Griesheim (Hessen)
Griesheim mit derzeit ca. 26.000 Einwohnern ist eine Stadt im äußersten Westen des hessischen Landkreises Darmstadt-Dieburg – ca. sechs Kilometer westlich von Darmstadt gelegen (Ausschnitt aus hist. Karte von 1905, aus: wikipedia.org, gemeinfrei und Kartenskizze 'Landkreis Darmstadt-Dieburg' mit Griesheim rot markiert, Hagar 2009, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 3.0).
Bis in die zweite Hälfte des 17.Jahrhunderts lassen sich in Griesheim Spuren von jüdischen Bewohnern verfolgen. Ihren Lebensunterhalt bestritten die wenigen Familien damals fast ausschließlich vom Viehhandel. Erst später verlegten sie sich vor allem auf Einzelwarenhandel sowie auf die Vermittlung von Geldgeschäften.
Seit 1812 gab es in Griesheim eine Synagoge in der Hintergasse, die in einem bereits bestehenden Fachwerkgebäude eingerichtet worden war; nach einem Umbau um 1900 verfügte der Synagogenraum über ca. 60 Männer- und 30 Frauenplätze. Seit dem ausgehenden 18.Jahrhundert besaß die Griesheimer Gemeinde einen eigenen Lehrer. Bei der Besetzung der Lehrerstelle gab es zeitweise Schwierigkeiten - vermutlich wegen der zu geringen Entlohnung (vgl. Anzeigen aus den 1860/70er Jahren). Die jüdische Schule bestand bis Anfang der 1930er Jahre.
Stellenangebot aus der Zeitschrift „Der Israelit“ vom 18.1.1865
gemeindliche Stellenangebote aus den Jahren 1865 bis 1875 (aus der Zeitschrift "Der Israelit")
weitere Stellenangebote aus der Zeitschrift „Der Israelit“ vom 6.11.1902 und vom 10.10.1907
"Warnung" des Lehrers Samuel Montag (aus: „Der Israelit“ vom 14.6.1876)
Begräbnisstätte für verstorbene Griesheimer Juden war der 1841 eröffnete israelitische Sammelfriedhof in Groß-Gerau, der von zahlreichen Gemeinden des Umlandes genutzt wurde.
Die Kultusgemeinde Griesheim unterstand dem orthodoxen Rabbinat Darmstadt II.
Juden in Griesheim:
--- 1736 .......................... 6 jüdische Familien,
--- 1823 .......................... 110 Juden,
--- 1829/30 ....................... 121 “ ,* * Kultusgemeinde Griesheim
--- 1853 .......................... 195 “ ,*
--- 1861 .......................... 174 " (ca. 5% d. Bevölk.),
--- 1867 .......................... 120 “ (ca. 4% d. Bevölk.),
--- 1880 .......................... 112 “ ,
--- 1905 .......................... 127 “ ,
--- 1910 .......................... 112 “ ,
--- 1924 .......................... 66 “ ,
--- 1933 .......................... 62 “ ,
--- 1940 (Dez.) ................... keine.
Angaben aus: Paul Arnsberg, Die Jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang - Untergang - Neubeginn, Bd. 1, S. 279
und Karl Knapp, Juden in Griesheim, in: Heimatbuch Griesheim 1991, S. 162
Darmstädter Straße, hist. Aufn, um 1910 (Stadtarchiv Griesheim)
Die Griesheimer Juden waren gegen Ende des 19.Jahrhunderts als Viehhändler, Kaufleute und Händler verschiedener Branchen (Holz, Textilien) tätig. Um 1900 gab es hier auch ein Kaufhaus und eine Seifenfabrik in jüdischem Besitz. Insgesamt lebten die jüdischen Familien in abgesicherten wirtschaftlichen Verhältnissen; fast alle hatten eigenen Immobilienbesitz.
Lehrstellenangebote von 1901 und 1904
Ein Teil der jüdischen Ortsbevölkerung wanderte nach Ende des Ersten Weltkrieges ab.
In den ersten Wochen der NS-Herrschaft machten SA-Angehörige Hausdurchsuchungen bei politischen Gegnern; in diesem Zusammenhang wurden Oppositionelle und Juden auf die Bürgermeisterei einbestellt und dort schwer misshandelt.
Während des Novemberpogroms plünderten SA-Angehörige die Synagoge, zerschlugen die Kultgegenstände und verbrannten das Inventar; der Mob zog dann durch den Ort und plünderte das jüdische Kaufhaus in der Groß-Gerauer Straße; der völlig verängstigte ältere Inhaber (Otto Löb) beging wenig später Selbstmord.
J-Kennkarte der in Griesheim lebenden Jüdin Johanna Meyer geb. Lichtenstein
Etwa ein Drittel der zu Beginn der NS-Zeit in Griesheim lebenden jüdischen Einwohner wanderte noch vor Kriegsbeginn aus, meist in die USA. Die anderen verzogen innerhalb Deutschlands; die allermeisten wurden 1942/1943 von ihren neuen Wohnorten aus „in den Osten umgesiedelt“ und kamen dort zumeist ums Leben. Die letzte Abmeldung eines jüdischen Bewohners aus Griesheim datiert vom November 1940.
Nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem/Jerusalem und des "Gedenkbuches - Opfer der Verfolgung der Juden ..." wurden nachweislich 17 gebürtige bzw. längere Zeit in Griesheim ansässig gewesene jüdische Bewohner (möglicherweise ist deren Zahl noch höher) Opfer der NS-Gewaltherrschaft (namentliche Nennung der betroffenen Personen siehe: alemannia-judaica.de/griesheim_synagoge.htm).
Eine kleine Gedenktafel am Standort der ehemaligen Synagoge - das Gebäude wurde bei einem Bombenangriff Ende August 1944 völlig zerstört - erinnert seit 1984 an die einstige jüdische Gemeinde Griesheims und ihre Angehörigen. Neben einer auf der Tafel abgebildeten stilisierten Menora lautet der Text:
Hier stand seit 1812 die Synagoge und Judenschule
1938 durch Nationalsozialisten entweiht, die Einrichtung zerstört
1944 durch Bombenangriff vernichtet
Gedenktafel (Aufn. Martin Krapp)
Auch in Griesheim erinnern sog. „Stolpersteine“ an ehemalige jüdische Bewohner; 2010 wurden die ersten beiden Steine für die Betreiber des ehem. Kaufhauses Loeb (für Ludwig und Otto Loeb) verlegt. 2018 fand im Ort letztmalig eine Verlegung statt; bis zu diesem Zeitpunkt waren ca. 40 Steine in das Gehwegpflaster eingelassen worden.
verlegt für Familie Mendel und Familie Rosenberg (Aufn. Stadt Griesheim und G., 2022, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 4.0)
Im ehemaligen jüdischen Kaufhaus Loeb an der Groß-Gerauer Straße befindet sich heute das Stadtmuseum.
links: Haus von Wolf Loeb Bildmitte (hist. Aufn. Stadtarchiv) – rechts: heute Sitz des Stadtmuseums (Stadtarchiv)
Hinweis: Im gleichnamigen nach Frankfurt/M. eingemeindeten Griesheim gab es auch eine kleine israelitische Gemeinschaft. [vgl. Bockenheim (Hessen)]
Weitere Informationen:
Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang - Untergang - Neubeginn, Societäts-Verlag, Frankfurt/M. 1971, Bd. 1, S. 279 f.
Karl Knapp, Juden in Griesheim, in: "Heimatbuch Griesheim 1991", S. 161 - 167
Heimatgeschichtlicher Wegweiser zu Stätten des Widerstandes und der Verfolgung 1933 - 1945, Hessen I: Regierungsbezirk Darmstadt, VAS-Verlag, Frankfurt/M. 1995, S. 35
Thomas Lange (Hrg.), ‘L’chajim’ - Die Geschichte der Juden im Landkreis Darmstadt-Dieburg, Hrg. Ldkr. Darmstadt-Dieburg, Reinheim 1997, S. 220
Griesheim, in: alemannia-judaica.de (mit diversen, meist personenbezogenen Dokumenten zur jüdischen Ortshistorie)
Ein Rundgang durch das alte Griesheim – mit Erläuterungen von Karl Knapp (PDF-Datei)
Mehr Stolpersteine in Griesheim, in: echo-online.de vom 21.2.2014
Peter Keller (Red.), Erinnerung an jüdische Mitbürger. STOLPERSTEINE: Am Dienstag werden 13 weitere Mahnmale vor ehemaligen Wohnorten verlegt, in: echo-online.de vom 3.9.2016
N.N. (Red.), Griesheimer Gedenkblätter in Yad Vashem. ERINNERUNGSARBEIT Arbeitsgemeinschaft Stolpersteine übergibt Schriftstücke in Israel, in: echo-online.de vom 17.11.2017
Gudrun Hausl (Red.), Weitere Stolpersteine in Griesheim gesetzt, in: echo-online.de vom 27.10.2018