Gladenbach (Hessen)
Gladenbach ist eine hessische Kleinstadt mit derzeit ca. 12.500 Einwohnern im Südwesten des Landkreises Marburg-Biedenkopf (Ausschnitt aus hist. Karte, aus: europe1900.eu und Kartenskizze 'Landkreis Marburg-Biedenkopf', aus: ortsdienst.de/hessen/marburg-biedenkopf).
Blick auf Gladenbach um 1850 (Abb. aus: wikipedia.org, gemeinfrei)
Jüdische Ansiedlung in der Ortschaft Gladenbach ist erstmals um 1610 urkundlich nachweisbar. Um 1720 bildete sich eine jüdische Gemeinde, die bereits im 18.Jahrhundert einen eigenen Lehrer angestellt hatte und über einen Betraum, ab 1814 über einen Synagogenbau verfügte. In den 1830er Jahren setzte ein verstärkter Zuzug von Juden ein, die z.T. aus Osteuropa stammten. Ihr Siedlungsschwerpunkt war die Judengasse, in der bereits die alteingesessenen jüdischen Familien gewohnt hatten; erst gegen Ende des 19.Jahrhunderts wurde der Ortsrand zum bevorzugten Wohngebiet.
Die jüdische Gemeinde weihte im Jahre 1891 ihre neue Synagoge ein, nachdem der alte Synagogenbau wegen Baufälligkeit aufgegeben worden war. An der feierlichen Einweihung soll die gesamte Ortsprominenz teilgenommen haben.
Die jüdischen Schüler in Gladenbach besuchten die allgemeine Volksschule, erhielten aber ihre religiöse Unterweisung von einem eigens von der jüdischen Gemeinde angestellten Lehrer.
aus: "Allgemeine Zeitung des Judentums" vom 11.Nov. 1862, "Der Israelit" vom 20.Nov. 1878 und "Der Israelit" vom 28.Aug. 1893
Verstorbene Gemeindeangehörige fanden ihre letzte Ruhe auf einem der beiden jüdischen Friedhöfe in Gladenbach. Der alte Friedhof in der ehemaligen Judengasse, heute Burgstraße, wurde vermutlich bereits im 17. Jahrhundert angelegt; er lag in unmittelbarer Nähe der Synagoge. Bei der Planung einer neuen Synagoge (1809/1810) bestanden die Behörden auf der Neuanlage eines Friedhofes, und die Gemeinde erwarb daraufhin ein Gelände auf dem Klotzwald, wo der neue Begräbnisplatz entstand. Erstmalig im Jahre 1815 belegt wurde das Beerdigungsareal um 1890 durch ein zusätzlich erworbenes Grundstück erweitert.
Die in Elmshausen lebenden Juden gehörten bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts zur Gladenbacher jüdischen Gemeinde; sie richteten jedoch vor Ort einen eigenen Begräbnisplatz ein.
Juden in Gladenbach:
--- um 1650 ........................ 2 jüdische Familien,
--- um 1770 ........................ 16 “ “ ,
--- 1830 ........................... 104 Juden,
--- 1846 ........................... 135 “ (ca. 12% d. Bevölk.),
--- 1861 ........................... 160 “ ,
--- 1885 ........................... 146 “ ,
--- 1895 ....................... ca. 175 " ,
--- 1905 ........................... 178 “ ,
--- 1916 ........................... 167 “ ,
--- 1933 (Jan.) .................... 109 “ (in 35 Familien),
--- 1935 (Ende) .................... 3 jüdische Familien,
--- 1936 (Jan.) .................... 59 Juden,
--- 1937 (Jan.) .................... 32 “ ,
--- 1938 (Jan.) .................... 27 “ ,
(Nov.) .................... 13 “ ,
--- 1939 (Aug.) .................... 3 “ ,
--- 1940 (Juni) .................... keine.
Angaben aus: Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang - Untergang - Neubeginn, Bd. 1, S. 265
und Jürgen Runzheimer, Abgemeldet zur Auswanderung - Die Geschichte der Juden ..., S. 31
Die Juden Gladenbachs lebten anfänglich hauptsächlich vom Vieh- und Textilhandel; seit Mitte des 19. Jahrhunderts gehörten jüdischen Familien mehrere, für die wirtschaftliche Entwicklung der Stadt wichtige Gewerbebetriebe. Bis in die 1930er Jahre gab es zwei Getreidehandlungen und eine Branntwein-Brennerei in jüdischem Besitz. Mehrheitlich lebten die Juden Gladenbachs in bescheidenen Verhältnissen; doch gab es auch einige wohlhabende Familien.
Drei gewerbliche Anzeigen:
Quelle: J. Runzheimer
Ihre größte Anzahl hatte die jüdische Bevölkerung in Gladenbach um die Jahrhundertwende mit etwa 180 Personen erreicht; danach war die Zahl der jüdischen Bewohner kontinuierlich gesunken. Ihr Zusammenleben mit der christlichen Bevölkerung am Ort war problemlos; so waren Juden aktiv in den Ortsvereinen vertreten und in die Lokalpolitik eingebunden. So wurden z.B. zwei von ihnen noch im März 1933 in den Gemeinderat gewählt, wenige Tage später aber ihres Amtes enthoben.
Schon wenige Wochen nach der NS-Machtübernahme kam es in Gladenbach zu gewalttätigen Ausschreitungen der lokalen SA gegen die jüdische Bevölkerung. Nach den ersten Boykottmaßnahmen des Jahres 1933 war im Ort von weiterer wirtschaftlicher Blockade zunächst wenig zu verspüren; dies war auch der Grund dafür, dass bis Sommer 1935 die allermeisten jüdischen Familien von einer Ab- bzw. Auswanderung Abstand nahmen. Gewalttätige Ausschreitungen im August 1935, die von aufgehetzten Ortsbewohnern begangen wurden, führten aber dazu, dass jüdische Einwohner nun fluchtartig Gladenbach verließen und sich zunächst in Gießen und Marburg in Sicherheit brachten. Hierzu hieß es im ‚August-Bericht’ des Reg.präsidenten Wiesbaden vom 30.8.1935:„ ... Besonders heftig hat sich die Volkswut in Gladenbach ausgelassen, wo in 3 Häusern, die von Juden bewohnt waren, Verwüstungen angerichtet wurden, indem man in die Häuser eindrang und dort die Wasserleitungen aufdrehte bzw. abriß, so daß die Anwesen vom Wasser völlig vernichtet wurden. ...” Nach kurzzeitiger Rückkehr in ihre Wohnungen und dem überstürzten Verkauf ihres Besitzes an „arische“ Interessenten verließen die allermeisten jüdischen Einwohner Gladenbachs ihren Heimatort endgültig. Nur wenige emigrierten; die meisten Familien zogen in deutsche Städte, vorzugsweise nach Frankfurt/Main.
Aus Berichten des Bürgermeisters an den Landrat:
„ ... Die Juden sind hier immer noch sehr zurückhaltend und sind hier irgendwelche Klagen nicht aufgetreten. Sie gehen restlos nach wie vor ihrem Gewerbe nach. Bei einigen Häusern jüdischer Familien wurden vor einigen Tagen wieder einige Fensterscheiben demoliert. ..
(April 1935)
„ ... Die Judenfrage scheint hier soweit gelöst zu sein, sodaß sich eine nähere Berichterstattung erübrigen dürfte. Von ehemals 35 Judenfamilien vor der Machtübernahme ist diese Zahl gegenwärtig auf 6 gesunken. Diese treiben, soweit es ihnen überhaupt noch möglich ist, etwas Viehhandel, bzw. leben von Außenständen, ... Die verbliebenen Juden treten nach außen hin kaum mehr in Erscheinung. Sie haben in den letzten Jahren zu Beschwerden keine Veranlassung mehr gegeben.”
(Sept. 1937)
Kurz vor der „Reichskristallnacht“ lebten in Gladenbach nur noch 13 jüdische Einwohner. Als in den Novembertagen 1938 ein SA-Kommando die örtliche Synagoge in Brand setzen wollte, konnte der Bürgermeister die Brandstifter davon abhalten und überzeugen, dass das Gebäude bald in städtische Hände gelangen würde. Am 14.November 1938 war folgende Kurzmitteilung im „Hinterländer Anzeiger” zu lesen:
... In unserer Stadt, wo eine recht ansehnliche Zahl Juden lebten, ist die Zahl auf eine ganz geringe Minderheit zusammengeschmolzen und es ist zu erwarten, daß auch diese bald verschwinden werden, sodaß dann Gladenbach bald judenfrei sein wird. Geschäfte werden in Gladenbach von den Juden schon über 3 Jahre keine mehr betrieben. Die Synagoge ging durch Kauf in den Besitz der Stadtgemeinde über und ist es beabsichtigt, das Gebäude umzubauen und gemeingültigen Zwecken dienlich zu machen. Die Inneneinrichtung ist bereits abgebrochen worden.
Anm.: Wegen des schlechten baulichen Zustandes des Gebäudes wurde von einem Umbau abgesehen; später wurde es abgebrochen.
Mit dem Wegzug der beiden letzten jüdischen Bewohner, dem Ehepaar Stern, endete im Juni 1940 die mehr als 300jährige Geschichte der Juden in Gladenbach.
Etwa 60 Gladenbacher Juden war bis Kriegsbeginn eine Emigration (zumeist in die USA) gelungen.
Nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem/Jerusalem und des "Gedenkbuches - Opfer der Verfolgung der Juden ..." wurden nachweislich 51 gebürtige bzw. längere Zeit im Ort ansässig gewesene jüdische Bewohner Gladenbachs Opfer der Shoa (namentliche Nennung der betroffenen Personen siehe: alemannia-judaica.de/gladenbach_synagoge.htm).
Nach Kriegsende kehrten nur zwei Gladenbacher Juden hierher zurück.
Der am einstigen Standort der Synagoge aufgerichtete Gedenkstein (Aufn. Hartmut Berge) trägt die Inschrift:
O Erde, decke mein Blut nicht zu, mein Schreien finde keine Ruhestatt.
Zum Gedenken an unsere jüdischen Mitbürger.
Hier stand die Synagoge der jüdischen Gemeinde Gladenbach
Seit 2015 befindet sich an gleicher Stelle zusätzlich eine Informationstafel, die an das einstige jüdische Leben in Gladenbach erinnert; 2022 wurde diese Schautafel erneuert.
Der (neue) jüdische Friedhof an der Straße „Am Klingelsberg“, dessen Grabsteine 1941 zumeist abgeräumt worden waren, wurde später teilweise wieder hergestellt; aus sechs Grabsteinen wurde ein Mahnmal geformt.
Jüdischer Friedhof in Gladenbach (Aufn. J. Hahn, 2008, aus: alemannia-judaica.de)
In Niederweidbach - ca. 15 Kilometer südwestlich von Gladenbach gelegen und heute Ortsteil der Kommune Bischoffen - bildete sich im 19.Jahrhundert eine autonome jüdische Kultusgemeinde. Diese verfügte über einen Betraum, den die Glaubensgenossen aus Mudersbach und zeitweise auch die aus Altenkirchen aufsuchten. Nach Konstituierung der Gemeinde wurde auch ein eigener Friedhof angelegt, der sich etwas außerhalb des Ortes nahe der Roßbacher Straße befand und auf dem vermutlich auch Verstorbene aus anderen Orten begraben wurden.
Juden in Niederweidbach:
--- 1830 ......................... 23 Juden,
--- 1871 ......................... 41 “ ,
--- 1885 ......................... 43 “ (ca. 10% d. Bevölk.),
--- 1895 ......................... 36 “ ,
--- 1905 ......................... 30 “ ,
--- 1924 ......................... 24 " ,
--- 1932/33 ...................... 6 jüdische Familien,
--- 1942 ......................... 12 Juden,
(Sept.) .................. keine.
Angaben aus: Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang - Untergang - Neubeginn, Bd. 2, S. 143
und Niederweidbach, in: alemannia-judaica.de
Die meisten Juden Niederweidbachs waren Viehhändler und betrieben nebenher noch eine kleine Landwirtschaft. Anfang der 1930er Jahre lebten im Ort sechs jüdische Familien. Im November 1938 wurde die Inneneinrichtung des Betraumes zerstört; später wurde das Gebäude wegen Baufälligkeit abgerissen. Die letzten beiden jüdischen Dorfbewohner mussten Niederweidbach im Sommer 1942 verlassen und wurden deportiert.
Der während der NS-Zeit weitgehend abgeräumte Friedhof wurde nach 1945 – so gut es eben ging – wieder hergerichtet; auf einer Fläche von ca. 1.100 m² sind heute 14 Grabsteine zu finden; einige Steine besitzen unleserliche Inschriften.
Aufn. Otto Domes, 2017, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 4.0
zwei Grabsteine (Aufn. Frank Rudolph, Niederweidbach)
Weitere Informationen:
Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen, Anfang - Untergang - Neubeginn, Societäts-Verlag, Frankfurt/M. 1971, Bd. 1, S. 265 – 267 (Gladenbach) und Bd.2, S. 143 (Niederweidbach)
Karl Huth, Gladenbach. Eine Stadt im Wandel der Jahrhunderte, Hrg. Magistrat der Stadt, Gladenbach 1974
Hans Christian Mika, Materialien zur Geschichte der Juden in Gladenbach, Arbeitshilfe für den Geschichts- und Sozialkundeunterricht, Gladenbach 1980
Jürgen Runzheimer, Die Geschichte der Gladenbacher Juden, in: D.Blum/J.Runzheimer, Gladenbach und Schloß Blankenstein, Marburg 1987, S. 149 - 184
Jürgen Runzheimer, Die Synagoge in Gladenbach, in: "Jahrbuch des Landkreises Marburg-Biedenkopf 1988"
Jürgen Runzheimer, Abgemeldet zur Auswanderung - Die Geschichte der Juden im ehemaligen Landkreis Biedenkopf, in: "Beiträge zur Geschichte des Hinterlandes", Band III, Hrg. Hinterländer Geschichtsverein e.V., Marburg 1992, S. 31 - 62
Heimatgeschichtlicher Wegweiser zu Stätten des Widerstandes und der Verfolgung 1933 - 1945, Hessen II: Regierungsbezirke Gießen und Kassel, VAS-Verlag, Frankfurt/M. 1996, S. 110 (Niederweidbach) und S. 148/149 (Gladenbach)
Gladenbach, in: alemannia-judaica.de (mit Dokumenten zur jüdischen Ortshistorie)
Niederweidbach, in: alemannia-judaica.de
Michael Wildt, Volksgemeinschaft als Selbstermächtigung. Gewalt gegen Juden in der deutschen Provinz 1919 bis 1939, Hamburg 2007, S. 287 – 289
Hartmut Berge (Red.), Stets auf Versöhnung bedacht. Gedenken an Benno Lederer, in: „Oberhessische Presse“ vom 6.8.2014
Silke Pfeifer-Sternke (Red.), Nur einen Juden zieht es zurück, in: „Oberhessische Presse“ vom 27.3.2015
Michael Tietz (Red.), Zeichen gegen Rassismus setzen. Einweihung Gedenktafel erinnert an die jüdische Gemeinde in Gladenbach, in: „Hinterländer Anzeiger“ vom 3.4.2015
Jennifer Stein (Red.), Erinnern, gedenken und mahnen, in: mittelhessen.de vom 11.11.2019
Michael Tietz (Red.), Gladenbacher setzen Zeichen gegen wachsenden Antisemitismus, in: mittelhessen.de vom 6.10.2021
Michael Tietz (Red.), Gladenbacher hält Erinnerungen an jüdische Gemeinde wach, in: mittelhessen.de vom 28.11.2022