Gnoien (Mecklenburg-Vorpommern)
Gnoien mit derzeit ca. 2.800 Einwohnern ist eine Kleinstadt im Osten des Landkreises Rostock und Sitz des Amtes Gnoien, dem sieben Gemeinden angehören; seit 2001 trägt Gnoien den Beinamen "Warbelstadt" nach dem Flüsschen, das den Ort von drei Seiten umfließt (Ausschnitt aus hist. Karte mit Gnoien am linken Kartenrand, aus: wikipedia.org, gemeinfrei und Kartenskizze 'Landkreis Rostock', aus: ortsdienst.de/mecklenburg-vorpommern/landkreis-rostocksuche-postleitzahl.org).
Der erste Nachweis für die Anwesenheit einer jüdischen Familie in Gnoien (Gnoyen) ist ein im Jahre 1756 vom mecklenburgischen Herzog ausgestellter Schutzbrief; er gestattete Juda Moses den Zuzug. Im Laufe der Folgejahrzehnte müssen dann weitere jüdische Familien nach Gnoien gekommen sein, denn um 1800 soll die kleine Gemeinde schon einen eigenen Lehrer gehabt haben. Seit 1817 verfügten die Juden Gnoiens über einen Betraum, der im jüdischen Gemeindehaus in der Scharfrichterstraße untergebracht war; aus dem gleichen Jahre stammt auch der Entwurf einer Synagogenordnung. 1846 soll vom Landesherrn eine neue Gemeindeordnung bestätigt worden sein.
Ein eigenes Begräbnisareal gab aber erst seit Ende der 1840er Jahre: es befand sich auf dem Gelände des einstigen Armenfriedhofs an der Bobbiner Chaussee.
Juden in Gnoien:
--- um 1760 ..................... eine jüdische Familie,
--- 1810 ........................ 59 Juden,
--- 1830 ........................ 72 “ ,
--- 1850 ........................ 47 “ ,
--- 1870 ........................ 41 “ ,
--- 1890 ........................ 29 “ ,
--- 1910 ........................ 15 “ ,
--- 1923 ........................ 4 jüdische Familien,
--- 1933 ........................ 9 Juden,
--- 1937 ........................ 3 “ .
Angaben aus: Angaben des Stadtarchivs von Gnoien
Ihren zahlenmäßigen Zenit erreichte die Gnoiener Judenschaft Mitte der 1830er Jahre mit 75 Angehörigen; seitdem war ein langsamer, aber steter Rückgang der Zahl der Gemeindemitglieder zu verzeichnen.
Gnoien um 1914 (Abb. aus: gnoien.com)
Gegen Ende des Ersten Weltkrieges hatte sich die Gnoiener Gemeinde durch Abwanderung ihrer Angehörigen auf sehr wenige Familien reduziert. Der Verkauf des Synagogengebäudes (1920) - es wurde kurz danach abgerissen - leitete das offizielle Ende der Gemeinde 1923 ein; mit dessen Verkaufserlös sollte die künftige Pflege des Friedhofs finanziell gesichert werden.
Mitte der 1920er Jahre kam es in Gnoien zu antisemitischen Ausschreitungen, konkret zur Schändung des Friedhofs und Zerstörung des Leichenwagens. Anfang der 1930er Jahre lebten noch drei jüdische Familien in Gnoien.
Im November 1942 wurde der letzte jüdische Bewohner, Eugen Salomon, nach Theresienstadt deportiert; er kehrte nicht mehr zurück.
Mit Ausnahme von mehreren Grabsteinsockeln gibt es keine Überreste des jüdischen Friedhof mehr; zwar war der Friedhof (die letzte Bestattung war hier 1925 erfolgt) während der NS-Zeit nahezu unangetastet geblieben, doch wurden nach 1945 Grabsteine für den Wegebau zweckentfremdet. Ein Gedenkstein wird künftig hier an die ehemaligen jüdischen Bürger Gnoiens erinnern.
Ein auf dem städtischen Friedhof befindlicher großer Gedenkstein trägt unter einem Davidstern die folgende Inschrift:
Zum Gedenken an die 6 Millionen Toten,
die von der faschistischen Barbarei ermordet wurden, nur weil sie Juden waren.
Die Toten mahnen die Lebenden.
Mit der Verlegung der beiden abgebildeten sog. "Stolpersteine" (Friedensstr./Markt) für die Geschwister Hermine und Eugen Salomon fand 2016 das Geschichtsprojekt „Jüdisches Leben in Gnoien" (initiiert von der Evang.-Lutherischen Kirchengemeinde) seinen Abschluss.
Aufn. aus: gnoien.com
In Tessin - ca. 25 Kilometer westlich von Gnoien und südöstlich von Rostock gelegen, derzeit ca. 4.000 Einw. - existierte eine jüdische Gemeinde, die in der ersten Hälfte des 19.Jahrhunderts maximal 80 – 100 Angehörige zählte. Ihre Wurzeln wurden um 1750/1760 gelegt, als ein Schutzjude - namens Arend Moses aus Krakow am See kommend - sich hier niederließ; weitere jüdische Familien folgten ihm nach.
Ihren Broterwerb bestritten die Familien mit kleinen Handels- und Handwerksunternehmen; Überlandfahrten sicherten zudem ihre schmale Lebensgrundlage.
Nach dem Generalverzeichnis aller im Großherzogtum Mecklenburg-Schwerin privilegierten Schutzjuden lebten im Jahre 1825 in Tessin insgesamt 14 Schutzjuden. Nun war auch die Gemeinde finanziell in der Lage, sich ein Synagogengebäude zu erbauen; das Bethaus befand sich auf einem Hinterhofgelände in der Mühlenstraße.
1833 gab sich die kleine Gemeinde dann eigene Statuten, die u.a. die Beiträge in die gemeindliche Kasse regelte, Regularien bei der Wahl des Vorsängers/Lehrers und den Kauf der Sitzplätze im Bethaus festlegte.
Mehr als zehn Jahre waren diese Gemeindestatuten in Kraft, ehe 1846 - wie in fast allen Mecklenburger Landstädten - eine landesherrlich verordnete Gemeindeordnung in Kraft trat.
Um 1820 wurde ein eigener Friedhof am südlichen Hang des Prangenberges - etwa zwei Kilometer außerhalb der Stadt in Richtung Cammin - angelegt; zuvor mussten Verstorbene auf den jüdischen Begräbnisplatz ins weit entfernte Neubukow gebracht werden.
Die Tessiner Gemeinde war eng mit der Kultusgemeinde von Krakow am See verbunden.
Durch Abwanderung in größere Städte – beginnend in der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts – ging die jüdische Bevölkerung kontinuierlich zurück. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war der Niedergang der Tessiner Gemeinde nicht mehr aufzuhalten; kurz vor Beginn des Ersten Weltkrieges bezifferte sich die Anzahl der jüdischen Haushalte auf acht. Auf Grund der misslichen finanziellen Situation löste sich die verschuldete jüdische Gemeinde in den 1920er Jahren faktisch auf, bestand aber offiziell noch bis Ende der 1930er Jahre fort.
Das letzte jüdische Geschäft in Tessin, das Textilgeschäft Levy, wurde im Nov. 1938 von ortsansässigen Nationalsozialisten demoliert und dessen Besitzer in „Schutzhaft“ genommen.
Ende der 1930er Jahre erfolgte der Verkauf des Synagogengebäudes.
1942 wohnten noch zwei Jüdinnen in Tessin, die in „privilegierter Mischehe“ lebten. Mindestens 18 gebürtige bzw. längere Zeit in der Kleinstadt wohnhaft gewesene Personen mosaischen Glaubens wurden Opfer der NS-Gewaltherrschaft.
In der NS-Zeit war die Begräbnisstätte verwüstet worden; die Reste noch vorhandener Grabsteine wurden in den 1980er Jahren abgeräumt und zum jüdischen Friedhof Rostock gebracht; ein dort aufgestellter Gedenkstein erinnerte an die Juden Tessins. Der jüdische Friedhof in Tessin wurde im Jahre 1992 rekonstruiert mitsamt der das Gelände umgebenden Ziegelsteinmauer. Der zuvor in Rostock befindliche Gedenkstein wurde nun wieder auf den Tessiner Friedhof transferiert; Grabsteine sucht man jedoch auf dem Begräbnisgelände vergebens.
Auf dem Schulhof der „Anne-Frank-Schule“ wurde eine vom Bildhauer Gerhard Rommel geschaffene Gedenkstele eingeweiht, die auch an die Namensgeberin der Schule erinnert.
Weitere Informationen:
M.Brocke/E.Ruthenberg/K.U.Schulenburg, Stein und Name. Die jüdischen Friedhöfe in Ostdeutschland (Neue Bundesländer/DDR und Berlin), in: "Veröffentlichungen aus dem Institut Kirche und Judentum", Hrg. Peter v.d.Osten-Sacken, Band 22, Berlin 1994, S. 363/364 und S. 636/637
Die jüdische Gemeinde von Tessin (Recherchen von 1815 bis 2004) - Auszug aus Stadtchronik von Tessin
Angaben des Stadtarchivs von Gnoien
Eberhard Rogmann (Red.), Gedenken an ermordete Juden – Stolperstein: Gnoien kniet nieder – und Teterow? in: „Nordkurier“ vom 7.2.2016
Jürgen Gramenz/Sylvia Ulmer, Ehemaliges jüdisches Leben in Tessin, in: Geschichte der Juden in Mecklenburg, Aufsatz vom 2.9.2016, in: juden-in-mecklenburg.de/Orte/Tessin
Jürgen Gramenz/Sylvia Umler (Bearb.), Gnoien – ehemaliges jüdisches Leben in Gnoien, Aufsatz vom 19.4.2017, in: juden-in-mecklenburg.de/Orte/Gnoien
Michael Buddrus/Sigrid Fritzlar (Bearb.), Juden in Mecklenburg 1845-1945. Lebenswege und Schicksale. Ein Gedenkbuch, Schwerin 2019, S. 273/274 (betr. Tessin)
Gerald Gräfe (Red.), Windboe enthüllt Gedenkstein zwei Jahre zu früh, in: „Nordkurier“ vom 23.3.2024