Genthin (Sachsen-Anhalt)
Genthin ist eine Kleinstadt mit derzeit ca. 13.500 Einwohnern im Landkreis Jerichower Land in Sachsen-Anhalt – nordöstlich von Magdeburg bzw. knapp 30 Kilometer westlich von Brandenburg/Havel gelegen (Ausschnitt aus topografischer Karte 'Altmark', Ulamm 2008, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0 und Kartenskizze 'Landkreis Jerichower Land', aus: ortsdienst.de/sachsen-anhalt/jerichowerland).
Die erstmals 1171 urkundlich erwähnte Ortschaft Genthin war bis ins 16.Jahrhundert ein unbedeutender Flecken; dieser gehörte anfänglich zum Bistum Brandenburg, ab 1294 zum Erzbistum Magdeburg und ab Ende des 17.Jahrhunderts zu Brandenburg-Preußen.
Jüdische Ansiedlung in Genthin ist schon aus dem 14.Jahrhundert belegt; während der Pestjahre sollen die Juden des Ortes aus Genthin vertrieben worden sein. Am Ende des gleichen Jahrhunderts sollen aber schon wieder jüdische Bewohner hier gelebt haben. Erst im ausgehenden 17.Jahrhundert ist erneut eine jüdische Ansiedlung - allerdings nur zeitweise - nachweisbar; denn der Erzbischof von Magdeburg hatte eine Ansässigkeit in seinem Herrschaftsgebiet verboten.
Seit Beginn des 19.Jahrhunderts kann eine dauerhafte Existenz von Juden in der Kleinstadt belegt werden. Ihren Lebensunterhalt verdienten die Genthiner Juden zumeist als Kaufleute.
Entsprechend einem Regierungsbeschluss gehörten die Juden Genthins ab 1859 zur Kreis-Synagogengemeinde Burg, zu der alle im Kreis Jerichow I wohnenden Juden gehörten. 1873 wurde der Gemeindeverband nach Genthin verlegt, da die jüdische Gemeinde in Burg seinerzeit nur noch aus drei Familien bestand. Bereits 1855 hatten die in Genthin lebenden jüdischen Familien eine Synagogengemeinde gebildet, die auch die im Landkreis lebenden Glaubensgenossen umfasste.
Der jüdische Friedhof lag zunächst außerhalb des Ortes, östlich der Karower Straße. Um 1830 erhielten die Juden Genthins einen neuen Begräbnisplatz (in der heutigen Friedhofstraße) zugewiesen.
Ihren ersten Synagogenbau konnte die kleine Gemeinde 1861 einweihen.
Alte Synagoge von Genthin (hist. Aufn., um 1920)
Juden in Genthin:
--- um 1730 ......................... eine jüdische Familie,
--- um 1810 ......................... keine,
--- 1817 ............................ 2 “ “ n,
--- 1840 ............................ 8 Juden,
--- 1881 ............................ 51 “ ,
--- 1910 ............................ 12 “ ,
--- 1924 ............................ 17 “ ,
--- 1933 ............................ 29 “ ,
--- 1939 ............................ 3 “ .
Angaben aus: Genthin, in: The Center of Jewish Art, Hebrew university of Jerusalem
Ende der 1920er Jahre ließ die jüdische Gemeinde, die schon arg zusammengeschmolzen war, eine neue Synagoge, einen roten, kubischen Klinkerbau in der Schenkestraße (heutige Dattelner Straße) errichten; für die architektonische Gestaltung zeichnete Walter Pomplun verantwortlich. Das alte Synagogengebäude wurde 1925 abgerissen.
Doch bereits im Jahre 1936 wurde das nur wenige Jahre genutzte Synagogengebäude aufgegeben und verkauft; nach Umbauten nutzte es der neue Besitzer dann als Wohnhaus.
Synagoge Genthin (hist. Aufn., um 1928) - Synagogengebäude (Computersimulation, Hebrew University of Jerusalem)
Marktplatz um 1900 (aus: wikipedia.org, gemeinfrei)
Wenige Jahre vor der NS-Machtübernahme lebten ca. 30 Juden am Ort. In der heutigen Brandenburger Straße hatte der jüdische Geschäftsmann Hugo Magnus sein Textilgeschäft.
In der Pogromnacht wurden die noch bestehenden jüdischen Geschäfte der Familien Magnus* und Gottfeld demoliert und geplündert. 1939 hielten sich dann nur noch drei Personen mosaischen Glaubens in Genthin auf.
* Der seit 1902 in Genthin ansässige Kaufmann Hugo Magnus stand der jüdischen Gemeinde bis in die 1930er Jahre vor; ihm und seiner Familie gelang die Emigration ins ferne Shanghai, von dort Jahre später in die USA. Vor seiner Ausreise hatte Hugo Magnus noch den Verkauf des Synagogengebäudes abgewickelt.
Insgesamt 13 gebürtige Genthiner Juden wurden Opfer des Holocaust, nachdem sie zuvor von ihrem neuen Aufenthaltsort Berlin aus „in den Osten“ verschleppt worden waren.
Friedhofsgelände (Aufn. Migebert, 2020, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 4.0)
Auf dem Areal des ehemaligen jüdischen Friedhofs - in der NS-Zeit völlig zerstört und anschließend eingeebnet - wurde um 1950 eine kleine Gedenkstätte geschaffen; am Standort der einstigen Trauerhalle wurde ein Gedenkstein aufgestellt (Aufn. Migebert, 2020, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 3.0), der die folgende Inschrift trägt:
1938 zerstörten nationalsozialistische Horden diese Ruhestätte.
1949 wurde sie vom Rat der Stadt Genthin wiederhergestellt.
Schluß mit der Rassenhetze.
An das ehemalige jüdische Gotteshaus erinnert heute nichts mehr; es wurde zu einem Wohnhaus umgebaut.
Versuche, auch in Genthin sog. “Stolpersteine zu verlegen, waren bislang zum Scheitern verurteilt.
In Bittkau - heute Ortsteil von Tangerhütte, wenige Kilometer westlich von Genthin – wurden 2024 vier sog. „Stolpersteine“ für die Familie des jüdischen Landarztes Dr. Ernst Lewy verlegt.
[vgl. Burg (Sachsen-Anhalt)]
Weitere Informationen:
Kurt Ahland, Dokumentation: Juden zwischen Elbe und Havel, Genthin 1988 (Manuskript im Stadtarchiv Genthin)
Zeugnisse jüdischer Kultur - Erinnerungsstätten in Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Berlin, Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thüringen, Tourist Verlag GmbH, Berlin 1992, S. 176/177
M.Brocke/E.Ruthenberg/K.U.Schulenburg, Stein und Name. Die jüdischen Friedhöfe in Ostdeutschland (Neue Bundesländer/DDR und Berlin), in: "Veröffentlichungen aus dem Institut Kirche und Judentum", Hrg. Peter v.d.Osten-Sacken, Band 22, Berlin 1994, S. 360
Geschichte jüdischer Gemeinden in Sachsen-Anhalt - Versuch einer Erinnerung, Hrg. Landesverband Jüdischer Gemeinden in Sachsen-Anhalt, Oemler-Verlag Wernigerode 1997, S. 95 - 98
Holger Brülls, Synagogen in Sachsen-Anhalt. Arbeitsberichte des Landesamtes für Denkmalpflege in Sachsen-Anhalt 3, Verlag für Bauwesen, Berlin 1998, S. 220/221
Gedenkstätten für die Opfer des Nationalsozialismus - Eine Dokumentation II, Hrg. Bundeszentrale für politsche Bildung, Bonn 1999, S. 534 f.
Aliza Cohen-Mushlin/Harmen Thies, Synagogenarchitektur in Deutschland vom Barock zum ‘Neuen Bauen’. Dokumentation zur Ausstellung, Selbstverlag TU Braunschweig, Fachgebiet Baugeschichte, 2002, S. 98/99
Synagoge in Genthin (hist. Aufn.), in: entdeckertour-jl.de
Genthin, in: The Center of Jewish Art, Hebrew university of Jerusalem (drei Abbildungen u. demografische Daten)
Simone Pötschke (Red.), Erinnerungen an jüdisches Leben, in: "Volksstimme" vom 27.1.2018
Simone Pötschke (Red.), Erinnerung. Vertrieben und fast vergessen, in: „Volksstimme“ vom 9.11.2018
Simone Pötschke (Red.), Stolperstein – Ein Stein des Anstoßes, in: "Volksstimme" vom 8.2.2019
Birgit Schulze (Red.), Stolpersteine für jüdischen Arzt im Kreis Stendal: Enkel von Dr. Lewy sind bewegt, in: „Volksstimme“ vom 27.9.2024