Grätz (Posen)
Grätz (poln. Grodzisk Wielkopolski) ist heute eine Stadt mit derzeit ca. 15.000 Einwohnern in der Woiwodschaft Poznan, ca. 45 Kilometer südwestlich von Posen/Poznan gelegen (Ausschnitt aus hist. Karte, aus: europe1900.eu und Kartenskizze 'Polen' mit Grodzisk Wielkopolski rot markiert, P. 2009, aus: commons.wikimedia.org CC BY-SA 3.0).
Im ausgehenden 18. und in der ersten Hälfte des 19.Jahrhunderts erreichte die israelitische Gemeinde ihren personellen Zenit; zeitweise stellten die hiesigen Juden etwa die Hälfte der Einwohnerschaft.
Die günstige Lage der Stadt an einer wichtigen Handelsstraße führte dazu, dass sich Anfang des 16.Jahrhunderts die ersten jüdischen Familien in Grätz niederließen. Das erste Dokument, das jüdische Anwesenheit belegt, stammt schon aus dem Jahre 1505 und erwähnte den Juden Abraham von Grodzisk.
1634 erlaubte die hiesige Schneiderinnung, dass zwei Posener Juden hier ihr Handwerk ausüben durften. In einem 1663 ausgestellten Privileg (aus 15 einzelnen Artikeln) wurde den Juden u.a. erlaubt, in der Stadt eine Synagoge zu errichten; zudem sollte der hier lebende Rabbiner Steuerfreiheit genießen.
Nach dem schwedisch-polnischen Krieg nahm die Zahl der Juden stetig zu, sodass sich eine Gemeinde bilden konnte. Eine 1711 ausgebrochene Feuersbrunst machte auch viele jüdische Einwohner obdachlos und zwang sie vorübergehend zum Verlassen der Stadt. Ein weiterer Großbrand vernichtete 1761 fast das gesamte jüdische Viertel. Um 1800 erreichte die Anzahl der Juden in Grätz 1.200 Personen; damit stellten sie fast die Hälfte der Kleinstadtbevölkerung.
Die älteste Gemeindeeinrichtung war der um ca. 1700 angelegte jüdische Friedhof; gegen Mitte des 19.Jahrhunderts wurde das Areal erweitert.
Eine einfache hölzerne Synagoge soll etwa um 1790/1800 eingeweiht worden sein; da diese aber bald baufällig war, ließ die Grätzer Judenschaft 1822 an gleicher Stelle eine neue Synagoge errichten. Während die jüdischen Kinder zunächst in Privatschulen unterrichtet wurden, besuchten sie nach 1840 städtische Schulen; in den untersten Klassen erteilten jüdische Lehrer den Unterricht. Während der ersten Hälfte des 19.Jahrhunderts gab es in Grätz eine bekannte Talmud-Schule.
Der erste jüdische Friedhof befand sich bis in die 1660er Jahre nahe des Bernhardinerklosters. Anschließend wurde ein neues Begräbnisgelände in Nutzung genommen, das angepachtet war (1850 von der Gemeinde erworben und vergrößert) und dann für die folgenden Jahrhunderte die verstorbenen Juden aus Grätz und dem nahen Umland aufnahm. Zu den hier Begrabenen gehören auch bekannte Persönlichkeiten, wie z.B. der Rabbiner E. Guttmacher (gest. 1875), der als Autorität in rabbinischen Fragen galt.
Taharagebäude, Friedhof in Grätz (Aufn. um 1910)
Juden in Grätz:
--- 1663 ...................... 374 Juden (ca. 28% d. Bevölk.),
--- 1765 ...................... 812 " ,
--- 1793 ...................... 1.156 “ (nahezu 50% d. Bevölk.),
--- 1800 ...................... 1.135 “ ,
--- 1820 ...................... 1.634 “ ,
--- 1834 ...................... 1.733 “ ,
--- 1850 ...................... 1.532 “ ,
--- 1871 ...................... 793 “ ,
--- 1895 ...................... 366 “ ,
--- 1905 ...................... 240 “ ,
--- 1910 .................. ca. 170 “ (ca. 3% d. Bevölk.),
--- 1921 ...................... 61 “ ,
--- 1939 .................. ca. 50 “ .
Angaben aus: Heppner/J.Herzberg, Aus Vergangenheit und Gegenwart der Juden und der jüdischen Gemeinden ..., S. 420
Annaplatz und Breite Straße in Grätz, um 1910 (Abb. aus: akpool.de)
In der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts gründeten sich in Grätz zahlreiche jüdische Vereinigungen, die meist sozialer Natur waren. Seit dieser Zeit waren auch hiesige Juden im politischen Leben der Stadt aktiv.
Der enorme Bevölkerungsrückgang der jüdischen Minderheit war Ergebnis von Ab- und vor allem der Auswanderung; um die Jahrhundertwende waren nur noch ca. 3% der Einwohnerschaft mosaischen Glaubens. Obwohl die Gemeinde weiter ausblutete und nur noch wenige Angehörige besaß, wurde noch Anfang der 1930er Jahre eine Renovierung der Synagoge vorgenommen; Jahre zuvor war seitens der Stadt bereits ein Abriss des maroden Synagogengebäudes ins Auge gefasst worden.
Die wenigen noch in Grätz verbliebenen Juden wurden nach dem Einrücken der deutschen Truppen 1939 ins benachbarte Buk und von hier aus ins Generalgouvernement deportiert. Ihr weiteres Schicksal ist nicht bekannt. Im Jahre 1940 wurden die Synagoge und der jüdische Friedhof zerstört, dessen Grabsteine für den Straßenbau benutzt.
Im nahen Młyniewo entstand während des Zweiten Weltkrieges ein Durchgangslager, anfänglich für Juden, später auch für Polen und Kriegsgefangene.
Im Jahre 1843 wurde in Grätz der später als Verleger, Geschäftsmann und Mäzen bekannt gewordene Rudolf Mosse geboren. Er begründete in Berlin den nach ihm benannten Verlag; in der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts war dieser einer der drei bedeutendsten Medienkonzerne Berlins; er gab verschiedene Zeitungen wie „Berliner Tageblatt“, „Deutsches Reichsblatt“, „Berliner Morgenzeitung“, „Berliner Volks-Zeitung“ und „Allgemeine Zeitung des Judentums“ heraus. Rudolf Mosse erwarb ein riesiges Vermögen, mit dem er eine Sammlung moderner Kunst zusammentrug und als Mäzen für karitative Einrichtungen wirkte. Im Alter von 77 Jahren starb er im Jahre 1920 auf seinem Gut Schenkendorf.
In Bentschen a.d. Obra (poln. Zbaszyn, derzeit ca. 7.300 Einw.) - ca. 20 Kilometer westlich von Grätz gelegen - existierte eine jüdische Gemeinde, die vermutlich gegen Mitte des 18.Jahrhunderts sich herausbildete. Urkundliche Hinweise auf jüdische Ansässigkeit in Bentschen reichen ins Jahr 1711 zurück, als drei Familien sich hier niederließen. Ihren zahlenmäßigen Zenit erreichte die Gemeinde in den 1830er Jahren mit mehr als 300 Angehörigen. 1845 verlor die Gemeinde ihre aus Holz gebaute Synagoge durch ein Großfeuer; wenige Jahre später wurde mit finanzieller Hilfe von Nachbargemeinden ein neues Bethaus errichtet. In den 1880er Jahren ließ man ein neues, unscheinbares Synagogengebäude erstellen.
Ein Friedhofsgelände wurde nördlich des Ortskerns angelegt.
Juden in Bentschen:
--- 1711 ..................... 30 Juden,
--- 1765 ..................... 89 “ ,
--- 1793 ..................... 146 “ ,
--- 1833 ..................... 336 “ (ca. 25% d. Bevölk.),
--- 1871 ..................... 222 “ ,
--- 1905 ..................... 111 “ ,
--- 1921 ..................... 54 “ ,
--- 1938 ................. ca. 50 “ .
Angaben aus: Heppner/J.Herzberg, Aus Vergangenheit und Gegenwart der Juden und der jüdischen Gemeinden ..., S. 300
Reichsweit wurden ungefähr 17.000 Juden polnischer Herkunft mit ihren Familien in den Morgenstunden des 28.Oktober 1938 verhaftet und mit der Bahn in Richtung Polen abgeschoben. Es gab mehrere Zielorte der Abschiebungen; der wichtigste war die polnische Grenzstation Zbaszyn (Bentschen) in der Provinz Posen. Die überraschten polnischen Grenzbehörden versuchten, die Züge abzuweisen, die Insassen wurden oft zu Fuß sieben Kilometer weit auf die grüne Grenze zugetrieben und mussten im Niemandsland ausharren, ehe sie notdürftig in einem Lager interniert wurden.
Juden bei ihrer Ankunft im Lager (Aufn. aus: yadvashem.org)
Im Laufe des Jahres 1939 durften die meisten Lagerinsassen zu Verwandten in Polen oder in andere Länder weiterreisen; Ende August wurde das Lager Zbaszyn aufgelöst, am 1. September überfiel die deutsche Armee Polen.
In den Jahren 1941-1943 war Bentschen der Standort eines Zwangsarbeiterlagers für Juden; nach dessen Auflösung wurden die Betroffenen nach Auschwitz-Birkenau verbracht.
Im Jahr 1992 wurde auf dem ehemaligen jüdischen Friedhof* eine Gedenktafel in der Form eines Grabsteins aufgestellt. * Die eigentliche Zerstörung des Friedhofs war erst in den 1970er Jahren erfolgt.
vgl. Bentschen (Posen)
Weitere Informationen:
A.Heppner/J.Herzberg, Aus Vergangenheit und Gegenwart der Juden und der jüdischen Gemeinden in den Posener Landen, Koschmin - Bromberg 1909, S. 420 - 429
Sophia Kemlein, Die Emanzipation der Juden im Großherzogtum Posen 1815 - 1848, Magisterarbeit Christian-Albrechts-Universität Kiel 1987
Elisabeth Kraus, Die Familie Mosse, C.H.Beck-Verlag, München 1999
Jerzy Tomaszewski, Auftakt zur Vernichtung. Die Vertreibung polnischer Juden aus Deutschland im Jahre 1938, Fibre-Verlag, Osnabrück, 2002
Personenliste jüdischer Bewohner von Grätz, online abrufbar unter: luckauer-juden.de/Graetz.html
Grodzisk Wielkopolski und Zbaszyn, in: sztetl.org.pl
K. Bielawski (Red.), Grodzisk Wielkopolski (jüdischer Friedhof), in: kirkuty.xip.pl
Zbaszyn - „This month in holocaust history“, in: yadvashem.org (2016)