Gladbeck (Nordrhein-Westfalen)

Ruhrgebiet – GenWikiBildergebnis für gladbeck Karte Die Stadt Gladbeck mit derzeit ca. 76.000 Einwohnern liegt im Kreis Recklinghausen im nördlichen Ruhrgebiet (Ausschnitt aus hist. Karte von 1940 mit Eintrag von Recklingshausen, aus: genwiki.genealogy.net/Ruhrgebiet  und  Kartenskizze 'Kreis Recklinghausen', TUBS 2008, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 3.0).

 

Erste jüdische Ansässigkeit im Kirchspiel Gladbeck - es war eine Streusiedlung mit fünf Bauernschaften - begann im Jahre 1812; allerdings blieb diese bis um 1900 stets äußerst gering, da die ökonomische Situation für jüdische Händler wenig attraktiv war. Erst mit der während der Wilhelminischen Ära beginnenden Industrialisierung der Region und der damit verbundenen raschen Verstädterung Gladbecks wuchs auch die Zahl der hier lebenden Juden an, die ihren Lebensunterhalt als Händler, aber auch als Handwerker bestritten. Jüdische Wanderarbeiter und Bergleute aus dem polnischen Galizien kamen erst verstärkt nach Ende des Ersten Weltkrieges hierher und bildeten ab Mitte der 1920er Jahre einen Großteil der in Gladbeck lebenden Juden. Hauptzuzug nach Gladbeck erfolgte in den Jahren 1905 bis 1914; der überwiegende Teil dieser jüdischen Zuwanderer waren assimilierte Juden. Zu den ersten Einrichtungen der „Israelitischen Vereinigung zu Gladbeck“ zählte die Anlage eines Friedhofs, der am Rande der kommunalen Begräbnisstätte pachtweise zur Verfügung gestellt wurde. Jüdische Kinder erhielten seit ca. 1910 eigenen Religionsunterricht.

Die in Gladbeck lebenden jüdischen Familien - sie hatten sich 1911 als Synagogen-Untergemeinde konstituiert - gehörten zur Synagogen-Hauptgemeinde Dorsten, die zudem noch aus den beiden Filialgemeinden Buer und Bottrop bestand. Im Jahre 1932 wurde dann Gladbeck zur Rechtsnachfolgerin der Synagogen-Hauptgemeinde Dorsten bestimmt.

Kurz vor Beginn des Ersten Weltkrieges erwarb die Gladbecker Filialgemeinde ein Grundstück im Ortskern, um hier ihre Synagoge zu errichten; doch die politische Entwicklung der Folgejahre verhinderte eine Realisierung der Bauplanungen. Um 1925 mietete die Gemeinde einen Raum in einem Privathause der Kaiserstraße, heute Horster Straße, der als Bet- und Unterrichtsraum vornehmlich von den „Ostjuden“ genutzt wurde. Die wohlhabenderen Gladbecker Juden - Kontakte mit den nicht-integrierten ostjüdischen Zuwanderern bestanden kaum - suchten an hohen Feiertagen die Synagoge in Essen auf.

Juden in Gladbeck:

         --- 1812 ......................... eine jüdische Familie,

    --- 1847 .........................   5 Juden,

    --- 1871 .........................   2   “  ,

    --- 1895 .........................   7   “  ,  

    --- 1910 .........................  97   “  ,

    --- 1913 ......................... 105   “  ,

    --- 1928 ......................... 263   “  ,

    --- 1933 (Juni) .................. 224   “  ,

    --- 1939 (Mai) ...................  20   “  ,

    --- 1944 .........................   4   “  .

Angaben aus: Rainer Weichelt, Juden in Gladbeck 1812 - 1933: Leben im Verstädterungsprozeß ..., S. 365

Zeitungsannonce zur Eröffnung des Kaufhauses Gebrüder Daniel

Obige historische Aufnahme zeigt das seit 1906 vom jüdischen Kaufmann Salomon (Sally) Daniel geführte Kaufhaus am Markt (hist. Aufn. von 1907).

Ende der 1920er Jahre erreichte die antisemitische Hetze auch Gladbeck; diese dokumentierte sich zunächst in Grabschändungen; doch schienen die rechten Parolen bei der Bevölkerung noch wenig Beachtung gefunden haben.

Der Boykott jüdischer Geschäfte durch SA-Angehörige wurde in Gladbeck zwar mehrere Tage durchgeführt, doch schien die „Aktion“ nicht den gewünschten Erfolg gehabt zu haben; denn im Juni 1933 sah sich die NSDAP-Kreisleitung veranlasst, ihre eigenen Parteigänger zurechtzuweisen. Neben wirtschaftlichen Ausgrenzungsmaßnahmen kam es in Gladbeck bereits im Jahre 1933 zu tätlichen Attacken seitens der SA; so wurden alle jüdischen Männer auf dem Marktplatz zusammengetrieben, offen zur Schau gestellt, gedemütigt und geschlagen. Mit zunehmender antijüdischer Agitation begann die Abwanderung jüdischer Bewohner, die vor allem im benachbarten Ausland, in den Niederlande und in Belgien, Zuflucht suchten. Gleichzeitig intensivierte die Kommune ihre Bemühungen, Juden aus dem öffentlichen Leben zu entfernen; in einem 11-Punkte-Katalog zur „Bekämpfung des Judentums” hieß es u.a.:

1. Juden dürfen in Gladbeck die städtischen Bäder nicht mehr benutzen, desgl. auch nicht die Sport- und Tennisplätze.

2. Juden dürfen in Gladbeck keine Grundstücke und Häuser erwerben.

4. An den Stadtgrenzern sind Schilder aufzustellen mit der Aufschrift “Juden sind in dieser Stadt unerwünscht”.

5. Jüdische Kinder dürfen nicht gemeinsam mit deutschen Kindern die Schule besuchen.

6. Der Gladbecker Wochenmarkt darf nicht durch jüdische Händler aufgesucht werden. ...

 

Mit der Abschiebung der sog. „Ostjuden“ (Ende Okt. 1938) war der Auftakt zum Novemberpogrom gemacht. In der Nacht vom 9./10.November zerstörten in Zivil gekleidete SA/NSDAP-Angehörige Fensterscheiben der noch bestehenden jüdischen Geschäfte und plünderten die Auslagen. Gezielt wurde das Haus der Familie Kaufmann an der Horster Straße gestürmt, in dem sich der Betsaal der Gemeinde befand. Jüdische Bewohner wurden aus ihren Häusern herausgeholt, gedemütigt und „in Schutzhaft“ genommen; die Männer hielt man im Gladbecker Polizeigefängnis mehrere Wochen fest. In den Folgemonaten versuchten nun die meisten noch in Gladbeck verbliebenen Juden sich in Sicherheit zu bringen; diejenigen, die sich ins nahe Holland geflüchtet hatten, fielen nach Kriegsbeginn zumeist den deutschen Verfolgungsmaßnahmen zum Opfer. Die Schicksale aller Gladbecker Juden sind bis heute nicht geklärt. Die letzten vier Juden Gladbecks wurden im Herbst 1944 in ein Zwangsarbeitslager in Sachsen verfrachtet; alle vier überlebten das Kriegsende.

Der Gladbecker Samuel Cohen, der Krieg und Holocaust überlebte, schilderte das Schicksal seiner Familie: „Im November 1938 wurde das Geschäft sowie die Einrichtung unserer Privatwohnung durch die Nazis zertrümmert und geplündert. Meine Frau und ich wurden blutig geschlagen und in ein Gefängnis geschleppt. Nachdem ich einen Monat in Gladbeck und zwei Monate in Osnabrück im Gefängnis gewesen war, wurde ich in ein Arbeitslager in Westfalen verschickt. 1939 wurde ich vor die Gestapo geladen, und es wurde mir eine kurze Frist zur Auswanderung gegeben. Im Juni 1939 gelang es mir, nach England auszuwandern, unter Zurücklassung meiner Frau, die nach Theresienstadt transportiert wurde, wo sie umkam. Meine Schwiegereltern flüchteten mit den Kindern und meinem Sohn, geboren 1935, nach Holland, wo sie alle nach der Invasion verhaftet und in ein KZ gebracht wurden, wo sie umkamen. Mein Sohn wurde nach Auschwitz verschickt, wo er in den Gaskammern ermordet wurde.“ (aus: F. Bajohr (Hrg.), Verdrängte Jahre. Gladbeck unter’m Hakenkreuz ... )

Der Kaufmann Isidor Kahn (geb. 1887) war der einzige Gladbecker Jude, der den Holocaust in verschiedenen Verstecken, auch in der Stadt selbst, überlebte. Er hatte in der Kolpingstraße, danach in der Marktstraße ein kleines Textilgeschäft betrieben. In der Pogromnacht war er verhaftet worden und saß für zwei Wochen im örtlichen Gefängnis. Danach musste er sein Geschäft aufgeben, lebte zunächst bei seiner Schwägerin in der Bahnhofstraße. Ab Januar 1943 war er untergetaucht und lebte dann in verschiedenen Verstecken, darunter im Münster- und Sauerland. Isidor Kahn erlebte seine Befreiung in Gelsenkirchen; er kehrte nach Gladbeck zurück und eröffnete hier wieder ein Geschäft.

 

Die jüdische Begräbnisstätte in Gladbeck ist Teil des Kommunalfriedhofs an der Feldhauser Straße. Auf dem von 1908 bis Mitte der 1930er Jahre genutzten Gelände sind heute weniger als zehn Grabsteine vorhanden; die Mehrzahl der Steine war in der NS-Zeit zerstört worden; daran erinnert ein Mahnmal.

Datei:Gladbeck, Baudenkmal juedischer Friedhof 2020-05-03.jpg einzelne Grabsteine (Aufn. Strickling 2020, aus: wikipedia.org CC BY-SA 4.0)

Im Jahre 1990 wurde an dem Hause in der Horster Straße, in dem sich der Betsaal der jüdischen Gemeinde befunden hatte, eine Gedenktafel mit einem längeren Text angebracht:

... Das Haus Horster Straße 54 ist durch seine bewegte Vergangenheit ein Symbol für die wechselhafte Geschichte unserer Stadt und ihrer Menschen.

Es ist auch ein Mahnmal für die schändlichen Verbrechen, die der Deutsche Faschismus unseren jüdischen Bürgern angetan hat.

Anmerkung: Im Gebäude Horster Straße 54 war ab 1939 die Geschäftsstelle der NSDAP (!) untergebracht; nach Kriegsende richtete der jüdische Kaufmann Isidor Kahn hier ein Herren-Konfektionsgeschäft ein.

Im Zuge des Projektes „Historische Orte in Gladbeck“ ließ die Kommune Gladbeck zur Erinnerung an den jüdischen Kaufmann Salomon Daniel u. dessen Familie* an einem Geschäftsneubau am Marktplatz eine Tafel anbringen.

* Die Familie Daniel besaß ein weit über die Stadtgrenzen hinaus bestehendes Kaufhaus („Kaufhaus Gebrüder Daniel“), das Anfang der 1930er Jahre mehr als 60 Angestellte beschäftigte. Der in der Gladbecker Gesellschaft angesehene Kaufmann – in diversen lokalen Vereinen und kommunalpolitisch engagiert – musste sein Geschäft 1936 aufgeben. Mit seiner Familie gelang ihm 1939 die Flucht nach England; von dort erfolgte die Emigration nach Palästina.

2009 wurde mit der Verlegung von sog. „Stolpersteinen“ begonnen; inzwischen findet man in den Gehwegen des Stadtgebietes etwa 110 dieser messingfarbenen Gedenkquader (Stand 2023); die Steine erinnern nicht nur an jüdische NS-Opfer.

Siegmund Katz.jpgWilhelmine Katz.jpgAbraham Ady Scheiner.jpgMoses Scheiner.jpgRachel Scheiner.jpg

verlegt in der Horster Straße (alle Aufn. V., 2021, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 4.0)

und Herbertstraße undefinedundefinedundefinedundefinedundefined

 

 

 

Weitere Informationen:

Frank Bajohr, Geschichte und Schicksal der Gladbecker Juden, Artikelserie in der "Westdeutschen Allgemeinen Zeitung" (März/April 1982)

Frank Bajohr (Hrg.), Verdrängte Jahre. Gladbeck unter’m Hakenkreuz, Kapitel VII: Judenverfolgung in Gladbeck, Klartext Verlag, Essen 1990, S. 224 - 239

Michael Brocke (Hrg.), Feuer an dein Heiligtum gelegt - Zerstörte Synagogen 1938 Nordrhein-Westfalen, Ludwig Steinheim-Institut, Kamp Verlag, Bochum 1999, S. 201/202

Rainer Weichelt, Juden in Gladbeck 1812 - 1933: Leben im Verstädterungsprozeß einer Bergbaugemeinde im nördlichen Ruhrgebiet, in: J.P.Barbian/M.Brocke/L.Heid (Hrg.), Juden im Ruhrgebiet. Vom Zeitalter der Aufklärung bis zur Gegenwart, Klartext-Verlag, Essen 1999, S. 355 – 384

Rainer Weichelt (Bearb.), Gladbeck, in: Historisches Handbuch der jüdischen Gemeinschaften in Westfalen und Lippe. Die Ortschaften und Territorien im heutigen Regierungsbezirk Münster, Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Westfalen XLV, Ardey-Verlag, München 2008, S. 363 - 373 

Gedenkhefte "Spurensuche - Stolpersteine in Gladbeck" 2009/2010 und "Spurensuche- Stolpersteine in Gladbeck" 2012

Auflistung der in Gladbeck verlegten Stolpersteine, online abrufbar unter: wikipedia.org/wiki/Liste_der_Stolpersteine_in_Gladbeck

Historische Orte in Gladbeck, online abrufbar unter: gladbeck.de/Kultur_Tourismus/Kultur/Stadtarchiv/Historische_Orte_in_Gladbeck/autostart.asp (darunter auch Erinnerungstafeln an jüdische Kaufmannsfamilien)

Svenja Suda (Red.), Jüdisches Leben in Gladbeck, in: „WAZ – Westdeutsche Allgemeine Zeitung“ vom 14.8.2013

Georg Meinert (Red.), Das alte Gladbecker Kaufhaus war ein Stück Stadtgeschichte, in: „WAZ – Westdeutsche Allgemeine Zeitung“ vom 2.5.2015 (betr. Kaufhaus der Gebr. Daniel, Horster Straße)

Uwe Rath (Red.), Zur Erinnerung an jüdische Kaufmannsfamilie Daniel: Gedenktafel ziert Neubau am Gladbecker Marktplatz, in: „Stadtspiegel – Lokalkompass“ vom 18.3.2018

Marcus Esser (Red.), Das Kaufmann-Haus in Gladbeck ist ein Symbol der Mahnung, in: „WAZ – Westdeutsche Allgemeine Zeitung“ vom 9.11.2018

Katrin Bürgel (Red.), Kaufhaus Gebrüder Daniel, hrg. von der Stadt Gladbeck (online abrufbar unter: gladbeck.de/kultur_tourismus/kultur/stadtarchiv

N.N. (Red.), 25 weitere Stolpersteine werden verlegt, in: "WAZ – Westdeutsche Allgemeine Zeitung“ vom 12.6.2019

Svenja Suda (Red.), Peter Jarosch pflegt ehrenamtlich Gladbecker Stolpersteine, in: „WAZ – Westdeutsche Allgemeine Zeitung“ vom 5.8.2019

Svenja Suda (Red.), Gladbeck bekommt 21 neue Stolpersteine zur Erinnerung, in: „WAZ – Westdeutsche Allgemeine Zeitung“ vom 11.9.2019

Svenja Suda (Red.), Antisemitismus: Juden sind wieder stärker Hass ausgesetzt, in: „WAZ – Westdeutsche Allgemeine Zeitung“ vom 21.11.2021

Svenja Suda (Red.), Wie jüdische Geschichte in Gladbeck ihren Anfang nahm, in: „WAZ – Westdeutsche Allgemeine Zeitung“ vom 28.12.2021

N.N. (Red.), Stolperstein für Albert Heumann in Gladbeck, in: „NGZ – Neue Gladbecker Zeitung“ vom 21.10.2023