Groß-Zimmern (Hessen)
Groß-Zimmern mit derzeit ca. 14.700 Einwohnern ist eine Kommune im hessischen Landkreis Darmstadt-Dieburg – knapp 15 Kilometer östlich von Darmstadt gelegen (Ausschnitt aus hist. Karte von 1905 ohne Eintrag von Groß-Zimmern, aus: wikipedia.org, gemeinfrei und Kartenskizze 'Landkreis Darmstadt-Dieburg' mit Groß-Zimmern rot markiert, Hagar 2009, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 3.0).
Gegen Mitte des 19.Jahrhunderts erreichte die israelitische Gemeinde von Groß-Zimmern mit ca. 150 Angehörigen ihren personellen Zenit
Obwohl sich erst im ausgehenden 18.Jahrhundert in Groß-Zimmern eine selbstständige jüdische Gemeinde bildete, sollen sich bereits ab dem 17.Jahrhundert vereinzelt Familien in Groß-Zimmern aufgehalten haben; erstmalige Nennung eines Juden datiert aus dem Jahre 1605.
Ihre Blütezeit erlebte die jüdische Gemeinde in der Zeit des ausgehenden 18. und der ersten Hälfte des 19.Jahrhunderts. Als die Zahl der Gemeindeangehörigen schon zu sinken begann, ließ die jüdische Gemeinde auf dem Gelände der alten, abgebrochenen Synagoge in der Kreuzstraße (früher Mittelstraße) ein neues Gebäude errichten. Die im Jahre 1891 eingeweihte Synagoge bot etwa 100 Personen Platz bot. Sie unterschied sich von den umliegenden, recht schlichten Gebäuden durch eine beeindruckende Fassade.
Über die festliche Einweihung der Synagoge berichtete die Zeitschrift „Der Israelit" in ihrer Ausgabe vom 2. Juli 1891:
Groß-Zimmern, 26. Juni. Tage des Jubels und der ungetrübten Freude liegen hinter uns: Die Tage der Einweihung unserer neuerbauten Synagoge. Wenn jemals der Satz: ‘Dies ist der Tag, den der HERR gemacht hat, lasst uns jubeln und uns freuen an ihm’ seine volle Bestätigung gefunden, so war dieses bei unserem Feste der Fall. War doch endlich nach vielen Mühen und Kämpfen, nach langem Harren und Sehnen der frohe Augenblick gekommen, in welchem ein jeder freudigen Herzens sprechen konnte: "Ich freue ich über die, die zu mir sagen: laßt uns gehen zum Haus des HERRN". Was aber auch Opferwilligkeit und Hochherzigkeit zustande bringen können, das zeigt unser herrliches Gotteshaus, das in erster Linie durch die Opferwilligkeit der hiesigen Gemeindemitglieder, sowie durch großartige Beiträge edler Menschen erbaut werden konnte. Vor allen Dingen gebührt Herrn David Goldschmidt aus Frankfurt am Main, ein geborener Groß-Zimmerner, ein für alles Göttliche und Ideale begeisterter Menschenfreund, der aufrichtigste Dank, denn er ist es, der die Anregung zum Bau eines neuen Gotteshauses gab und der die Gemeinde in ihrem Unternehmen am kräftigsten unterstützte.
Aus Nah und Fern waren Fremde herbeigeeilt, um dem Feste beizuwohnen. Der Ort selbst hatte Festgewand angelegt. Ganz besonders zeichneten sich unsere christlichen Mitbürger durch Schmücken ihrer Häuser aus, wie sie überhaupt an dem ganzen Feste den regsten Anteil nahmen; gewiß ein erfreuliches Zeichen in unserer trüben Zeit. ... Hierauf erfolgte die Aufstellung des Festzuges. ... den Synagogenschlüssel dem Herrn Bürgermeister als Vertreter des Staats- und Ortsbehörde, welcher nach einigen Begrüßungsworten die Pforten öffnete, worauf unter Choralmusik der Einzug erfolgte. ... bestieg Herr Rabbiner Dr. Marx die Kanzel und hielt die in jeder Beziehung meisterhafte Festpredigt. ... Den Glanzpunkt desselben bildete die Festrede des Herrn Lehrer Spier. ... Derselbe hatte seiner Rede die Birkat Kohanim zu Grunde gelegt und wußte dieselben in sinniger Weise mit der Erziehung der Kinder zu verflechten. ... Derselbe schloß seine Predigt mit der Ermahnung zur Aufrechthaltung des Friedens, ohne welche keine Gemeinde, sei sie finanziell noch so günstig gestellt, sich segensreich entwickeln könne.
Synagogengebäude (links: Skizze Werner Roth - rechts: hist. Aufn. um 1930, Abb. aus: wikipedia.org CCO)
Zu den gemeindlichen Einrichtungen zählten auch eine Religionsschule und ein rituelles Bad.
aus der Zeitschrift „Der Israelit“ vom 31.März 1875
Als sich kein geeigneter Bewerber gefunden hatte, erhöhte man seitens der Gemeinde das Angebot mit der folgenden Annonce:
aus der Zeitschrift Der Israelit“ vom 21.Nov. 1877
Über mehr als ein halbes Jahrhundert war der Lehrer Meier Spier in der Gemeinde tätig; er war auch bei der christlichen Bevölkerung hoch angesehen. Zu seinem 50jährigen Dienstjubiläum erschien der folgende Artikel in der Zeitschrift „Der Israelit“:
Ausgabe vom 4.Oktober 1933
Verstorbene Gemeindeangehörige wurden auf dem jüdischen Verbandsfriedhof in Dieburg beerdigt; Versuche, ein eigenes Begräbnisgelände anzulegen, scheiterten.
Jüdischer Friedhof in Dieburg (Aufn. W. Roth, um 1985)
Die Gemeinde gehörte zum orthodoxen Rabbinat Darmstadt II.
Juden in Groß-Zimmern:
--- um 1770 ....................... 19 jüdische Familien,
--- 1802 .......................... 13 “ “ ,
--- 1815 .......................... 15 “ “ ,
--- 1829 .......................... 133 Juden,
--- 1867 .......................... 144 “ (ca. 5% d. Bevölk.),
--- 1880 .......................... 98 “ (ca. 3,5% d. Bevölk.),
--- 1900 .......................... 92 “ ,
--- 1910 .......................... 82 “ (ca. 2% d. Bevölk.),
--- 1925 .......................... 64 “ ,
--- 1932/33 ....................... 15 jüdische Familien,
--- 1938(Ende) .................... keine.
Angaben aus: Thomas Lange (Hrg.), ‘L’chajim’ - Die Geschichte der Juden im Landkreis Darmstadt-Dieburg, S. 25
Die zu Beginn des 20.Jahrhunderts in Groß-Zimmern lebenden Juden bestritten ihren Lebensunterhalt fast ausschließlich vom Handel: als Getreide- und Viehhändler und als Manufakturwaren- bzw. Kleinhändler.
Anzeigen jüdischer Gewerbebetriebe:
1897 1907
zwei Lehrstellenangebote von 1901 bzw.1905
Noch bis Anfang der 1930er Jahre fanden in der Groß-Zimmerner Synagoge Gottesdienste statt; als dann in den Jahren 1934/1935 die allermeisten jüdischen Familien in größere Städte, vor allem nach Darmstadt und Frankfurt/M., abgewandert waren, löste sich die Gemeinde schnell auf. Der letzte Vorsitzende der Gemeinde, Nathan Mathes, emigrierte in die USA. Beim Pogrom vom November 1938 - er fand in Groß-Zimmern erst am 10. d.M. statt - blieb das inzwischen verkaufte Synagogengebäude von NS-Brandstiftern verschont; allerdings wurde die Inneneinrichtung zerstört. Sechs jüdische Männer wurden ins KZ Buchenwald verschleppt und dort mehrere Wochen festgehalten.
Gegen Ende des Jahres 1938 lebten keine jüdischen Bewohner mehr in Groß-Zimmern.
J-Kennkarten von zwei gebürtigen jüdischen Bewohnern von Groß-Zimmern*, ausgestellt in Frankfurt/M. im Jahre 1939
Anm. Zahlreiche weitere J-Kennkarten siehe: alemannia-judaica.de/gross-zimmern_synagoge.htm
Nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem/Jerusalem und des "Gedenkbuches - Opfer der Verfolgung der Juden ..." fielen 35 gebürtige bzw. längere Zeit hier wohnhaft gewesene jüdische Bürger Groß-Zimmerns der NS-Gewaltherrschaft zum Opfer (namentliche Nennung der betroffenen Personen siehe: alemannia-judaica.de/gross-zimmern_synagoge.htm).
In den Nachkriegsjahren hat es zwei Gerichtsverfahren gegeben, bei denen Täter verurteilt wurden, die für zahlreiche Übergriffe auf Häuser, Geschäfte und Mitglieder der jüdischen Gemeinde in Groß-Zimmern verantwortlich waren.
Das nach dem Novemberpogrom als Möbellager genutzte Synagogengebäude wurde Anfang der 1970er Jahre im Rahmen der Ortssanierung abgerissen.
Seit 1986 erinnert - unweit des Standortes der einstigen Synagoge - ein Denkmal an die einstige jüdische Gemeinde (Aufn. J. Hahn, 2008).
Nach dem letzten Gemeindevorsitzenden, Nathan Mathes, wurde eine Straße benannt.
Auf private Initiative hin wurde am einstigen Wohnhaus des ortsbekannten Lehrers Meier Spier eine Gedenktafel angebracht; ebenfalls ist nach ihm eine Straße benannt.
Gedenktafel (Abb. aus: alemannia-judaica.de)
Weitere Informationen:
Paul Arnsberg, Zur Geschichte der jüdischen Gemeinde Groß-Zimmern, in: Gemeindevorstand Großzimmern (Hrg.), Groß-Zimmern - Klein-Zimmern. Beiträge zur Entwicklung in Vergangenheit und Gegenwart (anläßlich der 700 Jahrfeier), Groß-Zimmern 1976, S. 194 - 197
Thea Altaras, Synagogen in Hessen. Was geschah seit 1945?, Königstein/Ts. 1988, S. 126 - 129 (2. erw. Ausg., 2007, S. 282/283)
Studienkreis Deutscher Widerstand (Hrg.), Heimatgeschichtlicher Wegweiser zu Stätten des Widerstandes und der Verfolgung 1933 – 1945, Hessen I Regierungsbezirk Darmstadt. 1995 S. 38/39
Thomas Lange (Hrg.), ‘L’chajim’ - Die Geschichte der Juden im Landkreis Darmstadt-Dieburg, Hrg. Landkreis Darmstadt-Dieburg, Reinheim 1997, S. 93/94
Groß-Zimern, in: alemannia-judaica.de (mit diversen Dokumenten zur jüdischen Gemeindehistorie)
Manfred Göbel, Zimmerner Archivalien – Streifzug durch 100 Jahre Ortsgeschichte, Hrg. Trägerverein des Kulturzentrums Glöckelchen, 2015
Klaus Holdefehr (Red.), Manfred Göbel und Karl Rupp haben das Ende der jüdischen Gemeinde in Groß-Zimmern erforscht, in: „Echo“ vom 9.11.2017
Ursula Friedrich (Red.), Spurensuche nach jüdischem Leben in Groß-Zimmern, in: „Echo“ vom 14.10.2024