Goch (Nordrhein-Westfalen)
Goch ist heute eine Mittelstadt mit ca. 34.000 Einwohnern am unteren linken Niederrhein im Nordwesten des Bundeslandes Nordrhein-Westfalen (Ausschnitt aus hist. Karte um 1795, aus: wikipedia.org, gemeinfrei und Kartenskizze 'Kreis Kleve', aus: ortsdienst.de/nordrhein-westfalen/kreis-kleve).
Juden wohnten bereits gegen Ende des 13.Jahrhunderts in Goch; auch nach den Pestpogromen von 1348/1349 lebten vermutlich einige wenige jüdische Familien am Ort. Eine jüdische Gemeinde lässt sich in Goch ab dem 16.Jahrhundert nachweisen. Wurden Gottesdienste zunächst in privaten Räumlichkeiten abgehalten, besaßen die Juden Gochs seit 1724 im Hause der Familie Heymann (Vossstraße) eine Synagoge. Seit dem Jahre 1812 verfügte die Gemeinde dann über ein neues Synagogengebäude in der Herzogenstraße, das - nach einem Festzug durch den Ort - feierlich eingeweiht worden war. Die in französischer Sprache vorgetragenen Festrede des Präfekten huldigte pathetisch und patriotisch Kaiser Napoleon:
„ ... Es ist ein schönes Schauspiel für mich, die Nachkommen des ältesten Volkes der Erde vor mir zu sehen, die Sprößlinge eines Stammes, dessen Schicksale zu den außerordentlichsten gehören, welche jemals die Geschichte in ihren Annalen zu verzeichnen hat. Dieser Tag ist doppelt feierlich. Dieses Schauspiel ist doppelt interessant, wenn man bedenkt daß die Unglücksfälle und Leiden der Bekenner der mosaischen Religion erst in unseren Tagen aufgehört haben, und daß Napoleon, eben so groß als Gesetzgeber wie als Kriegsheld, der Erste gewesen ist, der durch weise und dauerhafte Gesetze diesem unglücklichen Überreste der Freiheit zur Ausübung der bürgerlichen und religiösen Rechte zugestanden hat. Eine schöne Morgenröte hat endlich begonnen, diesen Menschen zu leuchten, welche seit Jahrhunderten allen Grausamkeiten einer barbarischen Verfolgung preisgegeben, nicht aufgehört haben der mosaischen Religion treu zu bleiben. ... Diese glückliche Zukunft ist an Vorbedingungen geknüpft, die Napoleon, der Gesetzgeber für Jahrhunderte, indem er den Israeliten dieselben Rechte, wie allen anderen Bürgern einräumte, in seiner väterlichen Weisheit festgestellt hat. ... Unter diesen Gesichtspunkten allein und mit diesen großen Hoffnungen, übergebe ich Eure Synagoge mit den Wünschen, daß die Israeliten in Goch und meines Bezirks fortfahren mögen, sich durch ihre Anhänglichkeit an den Fürsten auszuzeichnen, und daß an diesem feierlichen Tage der Ausdruck unserer Liebe tausendmal wiederholt werde durch den nationalen Ruf. Es lebe der Kaiser ! “
Die Synagoge befand sich - durch einen Hof getrennt - hinter dem Gemeindehaus, das auch einen Schulraum beherbergte.
Da die Synagoge nach einigen Jahrzehnten nicht mehr den Bedürfnissen der wachsenden jüdischen Gemeinde entsprach, wurde diese in den 1860er Jahren umgebaut. Nach weiteren fünf Jahrzehnten - anlässlich des 100jährigen Synagogenbestehens - nahm man eine umfassende Renovierung vor - finanziert durch Spenden der Gemeindemitglieder - und weihte das Gebäude erneut ein.
Synagogenraum in Goch (Aufn. um 1915, aus: wp.ge-mittelkreis.de)
Der älteste jüdische Friedhof in Goch lag an der Straße „Hinter der Mauer“ und wurde um 1800 offiziell geschlossen. Ein neuer Begräbnisplatz wurde zu Beginn der 1820er Jahren an der Kalkarer Straße - direkt neben dem evangelischen Friedhof - angelegt; dieser wurde bis zu dessen Belegung 1900 benutzt. Auf dem jüngsten jüdischen Begräbnisplatz - ganz in der Nähe seines Vorgängers gelegen - fand die letzte Beerdigung im Jahre 1962 statt.
Juden in Goch:
--- 1800 ......................... 147 Juden,
--- 1825 ......................... 168 “ ,
--- 1858 ......................... 188 “ ,
--- 1875 ......................... 166 “ ,
--- 1890 ......................... 155 “ ,
--- 1900 ......................... 182 “ ,
--- 1925 ......................... 81 “ ,
--- 1932 ......................... 75 “ ,
--- 1939 ......................... 27 “ ,
--- 1942 (Dez.) .................. keine.
Angaben aus: E. Pracht-Jörns, Jüdisches Kulturerbe in Nordrhein-Westfalen, Teil II: Reg.bez. Düsseldorf, S. 327
Obwohl in den 1920er Jahren die Zahl der jüdischen Einwohner Gochs auf weniger als 100 Personen gesunken war, spielten sie für den Ort eine wirtschaftlich bedeutende Rolle; so gab es in Goch eine größere Schuhfabrik im Besitz der jüdischen Familie Sternefeld, die damals etwa 500 Beschäftigte zählte.
aus: Briefkopf der Fa. Wolfgang Sternefeld
Andere jüdische Familien besaßen größere Ladengeschäfte am Ort.
Während der Pogromnacht wurde die Gocher Synagoge in der Herzogenstraße durch Brandstiftung vollständig zerstört. Auch jüdische Geschäftshäuser fielen einer Teilzerstörung durch den Mob zum Opfer. Jüdische Männer wurden zeitweilig „in Schutzhaft“ genommen. Wenige Wochen später musste die jüdische Gemeinde ihre gesamten Liegenschaften zwangsweise an die Stadtgemeinde veräußern. Bereits im Sommer 1938 war der jüdische Friedhof schwer geschändet worden.
Im Laufe des Jahres 1940 wurden die jüdischen Familien Gochs in „Judenhäuser“ umgesiedelt. Im Oktober bzw. Dezember 1941 wurden die meisten der noch in Goch verbliebenen jüdischen Bewohner ins Ghetto Lodz bzw. Riga deportiert; die letzten drei mussten sich im Juli 1942 einem Transport nach Theresienstadt anschließen.
Nach Kriegsende kehrten einige wenige Juden nach Goch zurück.
Zum 50.Jahrestag des Novemberpogroms von 1938 wurde eine Gedenktafel auf dem Gelände der ehemaligen Synagoge an der Herzogenstraße eingeweiht, die unter einer zerbrochenen Menora die folgende Inschrift trägt:
Zur Erinnerung an die Synagoge der jüdischen Gemeinde Goch,
die in der Nacht vom 9./10.November 1938 von Gocher Nationalsozialisten niedergebrannt wurde.
Uns allen zur Mahnung.
Plakat einer Ausstellung in Goch
Nach der 1933 in Goch geborenen Leni Valk wurde im Jahre 1979 die hiesige Realschule benannt; auch eine Straße Gochs trägt ihren Namen. Das kurze Leben der Leni Valk endete in Sobibor. Eine andere Straße trägt den Namen des jüdischen Lederfabrikanten Ludwig Hartog (1848–1939), der 1928 den Ehrenbürgerbrief der Stadt Goch erhalten hatte.
In mehreren „Verlegeaktionen“ - beginnend 2013 – wurden in den Gehwegen mehr als 100 sog. „Stolpersteine“ verlegt (Stand 2023), die Opfern der NS-Gewaltherrschaft gewidmet sind.
Herzogenstraße (aus: Gmbo, 2015, wikipedia.org, CCO)
und in der Weezerstraße, Mühlen- u. Voßstraße
In Uedem – wenige Kilometer östlich von Goch gelegen (Kartenskizze TUBS 2008, aus:wikipedia.org, CC BY-SA 3.0) - lassen sich jüdische Bewohner seit dem ausgehenden 16.Jahrhundert nachweisen. Eine hier beheimatete kleine mittelalterliche jüdische Gemeinschaft soll durch die Pestpogrome von 1348/1349 vernichtet worden sein. Juden siedelten sich vermutlich im Laufe des 16.Jahrhunderts wieder in Uedem an. Aber erst 1847 wurde die Synagogengemeinde Uedem geschaffen. Um die Mitte des 19.Jahrhunderts lebten in der Ortschaft ca. 75 Personen mosaischen Glaubens. 1820 erwarb die hiesige Judenschaft die Kapelle des aufgelösten St. Agatha-Klosters am heutigen Agathawall und wandelte sie in eine Synagoge um; in der Folgezeit wurde die „Judenkirche“ mehrfach umgebaut. – In den 1820er Jahren wurde eine jüdische Elementarschule eingerichtet, die bis Ende des Jahrhunderts bestand. Bereits um 1700 legte man einen eigenen Begräbnisplatz (am heutigen Graf-Johann-Wall) an; nach dessen Belegung wurde um 1825/1830 ein neuer Friedhof (an der Marienstraße) eingeweiht. Infolge Abwanderung zählte die jüdische Gemeinde Anfang der 1930er Jahre kaum noch 20 Angehörige; Emigration und Flucht in die Nachbarländer führten das Ende der Gemeinde herbei. Während der Novembertage 1938 wurde in Uedem u.a. die Metzgerei Devries (Lohstraße) demoliert. Der Friedhof wurde abgeräumt und eingeebnet.
Seit 1988 erinnert eine Stele – zersplitterndes Glas symbolisierend – an die ehemalige jüdische Gemeinde Uedem. Zudem trägt eine Tafel in der Friedhofshalle die Namen der ermordeten jüdischen Bewohner. Die „Geschwister-Devries-Grundschule“ ist nach den beiden ermordeten Mädchen Ruth und Hilde Devries benannt.
In den Jahren 2013/2014 wurden in den Gehwegen von Uedem ca. 45 sog. Stolpersteine“ verlegt; ein Stein weist auf den ehemaligen Standort der Synagoge hin.
Aufn. aus: hvv-uedem.de
Auch in Weeze – einer kleinen Ortschaft südlich von Goch – erinnern seit 2009 sog. „Stolpersteine“ an ehemalige jüdische Familien, die der NS-Herrschaft zum Opfer fielen. Während einigen noch die Emigration nach Übersee gelang, wurden die anderen deportiert und ermordet.
Die Geschichte der Juden in Weeze ist geprägt durch die beiden Familien Koopmann und Devries. Die wenigen jüdischen Bewohner in Weeze – erstmals lassen sich diese bereits seit dem 17.Jahrhundert nachweisen – waren als Viehhändler/Metzger und Kleinkaufleute tätig. Um 1900 betrug die Zahl der jüdischen Einwohner 25 Personen, 1938 waren es dann nur noch 13.
„Stolpersteine“ verlegt in der Kevelaerer Straße (Abb. aus: nl.tracesofwar.com)
Seit 2002 erinnert eine Gedenktafel an der Petrus-Canisius Grundschule an die Weezer Juden, die während der NS-Gewaltherrschaft verfolgt und ermordet wurden.
Weitere Informationen:
1812 - 1912. Festschrift zur Erinnerung an die feierliche Einweihung der Synagoge zu Goch bei Gelegenheit des 100 jährigen Bestehens am 7.Juni 1912
Heinz Mosterts, Wo sind sie geblieben ..? Die Gocher Juden und ihr Schicksal 1920 - 45, in: "An Niers und Kendel. Historische Zeitschrift für Stadt Goch und Umgebung", No.9/1983, S. 17 - 19
Franz Hermes, Jüdisches Schulwesen in Goch 1822 - 1839, in: "An Niers und Kendel. Historische Zeitschrift für Stadt Goch und Umgebung", Ausgaben: No.27/1992, S. 8 - 14; No.28/1993, S. 13 - 20; No.29/1994, S. 1 – 7 und No.30/1995, S. 9 - 15
Reinhard Schippkus, Vor 50 Jahren wurden die ersten Gocher Juden in Lager und Ghettos deportiert. Ganz normale Tage in ‘heroischer’ Zeit, in: "Kalender für das Klever Land 1993", S. 31 - 34
Michael Brocke (Hrg.), Feuer an dein Heiligtum gelegt - Zerstörte Synagogen 1938 in Nordrhein-Westfalen, Ludwig Steinheim-Institut, Kamp Verlag, Bochum 1999, S. 205 - 207
Elfi Pracht-Jörns, Jüdisches Kulturerbe in Nordrhein-Westfalen, Teil II: Reg.bezirk Düsseldorf, J.P. Bachem Verlag, Köln 2000, S. 327 ff.
Katharina Drießen, Die Gocher Juden im Dritten Reich. Powerpoint-Präsentation, Stadtarchiv Goch 2005 (online abrufbar unter: wp.ge-mittelkreis.de/webfrie05/webinsch/jupage/Synagoge.htm)
Stolperstein-Verlegungen in Goch, online abrufbar unter: wp.ge-mittelkreis.de
Tamara Eichhofer/Alessandra Crotty (Red.), Die Nacht, in der die Synagoge brannte, online abrufbar unter: ge-mittelkreis.de
Michael Lehmann, Das Schicksal der Uedemer Juden und anderer Opfer des Nationalsozialismus, hrg. vom Heimat- u. Verkehrsverein Uedem, 2013
N.N. (Red.), Letzte Stolpersteine in Uedem verlegt, in: rp-online de vom 29.1.2014
Ruth Warrener (Bearb.), „Die Heimat vertreibt ihre Kinder – Flucht und Vertreibung jüdischer Bürgerinnen und Bürger aus Goch“ - eine Ausstellung, hrg. von der „Stolperstein“-Initiative in Goch, 2015
Ruth Warrener, Wider das Vergessen, hrg. vom Heimatverein Goch, Goch 2017
Auflistung der in Goch verlegten Stolpersteine, online abrufbar unter: wikipedia.org/wiki/Liste_der_Stolpersteine_in_Goch
Auflistung der in Uedem verlegten Stolpersteine, online abrufbar unter: wikipedia.org/wiki/Liste_der_Stolpersteine_in_Uedem
Auflistung der Iin Weeze verlegten Stolpersteine, online abrufbar unter: wikipedia.org/wiki/Liste_der_Stolpersteine_in_Weeze
Michael Baers (Red.), Wegweiser zu den Gocher Stolpersteinen, in: rp-online.de vom 9.3.2018
Judith Schouten (Bearb.), Wegweiser zu den Stolpersteinen in Goch, Hrg. Initiative Gocher Stolpersteine, Goch 2018
Gemeinde Weeze (Bearb.), Historischer Rundweg – Tafel 15: Jüdische Weezer, online abrufbar unter: weeze.de/de/inhalt/historischer-rundweg-tafel-12/
Jörg Conradi (Red.), Streetart erinnert an zerstörte Synagoge in Goch, in: wdr.de vom 22.9.2023
Anja Settnik (Red.), Mit neun Jahren ermordet – Zur Erinnerung an Leni Valk und andere jüdische Kinder, in: „Rheinische Post“ vom 24.9.2023