Großkrotzenburg (Hessen)
Großkrotzenburg ist eine südlich von Hanau, unmittelbar am Main gelegene Kommune mit derzeit etwa 7.500 Einwohnern im äußersten Südwesten des Main-Kinzig-Kreises gelegen (Kartenskizze 'Main-Kinzig-Kreis' ohne Eintrag von Großkrotzenburg, aus: ortsdienst.de/hessen/main-kinzig-kreis).
Juden sollen sich erstmals zu Beginn des 17. Jahrhunderts im Dorf Großkrotzenburg niedergelassen haben; die älteste vorhandene Urkunde stammt aus dem Jahre 1630. Großkrotzenburg, das jahrhundertelang zum St. Peters-Stift in Mainz und danach zu Kurhessen gehörte, beherbergte ab 1803/1815 jüdische Familien dauerhaft auf seinem Territorium.
Nachdem 1820 ein erster Bauantrag für die Errichtung einer Synagoge seitens der Kurfürstlich-Hessischen Regierung abschlägig beschieden worden war, erfolgte vier Jahre später dessen Genehmigung. 1826 wurde dann in der Steingasse das Gotteshaus errichtet bzw. eingeweiht; mit der Synagoge wurde auch eine Mikwe ihrer Bestimmung übergeben. Bereits wenige Jahrzehnte später erwies sich das Synagogengebäude als zu klein; es wurde zweimal erweitert bzw. umgebaut.
Innenraum der Synagoge (Aufn. um 1925, aus: Festschrift J. Berberich)
Für die religiösen Belange hatte die Gemeinde einen Lehrer angestellt; neben der Unterweisung der Schulkinder war er als Vorbeter und Schächter tätig. In Großkrotzenburg existierte auch über viele Jahrzehnte eine jüdische Elementarschule, die im Jahre 1933 geschlossen wurde.
1909 verstarb der seit beinahe einem halben Jahrhundert im Amt tätige Lehrer Spier; in Würdigung seiner Person erschien in der Zeitschrift „Der Israelit“ am 20.9.1909 der folgende Nachruf:
Anzeige aus der Zeitschrift „Der Israelit“ vom 6.12.1923
Der jüdische Friedhof war vermutlich in der zweiten Hälfte des 17.Jahrhunderts angelegt worden und wurde bis in die NS-Zeit hinein genutzt. Einer der ältesten Grabsteine weist die Jahresangabe 1719 auf.
Die Gemeinde gehörte zum Rabbinatsbezirk Hanau.
Juden in Grosskrotzenburg:
--- 1815 ........................... 13 jüdische Familien,
--- 1830 ....................... ca. 60 Juden (in 15 Familien),
--- 1861 ........................... 126 “ (ca. 13% d. Bevölk.),
--- 1871 ........................... 125 “ (ca. 12% d. Bevölk.),
--- 1885 ........................... 148 “ ,
--- 1895 ........................... 150 “ (ca. 11% d. Bevölk.),
--- 1905 ........................... 150 “ ,
--- 1925 ........................... 142 “ (in 35 Familien),
--- 1933 ........................... 110 “ ,* *andere Angabe: 155 Pers.
--- 1939 ........................... 24 “ ,
--- 1940 (Mai) ..................... keine.
Angaben aus: Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang - Untergang - Neubeginn, Bd. 1, S. 290
Beruflich waren die meisten Juden im Handel tätig, u.a. im Vieh- und Textilhandel; es gab aber auch Juden, die ein Handwerk betrieben.
zwei gewerbliche Anzeigen von 1900 bzw. 1903
Über das Zusammenleben zwischen Juden und Christen in Großkrotzenburg ist in der Festschrift anlässlich der Jahrhundertfeier des Synagogenbaus aus dem Jahre 1926 zu lesen:
„ ... Die Beziehungen zwischen Juden und der vornehmlich aus Katholiken bestehenden christlichen Gemeinde sind als ausgezeichnet zu betrachten, was nicht zuletzt der geschickten Führung der weltlichen Gemeinde durch Herrn Bürgermeister Noll und der taktvollen und klugen Leitung der christlichen Gemeinde durch Herrn Pfarrer Erb zuzuschreiben ist. Auf der anderen Seite darf nicht vergessen werden, daß das friedliche Nebeneinanderleben zweier Konfessionen begünstigt wird durch den toleranten Menschenschlag in Süddeutschland überhaupt und durch eine aufgeklärte Arbeiterschaft, für die das Menschentum höher steht als engstirniger begrenzter Individualismus. ...”
Bis zum Jahre 1933 lebten die Großkrotzenburger Juden „in bester Harmonie mit der christlichen Einwohnerschaft“ zusammen; jüdische Dorfbewohner waren Mitglieder in Ortsvereinen und pflegten Kontakte mit ihrer Nachbarschaft. Jüdische Geschäfte wurden auch in Großkrotzenburg boykottiert, allerdings zeitverzögert; betroffen waren Metzgereien und Bäckereien, die - aus Angst vor Repressalien - von nichtjüdischen Bewohnern weitgehend gemieden wurden.
Am 10.November 1938 setzte der Ortsbürgermeister eine Anweisung des Landrates um: Er ließ alle männlichen Juden Großkrotzenburgs festnehmen und setzte sie in der Synagoge fest, von wo aus 28 Männer ins Rathaus gebracht wurden. Anschließend mussten sie nach Großauheim marschieren; von dort erfolgte ihr Abtransport ins KZ Buchenwald. Ca. 100 ortsansässige Jugendliche und Erwachsene verübten die Gewalttaten gegen jüdisches Eigentum: sie drangen gewaltsam in die Synagoge in der Steingasse ein, zertrümmerten mit Äxten die Inneneinrichtung, warfen Thorarollen und Gebetsbücher auf den Hof und zündeten diese an. Im Anschluss daran wurden auch die angrenzende Schule und Lehrerwohnung geplündert und teilweise zerstört. Ebenfalls verwüstete der Mob Wohnungen jüdischer Einwohner. Den außerhalb des Ortes gelegenen jüdischen Friedhof schändeten und entweihten HJ-Mitglieder; sie warfen alle Grabsteine um und beschädigten diese so stark, dass die meisten zu Bruch gingen. Einem Teil der Gemeindeangehörigen gelang die Emigration; der andere verließ bis 1940 Großkrotzenburg und verzog in größere deutsche Städte. Die letzte Abmeldung eines jüdischen Einwohners erfolgte im April 1940 nach Frankfurt/Main.
Nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem/Jerusalem und des „Gedenkbuches – Opfer der Verfolgung der Juden ...“ wurden 62 gebürtige bzw. länger in Großkrotzenburg ansässig gewesene jüdische Bewohner Opfer der NS-Gewaltherrschaft (namentliche Nennung der betroffenen Personen siehe: alemannia-judaica.de/großkrotzenburg_synagoge.htm).
Wenige Jahre nach Kriegsende fand vor dem Hanauer Landgericht der Prozess gegen die Tatbeteiligten des Novemberpogroms in Großkrotzenburg statt.
Das in Privatbesitz befindliche Synagogengebäude diente bis 1947 einer gewerblichen Nutzung. Der Synagogenbau der ehemaligen jüdischen Gemeinde Großkrotzenburg wurde von Anfang der 1950er Jahre bis 1974 als evangelisches Gotteshaus benutzt. Eine Gedenktafel erinnert an die Geschichte des Gebäudes:
Immanuel-Kapelle, errichtet als Synagoge der Jüdischen Gemeinde Großkrotzenburg und im Jahre 1826 eingeweiht. Erweitert 1864 und 1900.
Zerstörung des Innenraums in der “Kristallnacht” des Jahres 1938. Danach in Privatbesitz und gewerblich genutzt. Erworben 1952 durch die evangelische Kirchengemeinde, nach Umbau als Immanuel- Kapelle eingeweiht und als evangelisches Gotteshaus genutzt bis 1974.
Seitdem im Rahmen der Denkmalspflege der Gemeinde Großkrotzenburg überlassen.
Nach zwischenzeitlicher Verwendung als Vereinsheim erwarb die Kommune das Gebäude, die es seit 1992 als Kultur- u. Begegnungstätte nutzt.
Titelblatt der 17seitigen Begleitschrift (1992)
Synagogengebäude nach der Restaurierung und Mahnmal (Aufn. Kommune Großkrotzenburg, 1994)
Heute dient das Anwesen als Gedenk- und Begegnungsstätte; der Arbeitskreis „Ehemalige Synagoge“ informiert in einer Dauerausstellung über die Geschichte der ehemaligen jüdischen Gemeinde und über das hessische Judentum.
Seit 2009 beteiligt sich auch Großkrotzenburg an der Aktion „Stolpersteine“; inzwischen findet man in den Gehwegen im Kommunalgebiet ca. 60 solcher messingfarbener Gedenkquader (Stand 2023), die Verfolgten des NS-Regimes gewidmet sind.
verlegt in der Hanauerstraße - Oberhaagstraße - Louisenstraße - Nebenstraße (Abb. der Stolpersteine siehe: kulturweg-grosskrotzenburg.de)
Auf dem mehr als 2.000 m² großen jüdischen Friedhofsgelände - außerhalb des Ortes in der Gemarkung Niederwald gelegen - findet man heute noch ca. 150 Grabsteine.
Eingang zum jüdischen Friedhof (Aufn. L., 2015, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 4.0) - Teilansicht älterer Teil (Aufn. J. Hahn, 2010)
Teilansicht - jüngerer Teil (Aufn. L., 2015, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 4.0)
Weitere Informationen:
Joseph Berberich, Die israelitische Gemeinde Groß-Krotzenburg - Festschrift zur Jahrhundertfeier des Synagogenbaus, Hanau 1926
Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang - Untergang - Neubeginn, Societäts-Verlag, Frankfurt/M. 1971, Bd. 1, S. 290 - 292
Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Bilder - Dokumente, Eduard Roether Verlag, Darmstadt 1973, S. 79
Willi Euler, Rückblick auf die jüdische Gemeinde von Großkrotzenburg, hrg. in Zusammenarbeit mit dem Heimatverein e.V. Großkrotzenburg, Großkrotzenburg 1983
Wolf-Arno Kropat, Kristallnacht in Hessen - Der Judenpogrom vom November 1938. Eine Dokumentation, in: "Schriften der Kommission für die Geschichte der Juden in Hessen X", Wiesbaden 1988, S. 95 f.
Thea Altaras, Synagogen in Hessen. Was geschah seit 1945?, 1988, S. 150
Renate Knigge-Tesche, Erinnern und Gedenken in Hessen, Hrg. Hessische Landeszentrale für politische Bildung, S. 24/25
Heinz Klab, Juden in Großkrotzenburg, in: "Freitag aktuell" (Wochenblatt) vom 9.10.1992
Michael Paap (Bearb.), Begleitschrift zur Gedenk- und Übergabefeier in der ehemaligen Synagoge der Gemeinde Großkrotzenburg am 9. November 1992, Hrg. Gemeindevorstand der Gemeinde Großkrotzenburg, Großkrotzenburg 1992
Michael Paap, Aus dem Leben der jüdischen Gemeinde, in: "Freitag aktuell" (Wochenblatt), mehrere Ausgaben des Jahres 1992
Thea Altaras, Das jüdische Rituelle Tauchbad und Synagogen in Hessen. Was geschah seit 1945?, Teil II, 1994, S. 134 - 136 (Neubearbeitung 2007)
Heimatgeschichtlicher Wegweiser zu Stätten des Widerstandes und der Verfolgung 1933 - 1945, Hessen I: Regierungsbezirk Darmstadt, VAS-Verlag, Frankfurt/M. 1995, S. 207 f.
Begleitheft für Besucher der Ehemaligen Synagoge der Gemeinde Großkrotzenburg, 2. Aufl. 1996
Großkrotzenburg mit Großauheim, in: alemannia-judaica.de (mit diversen Text- u. Bilddokumenten zur jüdischen Ortshistorie)
Arbeitskreis “Ehemalige Synagoge Großkrotzenburg” (Hrg.), Ihre Seele sei eingebunden in das Bündel des Lebens - Die jüdische Gemeinde und der jüdische Friedhof in Großkrotzenburg, Hanau 2002
Monika Pfeifer (Bearb.), Die Jüdische Gemeinde zu Großkrotzenburg, in: Monika Hölscher (Hrg.), Die ehemaligen Landsynagogen in Großkrotzenburg und Klein-Krotzenburg - Hessische GeschichteN 1933-1945, Heft 1, Wiesbaden 2012, S. 2 – 6
Monika Pfeifer (Bearb.), Die Gedenk- und Begegnungsstätte „Ehemalige Synagogen Großkrotzenburg“, in: Monika Hölscher (Hrg.), Die ehemaligen Landsynagogen in Großkrotzenburg und Klein-Krotzenburg - Hessische GeschichteN 1933-1945, Heft 1, Wiesbaden 2012, S. 8 – 11
N.N. (Red.), Zum dritten Mal „Stolpersteine“ in Großkrotzenburg verlegt, in: „Main-Echo“ vom 23.3.2013
Verlegung der "Stolpersteine" 2015, online abrufbar unter: grosskrotzenburg.de
Per Bergmann (Red.), Großkrotzenburger Holocaust-Opfer gedacht – Ausstellung in ehemaliger Synagoge, in: „Hanauer Anzeiger“ vom 21.7.2021
"Kulturweg Großkrotzenburg" (Bearb.), Stolpersteine in Großkrotzenburg, onliine abrufbar unter: kulturweg-grosskrotzenburg.de/stolpersteine-weg