Groß-Umstadt (Hessen)

  Groß-Umstadt ist eine Kommune mit derzeit ca. 22.000 Einwohnern im hessischen Landkreis Darmstadt-Dieburg – knapp 30 Kilometer östlich von Darmstadt gelegen (Ausschnitt aus hist. Karte von 1905, aus: wikipedia.org, gemeinfrei und Kartenskizze 'Gemarkung der Kernstadt', C. 2009, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0).

 

Zum ersten Mal wird ein in Umstadt lebender Jude im Jahre 1378 erwähnt. Um 1500 müssen mehrere jüdische Familie hier gelebt haben, denn aus dieser Zeit ist eine Judengasse urkundlich belegt. In den folgenden Jahrhunderten hielten sich aber immer nur sehr wenige Juden in Umstadt auf.


                                                 "Umbstatt" - Kupferstich von M.Merian, um 1645 (Abb. aus: wikipedia.org, gemeinfrei)

Eine organisierte jüdische Gemeinde entstand in Groß-Umstadt erst gegen Mitte des 19.Jahrhunderts, als infolge Zuwanderung jüdischer Familien aus Raibach - sie sahen in Groß-Umstadt bessere wirtschaftliche Möglichkeiten - ihre Zahl hier anwuchs; so waren die meisten Mitglieder der neuen jüdischen Gemeinde Groß-Umstadt also ursprünglich Raibacher Einwohner; die jüdische Gemeinde Raibach löste sich gegen Ende des 19.Jahrhunderts dann ganz auf. Nachdem die bisherige Synagoge in einen immer baufälligeren Zustand geraten war, bemühte sich die kleine Gemeinde um die Erstellung eines Neubaues. Da die finanziellen Mittel dafür nicht aus eigener Kraft aufgebracht werden konnten, richtete man Aufrufe an die jüdische Öffentlichkeit; in einem Artikel der Zeitschrift „Der Israelit“ vom 30.Jan. 1867 hieß es:

Aufruf zur Mildthätigkeit. Theure Glaubensgenossen, geliebte Brüder und Schwestern!

Unsere israel. Gemeinde befindet sich in großer Noth. Wir hatten bisher eine kleine, armselige Hütte, in welcher unsere Andachten gehalten wurden und der Lehrer höchst traurig wohnte. Jahrelang haben wir und unsere Väter uns damit gequält, jahrelang die Restauration des der Erbauung gewidmeten Hauses verschoben; aber es war nicht möglich, früher zu helfen. Alter und Gebrechlichkeit, Regen, Schnee und Sturm haben endlich das klägliche Gebäude in Trümmer geworfen - unsere Synagoge ist eine Ruine! 
Nun wollen und müssen wir bauen, wollen und müssen ein, wenn auch nur bescheidenes Haus aufrichten, das als Synagoge, Schule und Lehrer-Wohnung dienen soll. Aber unsere pekuniären Mittel, da wir nicht viele Familien und darunter viele mit geringem Vermögen sind, reichen bei weitem nicht hin, das gute Werk auszuführen. Mit Anstrengung aller unserer Kräfte haben wir selbst circa 400 Thlr. als Fundamentalsumme aufgebracht - allein nun fehlen noch 2.000 Thlr! Nun wenn unsere lieben Glaubensgenossen uns beistehen und uns nach ihren Verhältnissen milde, brüderliche Gaben spenden, nur dann werden wir unser heiß ersehntes Ziel erreichen. Theure Brüder und Schwestern! Ihr habt ja schon so oft und so vielen geholfen, o darum bitten auch wir Euch herzlich und dringend: Helfet uns ein Gotteshaus bauen. Zuversichtlich hoffen wir darauf und danken Euch ewiglich schon im Voraus dafür. Und der Herr wird's Euch vergelten. Die Gaben wolle man an den unterzeichneten Vorstand senden. 
Groß-Umstadt, Provinz Starkenburg, im December 1866.                         Der israelitische Vorstand M. Lichtenstein. Löb Kilb. 

Im Jahre 1874 weihte die jüdische Gemeinde einen Synagogenneubau ein; das Gebäude stand in einer von der Unteren Marktstraße abzweigenden Gasse und war im wesentlichen durch Spenden finanziert worden.

 

                                 Werbung für die Einweihungsfeierlichkeiten                               Synagoge Groß-Umstadt (Aufn. aus: P. Arnsberg, nach 1945)

                   Über die Einweihung der Synagoge hieß es in einem Bericht des „Odenwälder Boten” vom 23.Mai 1874:

Die israelitische Gemeinde feierte heute das Fest der Einweihung ihrer neuerbauten Synagoge: Nach einem Morgengottesdienst in der alten Synagoge bewegte sich ein Festzug - ... - mit Musik an der Spitze, nach der Synagoge, vor welcher Halt gemacht ... wurde. ...Herr Kreisrat (Küchler) gedachte der geschichtlichen Mission, welche dem israelitischen Volke geworden war, betonte die Bedeutung des neuen Gotteshauses, wünschte in warmen Worten, daß es seinem Zwecke in segensreicher Weise entsprechen möge und überreichte dann den Schlüssel an den Herrn Rabbiner, welcher die Synagoge öffnete. ... So schließen wir diesen kurzen Bericht, mit dem aufrichtigem Wunsche, daß das geweihte Gotteshaus nicht allein zur Gottesverehrung dem Namen nach, sondern vielmehr zur gewissenhaften Befolgung der Gebote Gottes auch in Werken, aneifern und so dazu beitragen möge, daß wir dem hohen Ziele allseitiger Duldsamkeit immer näher kommen.

Für die Besorgung religiös-ritueller Aufgaben der Gemeinde war zeitweise ein Lehrer in Anstellung.

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Stellenanzeigen in der Zeitschrift "Der Israelit" vom 13. Juni 1881, vom 8. Sept. 1898 u. 12.Febr. 1920

Ihre Verstorbenen begruben die Juden Groß-Umstadts auf dem jüdischen Friedhof in Dieburg.

Die Kultusgemeinde Groß-Umstadt unterstand dem orthodoxen Rabbinat Darmstadt II.

Juden in Groß-Umstadt:

         --- 1640/1690 ....................... 3 - 5 jüdische Familien,

    --- 1719 ............................  4     “         “     ,

    --- 1813 ............................ 52 Juden,

    --- 1830 ............................ 80   “  ,

    --- 1871 ............................ 77   “  ,

    --- 1900 ............................ 84   “  ,

    --- 1905 ............................ 84   “  ,

    --- 1910 ............................ 77   “  ,

    --- 1925 ............................ 82   “  ,

    --- 1933 ............................ 38   “  ,

    --- 1938 (Dez.) .....................  7   “  ,

    --- 1940 (Jan.) .....................  5   “  ,

    --- 1942 (Herbst) ...................  keine.

Angaben aus: P. Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang - Untergang - Neubeginn, Bd. 1, S. 296 f.

und                 Marianne Bucher/u.a., Groß-Umstadt - Zur Geschichte der Juden und ihrer Synagoge

 

Ihren Lebensunterhalt verdienten die Juden Groß-Umstadts im Einzelwarenhandel und im Handel mit Produkten der Landwirtschaft; einige besaßen kleine Landwirtschaften für den Eigenbedarf.

    Lehrstellenangebote von 1908/1915

Das weitestgehend protestantische Groß-Umstadt gehörte zu einer der NSDAP-Hochburgen im Odenwald. Kurz nach der NS-Machtübernahme wurden jüdische Geschäftsleute schikaniert und aus dem hiesigen Wirtschaftsleben ausgeschaltet; zugleich wurde „arischen Volksgenossen“, die weiterhin Wirtschaftsbeziehungen zu Juden unterhielten, offen gedroht.

Während des Novemberpogroms fanden auch in Groß-Umbach Gewaltakte statt; nachdem zunächst hiesige SA- bzw. NSDAP-Angehörige den Innenraum der Synagoge vollständig verwüstet, einen Teil der Inneneinrichtung und die Kultgegenstände auf dem nahegelegenen Marktplatz verbrannt hatten, richtete sich „die Volkswut“ auch gegen die Wohnungen jüdischer Einwohner, die demoliert und z.T. geplündert wurden; auch vor körperlicher Gewalt schreckte der Mob nicht zurück. Eine Brandlegung des Synagogengebäudes unterblieb, weil in der unmittelbaren Nähe mehrere Scheunen standen; das Gebäude wurde bald danach verkauft. Drei jüdische Männer wurden inhaftiert und ins KZ Buchenwald verschleppt. Nach diesen Ausschreitungen verließen die meisten der noch in Groß-Umstadt lebenden Juden ihren Heimatort; von 1934 bis 1939 waren insgesamt mehr als 50 Personen emigriert bzw. in andere Städte, zumeist nach Frankfurt/M., gezogen.

                 Aus einem Bericht der Lokalzeitung vom 1.12.1938:

Kundgebung der NSDAP - Die Judenfrage

Groß-Umstadt. Die Judenfrage steht augenblicklich im Mittelpunkt des Interesses. Auch hier in Groß-Umstadt ist mit aller nötigen Strenge eine Lösung erreicht worden ... Von einer grundlegenden Erkenntnis der Judenfrage durch alle Volksgenossen kann leider noch keine Rede sein. Einigen müssen noch die Augengeöffnet werden. Dabei muß jeder mithelfen. Zur weiteren Aufklärung wird ... eine Kundgebung der NSDAP. stattfinden, zu der ... alle Volksgenossen erscheinen sollen. ... Die Kundgebung am 8.Dezember muß ein gewaltiges Bekenntnis zu der entscheidenden innerpolitischen Tat des Führers werden.

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J-Kennkarten gebürtiger Jüdinnen Groß- u. Klein-Umstadts (ausgestellt 1938/1939)

Die letzten alten Leute, die im „Judenhaus“ an der Schulstraße wohnen mussten, wurden im Laufe des Jahres 1942 deportiert.

Nur die wenigen „in Mischehe“ verheirateten Juden wurden zunächst von einer Deportation zurückgestellt. Doch 1943 verschleppte man auch sie; ihnen gelang es zu überleben, sie kehrten nach Kriegsende nach Groß-Umstadt zurück.

Nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vaschem/Jerusalem und des "Gedenkbuches - Opfer der Verfolgung der Juden ..." wurden insgesamt 38 aus Groß-Umstadt stammende bzw. längere Zeit hier ansässig gewesene jüdische Bürger Opfer der NS-Gewaltherrschaft (namentliche Nennung der betroffenen Personen siehe: alemannia-judaica.de/gross-umstadt_synagoge.htm).

Gegen die Hauptverantwortlichen der Ausschreitungen während des Novemberpogroms fanden nach Kriegsende vor dem Landgericht Darmstadt mehrere Prozesse statt; die Angeklagten wurden zu Haftstrafen verurteilt, aber bald wieder freigelassen.

 

Das Synagogengebäude überdauerte die NS-Zeit und diente lange Jahre als Lagerraum für landwirtschaftliche Geräte.

Synagoge aus Groß-Umstadt, heute im Hessenpark 

Ehem. Synagoge im Freilichtmuseum Hessenpark (Aufn. K., 2010, aus: wikipedia.org, gemeinfrei  und  J. Hahn, 2010)

Der 1978 gegründete „Verein zur Bewahrung der Groß-Umstadter Synagoge“ wollte das Gebäude restaurieren. Das inzwischen verfallene Haus wurde aber bald darauf abgetragen und Ende der 1980er Jahre im Freilichtmuseum Hessenpark (Neu-Anspach) rekonstruiert, allerdings nicht im Originalzustand. Im Jahre 2012 wurde dann das Gebäude als zentrale "Erinnerungsstätte an das jüdische Landleben in Hessen vor dem Holocaust" eingeweiht. In Kooperation mit dem Jüdischen Museum Frankfurt am Main konnte 2016 hier eine Dauerausstellung eröffnet werden, die jüdisches Leben im ländlichen Hessen und die Geschichte des Synagogengebäudes dokumentiert.

Thorarolle aus der Groß-Umstadter Synagoge (Aufn. Bodow 2018, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 4.0)

Anm.: Im Freilichtmuseum Hessenpark wurde auch die Synagoge von Nentershausen originalgetreu wiederaufgebaut.

Im Jahre 1985 wurde in Groß-Umstadt neben dem Darmstädter Schloss eine kleine Gedenkstätte (Aufn. C., 2011, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0 und aus: schoener-reisen.at) eingeweiht, die an die einstige jüdische Gemeinde erinnert; vor einer Mauer aus Bruchsteinen steht eine schmiedeeiserne Menora. Zu beiden Seiten des Leuchters ist die folgende Inschrift zu lesen:

Zu Ehren unserer jüdischen Mitbürger und zur Erinnerung an die Synagoge,

die im Jahre 1874 erbaut und am 9.November 1938 durch Rassenwahn entweiht wurde.

Heute steht die Synagoge zur Mahnung im Hessen-Park in Neu-Anspach

und enthält eine Dokumentation über das Schicksal der Juden in unserer Heimat.

Hinter dem Mahnmal befindet sich eine Stele, auf der die Namen ehemaliger jüdischer Einwohner verewigt sind.

An elf Standorten im Stadtgebiet erinnern sog. „Stolpersteine“ an Wohnorte ehemaliger jüdischer Familien; derzeit sind es insgesamt 26 Steine (Stand 2023).

Stolpersteine Obere Marktstraße 7, Groß-Umstadt, Landkreis Darmstadt-Dieburg.jpg Stolperstein SimonLichtenstein Umstadt.jpgStolperstein EmilieLichtenstein Umstadt.jpg

verlegt in der Oberen Marktstraße und der Schulstraße (Aufn. B., 2020, aus: wikipedia.org, CCO)

 

 

 

In Raibach, einem heutigen Stadtteil Groß-Umstadts, existierte eine kleine jüdische Gemeinde bis um 1875. Die seit dem beginnenden 18.Jahrhundert hier lebenden jüdischen Familien standen unter dem Schutz der Freiherren von Reibold. In den 1830er Jahren machten die Juden im kleinen Dorf knapp 9% der Bevölkerung aus; ihre Lebensgrundlage waren Viehhandel und Handel mit Landesprodukten. Zu den gemeindlichen Einrichtungen gehörten ein Betsaal, vermutlich eine Mikwe und eine Religionsschule; die ca. zehn Familien waren finanziell kaum in der Lage, das Synagogengebäude zu erhalten, sodass es allmählich verfiel; daran konnte auch ein mehrfacher Spendenaufruf zur Sanierung des Gebäudes nichts ändern.

                                aus der Zeitschrift „Der Israelit“ (Ende Jan. 1861)

Verstorbene Juden aus Raibach wurden auf dem Dieburger Friedhof beerdigt. Mit der Abwanderung der wenigen jüdischen Familien, meist nach Groß-Umstadt, löste sich die hiesige Gemeinde um 1870/1880 auf.

 

 

 

Weitere Informationen:

Paul Arnsberg, Die Jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang - Untergang - Neubeginn, Societäts-Verlag, Frankfurt/M. 1971, Bd. 1, S. 296 – 299 und S. 306, Bd. 2, S. 151

Germania Judaica, Band III/1, Tübingen 1987, S. 476

Thea Altaras,Synagogen in Hessen. Was geschah seit 1945?, Königstein i.Ts. 1988, S.143/144 (Neubearbeitung 2007)

Thomas Lange, “L’chajim” - Die Geschichte der Juden im Landkreis Darmstadt-Dieburg, Hrg. Landkreis Darmstadt-Dieburg, 1997, S. 81 f.

Marianne Bucher/u.a., Groß-Umstadt - Zur Geschichte der Juden und ihrer Synagoge, Hrg. Verein zur Bewahrung der Groß-Umstädter Synagoge, Darmstadt (Selbstverlag) 1988 (Neuauflage 2001)

Heimatgeschichtlicher Wegweiser zu Stätten des Widerstandes und der Verfolgung 1933 - 1945, Hessen I: Regierungsbezirk Darmstadt, VAS-Verlag, Frankfurt/M. 1995, S. 36/37

Groß-Umstadt, in: alemannia-judaica.de (mit diversen Text- und Bilddokumenten zur jüdischen Ortshistorie)

Georg Brenner/ Wilfried Köbler, Sie waren Umstädter: Geschichte der jüdischen Bevölkerung in Umstadt, Raibach, Klein-Umstadt, Kleestadt und Semd, und die Geschichte des religiösen und rassistischen Antisemitismus in Deutschland, in: "Schriftenreihe des Umstädter Museums- u. Geschichtsvereins e.V.", Band 3, hrg. vom Magistrat der Stadt Groß-Umstadt, Groß-Umstadt 2010

Stadt Groß-Umstadt (Bearb.), Jüdisches Leben: Die Groß-Umstädter Synagoge – Geschichte – Stolpersteine – 9.November, online abrufbar unter: gross-umstadt.de

rj (Red.), Neun neue Stolpersteine, in: echo-online.de vom 17.2.2014

Büro für Erinnerungskultur (Hrg.), Verzeichnis Umstädter Stolpersteine (Faltblatt), 2015

Auflistung der in Groß-Umstadt verlegten Stolpersteine, online abrufbar unter: wikipedia.org/wiki/Liste_der_Stolpersteine_in_Groß-Umstadt