Gitschin (Böhmen)
Die böhmische Ortschaft Gitschin - etwa 75 Kilometer nordöstlich von Prag gelegen - ist die heutige tschechische Kleinstadt Jičín mit derzeit ca. 16.500 Einwohnern (historische Karte 'Region um Gitschin, aus: wikipedia.org, gemeinfrei und Kartenskizze 'Tschechien' mit Kreis Jičín farbig markiert, aus: wikipedia.org, CCO).
Bereits im 14.Jahrhundert - unmittelbar nach der Stadtgründung - sollen sich Juden in Gitschin angesiedelt haben; ihre Behausungen waren über den Ort verstreut. Von den Vertreibungen in den 1540er Jahren waren auch die jüdischen Familien in Gitschin betroffen; sie ließen sich in umliegenden Dörfern nieder.
Eine neue Gemeinde scheint sich in der ersten Hälfte des 17.Jahrhunderts gebildet zu haben, als der Graf Albrecht von Wallenstein den Ort zu seinem Verwaltungssitz machte. Die jüdischen Familien lebten seitdem ghettoartig im Nordosten der Altstadt; im 18.Jahrhundert sollen hier ca. 15 Familien ansässig gewesen sein.
Der Bau der im Stile des Klassizismus erstellten Synagoge stammt aus dem Jahre 1784 (oder drei Jahre eher); einen 1840 ausgebrochenen Großbrand hat das Gebäude fast unversehrt überstanden.
Ehem. Synagogengebäude vor und nach der Sanierung (links: Aufn. aus: basevi.cz - rechts: Aufn. aus: mesto-jici.cz, 2005)
Inmitten von Äckern - etwa zwei Kilometer von Gitschin entfernt bei Sedlicky - wurde gegen Mitte des 17.Jahrhunderts der Friedhof der jüdischen Gemeinde angelegt.
Friedhof mit Taharahaus (Aufn. P., 2015, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 4.0)
Juden in Gitschin:
--- um 1650 .......................... 9 jüdische Familien,
--- um 1750/70 ....................... 15 “ “ ,
--- 1793 ............................. 22 “ “ ,
--- um 1850 ...................... ca. 20 “ “ ,
--- 1793 ......................... ca. 120 Juden (in 22 Familien),
--- 1849 ............................. 20 jüdische Familien,
--- 1880 ......................... ca. 360 Juden (ca. 4% d. Bevölk.),
--- 1890 ......................... ca. 270 “ ,
--- 1900 ............................. 216 “ ,
--- 1930 ......................... ca. 120 “ ,* * andere Angabe: 300 Pers.
--- 1939 ......................... ca. 90 “ ,
--- 1943 (Dez.) ...................... keine.
Angaben aus: Auskunft von der Kommunalverwaltung Jičín
"Die Graefl. Trautmannsdorfsche Stadt Giczin", um 1800 (Abb. aus: commons.wikimedia.org, gemeinfrei)
Ihren personellen Zenit mit mehr als 350 Angehörigen erreichte die jüdische Gemeinde Gitschin im ausgehenden 19.Jahrhundert. Bis in die Zeit der deutschen Okkupation wurden gottesdienstliche Zusammenkünfte in der Synagoge abgehalten.
Die jüdischen Bewohner des Ortes wurden im Januar 1943 nach Theresienstadt deportiert, von hier aus führte für die meisten der Weg in die Gaskammern von Auschwitz-Birkenau. Nur 17 aus Jičín Deportierte sollen die Konzentrations-/Vernichtungslager überlebt haben.
Nach Kriegsende hat sich in Jičín keine jüdische Gemeinde wieder gebildet.
Das ehemalige Synagogengebäude überstand die NS-Zeit relativ unbeschadet; in früh-kommunistischer Zeit diente es als Lagerschuppen. Der seit den 1980er Jahren in Kommunalbesitz, ab 2001 im Eigentum der jüdischen Gemeinde Tschechiens befindliche Bau wurde alsbald mit hohen Kostenaufwand restauriert und steht seit 2008 für kulturelle Veranstaltungen zur Verfügung.
Synagogen-Innenraum vor und nach der Restaurierung (Aufn. J.Kracíková, 2001 und A., 2014, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 4.0)
Zur Erinnerung an die jüdischen Deportationsopfer wurde auf dem Bahnhof in Jičín eine Gedenktafel angebracht; sie informiert darüber, dass von hier aus 1943 jüdische Familien nach Theresienstadt abtransportiert wurden.
Der jüdische Friedhof mit seinen bemerkenswerten barocken Grabsteinen besitzt eine zweisprachig abgefasste Gedenktafel, die auch an die Opfer der Nazi-Herrschaft erinnert.
Jüdischer Friedhof Jičín (Aufn. Petr Liska, aus: gigaplaces.com/)
Gitschin war der Geburtsort des österreichischen Schriftstellers, Publizisten und Satirikers Karl Kraus; der Sohn eines jüdischen Papierfabrikanten, der in Wien Germanistik und Philosophie studierte, war ab ca. 1900 Herausgeber der satirischen Zeitschrift „Die Fackel“, die sich unter seiner fast vierzigjährigen Ägide zu einer führenden kultur- und gesellschaftskritischen Publikation entwickelte. Im Jahre seines Todes (1936) erschien die letzte Ausgabe der Zeitschrift. Karl Kraus war bereits 1899 aus der jüdischen Religionsgemeinschaft ausgetreten. Er verstarb 1936 in Wien.
Weitere Informationen:
A. Martínek (Bearb.), Geschichte der Juden in Jicíne (in tschechischer Sprache verfasst), in: Hugo Gold (Hrg.), Die Juden und Judengemeinden Böhmens in Vergangenheit und Gegenwart, Jüdischer Buch- und Kunstverlag, Brünn-Prag 1934, S. 199 - 203
Jiri Fiedler, Jewish Sights of Bohemia and Moravia, Prag 1991
Homepage der Kommunalverwaltung Jičín
World Monuments Fund (Hrg.), Jičín Synagogue, online abrufbar unter: wmf.org/project/jičín-synagogue
Zdenka Kuchynová (Red.), Jičín - po stopách finančníka Baševiho, online unter: radio-praha.cz vom 26.2.2010