Güssing/Burgenland (Österreich)
Güssing ist eine Stadt mit derzeit ca. 3.600 Einwohnern im Süden des Burgenlandes (Lage des Burgenlandes innerhalb Österreichs, TUBS 2011, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0 und Kartenskizze 'Bezirk Güssing im Burgenland' dunkel eingefärbt, A. 2016, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 3.0).
Die Existenz einer jüdischen Gemeinde in Güssing - zunächst als Tochtergemeinde von Rechnitz - ist seit den 1730er Jahren urkundlich belegt. Die ersten Juden ließen sich vermutlich - gefördert von der Fürstenfamilie Batthyàny - in den 1680er Jahre hier nieder; möglicherweise handelte sich hier um sephardische Juden. (Anm.: Anderen Angaben zufolge sollen sich schon im 15.Jahrhundert aus der Steiermark vertriebene Juden in Güssing ansässig gemacht haben.)
Wegen „Unstimmigkeiten“ mit der Muttergemeinde Rechnitz trennten sich in den 1730er Jahren die Güssinger Juden von dieser und bildeten nun eine selbstständige Kultusgemeinde.
Gegen Mitte des 18.Jahrhunderts waren die knapp 20 jüdischen Familien im herrschaftlichen Stadtmeierhof untergekommen; gegen jährlichen Mietzins wurden ihnen hier religiös-rituelle Einrichtungen wie Synagoge, Mikwe, Rabbinerwohnung zur Verfügung gestellt. Seit 1814 diente dann ein ursprünglich als Baumwollspinnerei geplantes Gebäude als „Judenhaus“. Befand sich die erste Synagoge der Güssinger Juden im Stadtmeierhof, so ließ die Herrschaftsfamilie Batthyány mitten im Ort einen Synagogenneubau errichten, der von der Kultusgemeinde 1840 käuflich erworben wurde; ein Anbau diente als Rabbinerwohnung.
Synagoge in Güssing (hist. Aufn.)
Von 1854 bis 1910 gab es am Ort eine jüdische Volksschule, die bis zu vier Klassen umfasste. Ehe der Gemeinde um 1800 ein Beerdigungsareal im Mühlwinkel zur Nutzung überlassen wurde, hatten Verstorbene auf dem alten Friedhof beim Scheibelturm am Stadtgraben ihre letzten Ruhe gefunden. Ein Krankenunterstützungs- sowie ein Bestattungsverein gehörten zum jüdischen Gemeindeleben.
Juden in Güssing:
--- 1735 .................... 31 Juden,
--- um 1750 ................. 18 jüdische Familien,
--- um 1800 ............. ca. 275 Juden,
--- 1840 ................ ca. 520 “ ,
--- 1847 .................... 427 “ ,
--- 1857 .................... 750 “ (ca. 40% d. Bevölk.),
--- 1880 ................ ca. 270 “ ,
--- um 1895 ............. ca. 220 “ ,
--- 1910 .................... 153 “ ,* *andere Angabe: 95 Pers.
--- 1920 .................... 94 “ ,
--- 1933 ................ ca. 140 " ,
--- 1934 ................ ca. 75 “ ,
--- 1938 (März) ............. 75 “ ,** ** ca. 150 Pers. mit Jennersdorf
(Juni) ............. keine.
Angaben aus: Peter F.N. Hörz, Jüdische Kultur im Burgenland, S. 419/420
und Philip Hager, Die jüdische Gemeinde in Güssing
und vhs.a-buseiness.co.at
Güssing um 1840 – Lithographie, aus: Burgenländisches Landesarchiv
Ihren Lebensunterhalt bestritten die Juden von Güssing im 19.Jahrhundert zumeist als Kleinhändler (Hausierer) und Handwerker. Ihren Höchststand erreichte die Zahl der Gemeindeangehörigen mit ca. 750 Personen gegen Ende der 1850er Jahre. Doch schon Jahre später setzte eine starke Abwanderung in die neuen industriellen Zentren ein, was innerhalb nur weniger Jahrzehnte die Gemeinde ausbluten ließ. Obwohl die Zahl der jüdischen Bevölkerung in Güssing stark zurückgegangen war, spielten Juden in der Zwischenkriegszeit eine nicht unbedeutende Rolle: Samuel Latzer betrieb einen Ziegelofen, die jüdische Firma "Schmergel und Cohn" besaß ein Sägewerk; weiterhin gab es den Molkereibetrieb Farkas, die Fleischhauerei Samuel Heuberger, eine Gemischtwarenhandlung Weiss und das Gasthaus "Jockel-Wirt" der Familie Latzer. Zu Beginn der 1930er Jahre zählte die Kultusgemeinde nicht einmal mehr 100 Angehörige.
Über den damaligen Güssinger Rabbiner berichtete Béla Rothstein in seinen Erinnerungen wie folgt: „ … Der Güssinger Rabbiner hieß Jakob Grünfeld und war ein Mann mit schönem Äußeren und gutem Aussehen, einem langen, schönen Bart, geehrt von Juden und Nicht-Juden. Wenn Begräbnisse stattfanden, kamen mehr Nicht-Juden, immer um dem Rabbiner seine Predigt zu hören. Oder auch zu Versöhnungsabenden. Da konnten die Synagogenbesucher aus 75% Christen bestehen und nur aus einem Viertel Juden ... Das Verhältnis zwischen jüdischer und christlicher Bevölkerung war gut und freundschaftlich. Der Rabbiner und der Pfarrer pflegten brüderlichen Kontakt. Oft konnte man beide spazieren sehen durch die Straßen von Güssing: Einmal, in Deutschkreuz (nahe der ungarischen Grenze) im Burgenland, erlebte ich, als Kardinal Innitzer den Rabbiner auf Hebräisch begrüßte, worauf dieser den großen Segen in Hebräisch spendete, den der Kardinal ehrfurchtsvoll entgegennahm. ...“
Der sog. „Anschluss“ an das Deutsche Reich 1938 besiegelte schnell das Ende der jüdischen Gemeinde in Güssing. Nach Misshandlungen und Raub ihres Eigentums verließen die meisten Juden fluchtartig ihren Heimatort; die noch hier Verbliebenen wurden auf Lastwagen verladen und Richtung Ungarn/Jugoslawien abgeschoben. Bereits im Juni 1938 war Güssing „judenfrei“. Der letzte Rabbiner von Güssing war Jakob Grünfeld (geb. 1865), der seit 1895 bis zu seiner Flucht in die USA (1938) hier amtierte. Während des Novemberpogroms wurde die gesamte Einrichtung der Synagoge zerschlagen, aus dem Gebäude herausgeschleppt und verbrannt; eine Brandlegung des Baues misslang aber. Das Synagogengebäude wurde später von den Nationalsozialisten zu einer Fest- und Turnhalle umfunktioniert; Anfang der 1950er Jahre erfolgte der Abbruch des Gebäudes.
„Turn- und Festhalle“ in der NS-Zeit (hist. Aufn., aus: P. Genée, Synagogen in Österreich)
Nachweislich sind 14 Güssinger Juden dem Holocaust zum Opfer gefallen; das Schicksal weiterer 40 Personen lässt sich nicht nachverfolgen.
Am ehemaligen Standort der Synagoge - heute befindet sich hier das 1953 errichtete Rathaus - erinnert eine Gedenktafel an das einstige religiöse Zentrum der jüdischen Gemeinde.
Zum Gedenken an den Leidensweg unserer jüdischen Bürger.
Hier stand ihre Synagoge, die von den Nationalsozialisten durch Plünderung entweiht und zweckentfremdet wurde.
Die Stadtgemeinde
Auf dem ehemals großen jüdischen Friedhof im Mühlwinkel, der während der NS-Zeit geschändet wurde und heute z.g.T. überbaut ist, erinnern heute nur noch symbolische Grabsteine an das „Haus des Lebens“. Eine Gedenktafel trägt unter einer hebräischen Inschrift die Worte:
Zum Gedenken an die einst blühende Jüdische Gemeinde Güssing und ihre Mitglieder,
die in der NS-Zeit gedemütigt, beraubt und vertrieben wurden.
Viele von ihnen wurden ermordet. Wir gedenken ihrer Leiden und Opfer.
Israelitische Kultusgemeinde Graz
Im Jahre 2001 entdeckte man in Graz Grabsteine, die vom Güssinger Friedhof stammten; sie wurden an ihren alten Standort zurückgebracht.
Jüdischer Friedhof (Aufn. Clemens Pfeiffer, 2012 und S., 2016, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 3.0 bzw. 4.0)
Auf Initiative von Schülern des hiesigen Gymnasiums wurden jüngst (Nov. 2021) in der Innenstadt von Güssing zehn sog. „Stolpersteine“ verlegt, die an das Schicksal jener Menschen erinnern sollen, die während der NS-Zeit verfolgt, vertrieben, deportiert/ermordet wurden; damit ist Güssing der erste Ort im Burgenland, der am "Stolperstein"-Projekt teil nimmt
alle Aufn. Chr. Michelides, 2021, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 4.0
Weitere Informationen:
Michael Hetfleisch, Die Juden in Güssing, in: Stadtgemeinde Güssing (Hrg.), Stadterhebung Güssing, Güssing 1973, S. 215/216
Berth Rothstein, Der “Béla von Güssing” aus dem Burgenland (Österreich) erzählt seine 70jährige Lebensgeschichte, Eisenstadt 1978
Wolfgang Häusler, Probleme der Geschichte des westungarischen Judentums in der Neuzeit, in: "Burgenländische Heimatblätter", Band 42, Eisenstadt 1980, S. 69 - 100
Berth Rothstein/Béla Rothstein, Der „Béla“ von Güssing aus dem Burgenland (Österreich) erzählt seine 70jährige Lebensgeschichte (1918-1988), Frankfurt/M. 1988
Paul Hajszány, Bilder-Chronik der Stadt Güssing 1870 - 1970, Güssing 1990
Paul Hajszány, Die Juden in Güssing, Maschinenmanuskript, Güssing 1991
Ursula Linkhorst/Peter F.N. Hörz, Jüdische Kultur in Güssing, Seminararbeit am Institut für Volkskunde, Universität Wien 1991
Patricia Steines, Mahnmale: Jüdische Friedhöfe in Wien, Niederösterreich und Burgenland, Wien 1992
Pierre Genée, Synagogen in Österreich, Löcker Verlag, Wien 1992, S. 96/97
Rudolf Kropf (Hrg.), Juden im Grenzraum: Geschichte, Kultur und Lebenswelt der Juden im Burgenländisch-West-ungarischen Raum und in den angrenzenden Regionen vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Symposium im Rahmen der ‘Schlainiger Gespräche’ (1990), Eisenstadt 1993
Burgenländische Volkshochschulen (Hrg.), Zerstörte Gemeinden im Burgenland - Eine Spurensuche 2002, in: www.vhs.a-business.co.at
Peter F.N. Hörz, Jüdische Kultur im Burgenland. Historische Fragmente – volkskundliche Analysen, in: "Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Ethnologie der Universität Wien", Band 26, Wien 2005, S. 413 – 425
Gert Polster, Die Entwicklung der israelitischen Kultusgemeinden Güssing, Rechnitz und Stadtschlaining in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Das Judentum im pannonischen Raum vom 16. Jahrhundert bis zum Jahr 1914, Kaposvár 2009
Philip Halper, Die jüdische Gemeinde in Güssing. Vertreibungen, "Arisierungen" und Rückstellungen, Diplomarbeit Universität Wien 2012
Burgenländische Forschungsgesellschaft (Hrg.), Jüdische Kulturwege im Burgenland – Rundgänge durch die „Sieben Gemeinden“ (Schewa Kehillot) und die Gemeinden des Südburgenlandes, Broschüre, 1. Aufl., Eisenstadt 2016, S. 34/35, auch online abrufbar unter: forschungsgesellschaft.at
Sabine Oberhauser (Red.), Gedenken an NS-Opfer. Schulprojekt: „Stolpersteine“ für Güssing, in: „Kronen-Zeitung Burgenland“ vom 22.6.2021
N.N. (Red.), Ende kam 1938 – Wo einst das jüdische Leben blühte, in: „Kronen-Zeitung Burgenland“ vom 5.10.2021
N.N. (Red.), Erste Stolpersteine in Güssing verlegt, in: burgenland.orf.at vom 9.11.2021
Auflistung der in Güssing verlegten Stolpersteine, online abrufbar unter. wikipedia.org/wiki/Liste_der_Stolpersteine_im_Burgenland#Güssing