten“ vom 5.4.2022

N.N. (Red.), Gedenken an Geilenkirchener Bürger. Ein Platz, benannt nach Christel und Hermann Wassen, in: „Aachener Zeitung“ vom 21.6.2022

Anita-Lichtenstein-Gesamtschule (Red.), Anita Lichtenstein – Ein Name, der verpflichtet, online abrufbar unter: alg-gk.de/index.php/wir-ueber-uns/anita-lichtenstein/

Udo Stüßer (Red.), Anita-Lichtenstein-Platz. Deutliches Zeichen gegen Antisemitismus, in: „Aachener Nachrichten“ vom 25.10.2022

N.N. (Red.), Digitale Rekonstruktion in Geilenkirchen – Synagogenprojekt hängt noch an der Finanzierung, in: „Aachener Zeitung“ vom 8.3.2023

Benjamin Wirtz (Red.), Gegen das Vergessen: Wie die kleine Dina den Nazis entkommen konnte, in: „Aachener Zeitung“ vom 18.7.2023

N.N. (Red.), Wie Schüler die Geilenkirchener Synagoge virtuell rekonstruierten, in: „Aachener Zeitung“ vom 6.11.2023

St, Ursula – Bischöfliches Gymnasium Geilenkirchen (Bearb.), Die Geilenkirchener Synagoge – Eine virtuelle Rekonstruktion: Die Ergebnisse, online abrufbar unter: st-ursula-gk.de vom 6.12.2023

Helge Fabian Hertz (Bearb.), Zwischen Zerstörung und Erhalt: Der jüdische Friedhof in Gangelt von 1945 bis heute, online abrufbar unter: netolam.hypotheses.org/2099 vom 20.1.2024 (enhält auch Informationen über die Friedhofsschändung in Geilenkirchen)

Udo Stüßer (Red.), Gedenktafeln vor dem jüdischen Friedhof zerkratzt, in: „Aachener Zeitung“ vom 13.5.2024