Groß-Enzersdorf (Niederösterreich)

Datei:Karte A Noe GF 2017.svg Groß-Enzersdorf ist heute eine Stadtgemeinde mit derzeit ca. 12.000 Einwohnern im Bezirk Gänserndorf - knapp 20 Kilometer östlich des Zentrums von Wien im Marchfeld gelegen (Kartenskizze 'Niederösterreich' mit Bez. Gänserndorf dunkel markiert, A. 2016, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 3.0).

 

Bereits im Spätmittelalter sollen in Groß-Enzersdorf Juden ansässig gewesen sein.

Gross-Enserzerdorf, Lower Austria Georg Mätthaus Vischer.png

Statt Enzerstorff“ - Stich von Georg Matthäus Fischer, um 1670 (Abb. aus: commons.wikimedia.org, gemeinfrei)

Die Anfänge einer neuzeitlichen jüdischen Gemeinschaft lassen sich erst in den 1860er Jahren ausmachen, als jüdische Familien aus Mähren, der Slowakei, Böhmen und Galizien sich hier niederließen. Ihren Lebensunterhalt verdienten sie zumeist im Handel, nur wenige betrieben eine eigene Landwirtschaft. Für die wirtschaftliche Entwicklung von Groß-Enzersdorf spielten die jüdischen Kaufleute eine nicht zu unterschätzende Rolle; innerhalb nur weniger Jahrzehnte gelangten sie zu ansehnlichem Wohlstand; so besaßen jüdische Familien einige Immobilien.

„ ... In dieses, von einem schläfrigen Wirtschaftsgeist durchtränkte Handels- und Gewerbeleben setzten sich in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts die zugewanderten Juden mitten hinein und erzielten mit einem ertragreichen Körnerhandel bedeutende Gewinne. Sie waren nämlich von einem ganz anderen Wirtschaftsgeist durchdrungen. Die selbstherrlichen, bürgerlichen Geschäftsleute machten sich zuerst über die nicht nachlassenden Werbemethoden dieser jüdischen Zuwanderer lustig, denn sie hatten es ja in ihrer Überlegenheit nicht nötig, den Kunden nachzulaufen. Die jüdische Konkurrenz wuchs ihnen jedoch bald so über den Kopf, daß auch sie, die alten Geschäftsleute, die neuen, gewiß erfolgreichen Handelsmethoden anwenden mußten. Wir sehen also, daß das jüdische Bevölkerungselement den Anstoß zu einer größeren Beweglichkeit des Geschäfts- und Handelslebens gegeben ... hat.”

(aus: Gustav Holzmann, Festschrift zur 800-Jahr-Feier Groß-Enzersdorf und sein Lebensraum, 1960)

Dies trug dazu bei, dass Missgunst unter der einheimischen Bevölkerung wuchs; unterschwellige Spannungen und Dissonanzen im Miteinander wurden zunehmend spürbar.

                                       Zentrum von Groß-Enzersdorf (hist. Aufn.)

Mit der wachsenden Zahl der jüdischen Familien erfolgte die Gründung eines „Minjan-Vereins“, der um 1865 für die Einrichtung einer ersten Synagoge sorgte; etwa drei Jahrzehnte später erfolgte ein Synagogenneubau in der Kaiser-Franz-Josef-Straße.        

    Synagoge in Groß-Enzersdorf (Aufn. nach 1945, panoramio.com)

Ab 1908 war Groß-Enzersdorf Sitz der neu konstituierten Israelitischen Kultusgemeinde, die den gesamten Gerichtsbezirk umfasste und der Ortschaften wie Essling, Markgrafneusiedl, Leopoldsdorf, Oberhausen, Ober-Siebenbrunn, Orth und Raasdorf angehörten.

Eine eigene, von einer Ziegelmauer umgebene jüdische Begräbnisstätte - im heutigen Ortsteil Oberhausen, an der Wittauer Straße - wurde um das Jahr 1865 angelegt. Etwa ein Vierteljahrhundert später gab es im Ort ein neues Begräbnisareal der israelitischen Gemeinde.

Juden in Groß-Enzersdorf:

         --- 1890 ................... 1.116 Juden,*     * gesamter Kultusbezirk     

    --- 1932 ............... ca.   220   “  ,*

    --- 1934 ...................   123   “  ,

    --- 1938 ...................    93   “  ,

             ............... ca.   150   “  .*        

Angaben aus: Gustav Holzmann, Festschrift zur 800-Jahr-Feier Groß-Enzersdorf und sein Lebensraum

 

Nach dem sog. „Anschluss“ an das Deutsche Reich mussten die meisten jüdischen Bewohner von Groß-Enzersdorfs ihre Wohnungen verlassen und wurden nach Wien „umgesiedelt“.

Im November 1938 wurden sowohl Synagoge als auch jüdischer Friedhof zerstört bzw. stark verwüstet.

„ Gegen 3 Uhr früh wurden wir Juden unter Gepolter und Fensterklirren von einer großen Schar haßerfüllter Nazis [...] aus den Betten gerissen, worauf eine vollkommene Plünderung begann, wobei Bargeld, Schmuck und alles, was man mitnehmen konnte, gestohlen wurde. Nachher wurden wir, 81 an der Zahl, in ein Seitenzimmer des Gemeindegasthauses am Hauptplatz unter Beschimpfungen gröbster Art zusammengetrieben. [...] Ärger als Schlachtvieh lud man uns, Männer und Frauen getrennt, auf zwei Lastautos und transportierte uns über Wien in die Nähe der Ortschaft Winden am See im Burgenland. Hier lud man uns, Männer, Frauen, Kinder und Greise, Gesunde und Kranke, auf offener Straße ab, und mir wurde aufgetragen, mit der ganzen Schar weiterzumarschieren und ja nie mehr nach Groß-Enzersdorf zurückzukehren. ... In Winden wurden wir von der Bevölkerung freundlich empfangen und gut bewirtet. Nach der Rückkehr der Gendarmen brachten sie uns mit Hilfe zweier Lastautos nach Wien, ..."

(aus: Bericht von Karl Katz über die "Reichskristallnacht" in Groß-Enzersdorf, 1971)

Der letzte Kultusvorsteher, Dr. Karl Katz, wurde von der NSDAP-Ortsgruppe gezwungen, das Synagogengebäude dem Deutschen Turnerbund für „wohltätige Zwecke und für Pflege der Leibesübungen der deutschen Jugend in Groß-Enzersdorf“ zu schenken.

Fast 90 Angehörige der hiesigen jüdischen Gemeinde - das waren mehr als die Hälfte der Kultusangehörigen - kamen in den "Lagern des Ostens" gewaltsam ums Leben. Nach Kriegsende kehrte keiner der Überlebenden nach Groß-Enzersdorf zurück.

 

Anfang der 1960er Jahre wurde das ehemalige Synagogengebäude - es hatte lange Jahre als Lagerraum gedient - mit Zustimmung der Kultusgemeinde niedergelegt; die Steine wurden beim Bau von Häusern weiter verwendet. Im Jahre 1996 wurde anlässlich des 600jährigen Jubiläums der Stadterhebung von Groß-Enzersdorf am ehemaligen Synagogengrundstück eine Gedenktafel angebracht. Der Text auf der Tafel lautet: „Hier stand bis 1963 die im Jahre 1865 erbaute Synagoge. 86 Angehörige der Israelitischen Kultusgemeinde Groß-Enzersdorf starben in den Jahren 1938 – 1945 im KZ.“

Im Jahre 2020 wurde bei Erdarbeiten beim Neubau einer Wohnanlage das Untergeschoss der ehemaligen Synagoge in der Kaiser-Franz-Josef-Straße freigelegt. Da weder das Bundesdenkmalamt noch die Israelitische Kultusgemeinde in Wien Einwände gegen eine Planierung des Geländes hatten, wurden die freigelegten baulichen Relikte der Synagoge für immer zerstört.

Mit finanziellen Hilfen des Landes wurde Mitte der 1990er Jahre vom Verein „Schalom“ der jüdische Friedhof saniert. Auf dem ca. 1.200 m² großen Gelände mit seinen ca. 85 Grabstellen sind nur noch wenige Grabsteine vorhanden, da der Großteil während der NS-Zeit zertrümmert bzw. abgetragen wurde.

 Friedhof - fast ohne Grabsteine (Aufn. Lauppert, 2011, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0 at)

 

Seit 2019 werden in der Kommune „Steine der Erinnerung“ verlegt, die das Gedächtnis an die Schicksale der vertriebenen und ermordeten ehemaligen jüdischen Bewohner wachhalten sollen.

 

 

 

Weitere Informationen:

Gustav Holzmann, Festschrift zur 800-Jahr-Feier Groß-Enzersdorf und sein Lebensraum, o.O. 1960

Karl Katz, Die Israelitische Kultusgemeinde Groß-Enzersdorf, unveröffentlichtes Manuskript, Nutley/New Jersey 1967

Karl Katz, Geschichte der Juden in Gross-Enzersdorf, in: Hugo Gold (Hrg.), Geschichte der Juden in Österreich - ein Gedenkbuch, Olemanu-Verlag, Tel Aviv 1971, S. 21 - 26

Klaus Lohrmann, Die Wurzeln lebendiger Tradition - Niederösterreich im Spiegel jüdischer Friedhöfe, in: Mahnmale - Friedhöfe in Wien, Niederösterreich und dem Burgenland, Wien 1992, S. 73 f.

Elisabeth Koller-Glück, “Darob weine ich bitterlich ...” - Ein Streifzug durch Niederösterreichs jüdische Friedhöfe, in: Mahnmale - Friedhöfe in Wien, Niederösterreich und dem Burgenland, Wien 1992, S. 94 f.

Christoph Lind, “Der letzte Jude hat den Tempel verlassen ...” - Juden in Niederösterreich 1938 - 1945, Mandelbaum-Verlag, Wien 2004, S. 94 - 104

Tina Walzer, Jüdisches Niederösterreich erfahren - eine Reise durch das Weinviertel der vergangenen 150 Jahre, in: "DAVID - Jüdische Kulturzeitschrift", Heft Nr. 62 (Sept. 2004)

Christoph Lind (Bearb.), Die Zerstörung der jüdischen Gemeinden Niederösterreichs 1938 – 1945, in: H. Arnberger/C. Kuretsidis-Haider (Hrg.), Gedenken und Mahnen in Niederösterreich. Erinnerungszeichen zu Widerstand, Verfolgung, Exil und Befreiung, Mandelbaum-Verlag, Wien 2011, S. 46 ff.

Jörg Martin Sommerlechner (Projektleiter), „Das Leben der Juden in Groß-Enzersdorf“ – Ausstellung (2013)

Ulrike Potmesil (Red.), Das Leben der Juden in Groß-Enzersdorf – erinnern statt verdrängen, in: meinbezirk.at vom 15.7.2013

Ida Olga Höfler, Die jüdische Gemeinden im Weinviertel und ihre rituellen Einrichtungen 1848 – 1938/45", abgefasst in fünf Bänden, 2016 (Groß-Enzersdorf in Band 1)

Ulla Kremsmayer (Red.), Steine als Mahnmal für ermordete Juden, in: „Niederösterreichische Nachrichten“ vom 29.11.2019

Ulla Kremsmayer (Red.), Groß-Enzersdorf: Das unterirdische „Stadtl“, in: "Niederösterreichische Nachrichten"  vom 29.5.2020

Ulla Kremsmayer (Red.), Gross-Enzersdorf. Synagoge: Letzter Stein weg, in: "Niederösterreichische Nachrichten“ vom 17.7.2020

Ulla Kremsmayer (Red.), Jüdische Gemeinde in Groß-Enzersdorf: Ein Abtransport ohne Wiederkehr, in: „Niederösterreichische Nachrichten“ vom 20.11.2021