Jungbunzlau (Böhmen)
Der mittelböhmische Ort Jungbunzlau ist das heutige tschech. Mladá Boleslav mit derzeit ca. 44.500 Einwohnern - ca. 50 Kilometer nordöstlich von Prag gelegen (Ausschnitt aus hist. Karte mit Eintrag der Böhmischen Nordbahn, aus: wikipedia.org, PD-alt-100 und Kartenskizze 'Tschechien' mit Mladá Boleslav rot markiert, K. 2005, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 3.0).
Bis ins 16.Jahrhundert war die Bevölkerung Jungbunzlaus rein tschechisch; danach zogen deutsche Handwerker und jüdische Händler zu, die schließlich ein Zehntel der Bevölkerung ausmachten. Von Mitte des 15. bis Anfang des 17. Jahrhunderts war die Stadt kultureller Mittelpunkt des Königreiches Böhmen - verwurzelt im böhmischen Protestantismus, repräsentiert durch die Böhmische Brüdergemeinde.
Die jüdische Gemeinde in Jungbunzlau gehörte zu einer der ältesten Gemeinden in den böhmischen Landen. Ihre Geschichte begann bereits im 15.Jahrhundert - erstmals bezeugt 1471. Das "Judenviertel" lag nahe der Stadtmauer, in der späteren Dekanatstraße; hier befanden sich auch die Synagoge (erstmals erwähnt 1579), der Friedhof und das Spital. Die jüdischen Bewohner betätigten sich im Geldhandel, aber auch im Handwerk und Warenhandel. Handelsprivilegien waren ihnen mehrfach, so 1494 und 1504, durch die Stadtherren garantiert worden. Trotz Beschuldigung der Juden, die Pest in die Stadt gebracht zu haben, fand 1522 in Jungbunzlau keine Verfolgung statt. Um 1700 war jeder zweite Bewohner Jungbunzlaus mosaischen Glaubens.
Blick auf Jungbunzlau - Stich Jan Willenberg, um 1600 (Abb. aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 3.0)
Die Stadt war ein bedeutendes Zentrum jüdischer Gelehrsamkeit und hebräischer Buchdruckerkunst; deshalb wurde sie mancherorts auch „Jerusalem an der Iser“ genannt. Nach einem Stadtbrand im späten 17.Jahrhundert, der auch Teile des jüdischen Viertels samt der Synagoge zerstörte, ließ die jüdische Gemeinde eine neue Synagoge erbauen, die als Vorbild die Meisl-Synagoge in Prag hatte.
Synagoge in Jungbunzlau (hist. Aufn.)
Ein Großbrand zerstörte 1859 das Bunzlauer Ghetto fast vollständig; die Synagoge soll das Feuer überstanden haben.
Das älteste lesbare Grabmal auf dem alten jüdischen Friedhof stammt aus dem Jahre 1604; erstmals urkundlich erwähnt wurde die Begräbnisstätte 1471 bzw. 1584. Die Errichtung eienr Zeremonienhalle geht auf das Jahr 1889 zurück.
Juden in Jungbunzlau:
--- 1570 ............................ 17 jüdische Familien,* *andere Angabe: 11 Familien
--- 1592 ............................ 135 Juden,
--- um 1620 ..................... ca. 25 jüdische Familien,
--- 1687 ............................ 775 Juden (ca. 50% d. Bevölk.),
--- 1793 ........................ ca. 600 " ,
--- 1834 ........................ ca. 790 “ ,
--- 1880 ............................ 845 “ (ca. 9% d. Bevölk.),
--- 1890 ........................ ca. 690 " (ca. 6% d. Bevölk.),
--- 1900 ............................ 566 “ (in ca. 130 Familien),
--- 1910 ............................ 400 “ (ca. 3% d. Bevölk.),
--- 1921 ............................ 419 “ ,
--- 1930 ............................ 265 “ (ca. 1% d. Bevölk.),
--- 1939 ........................ ca. 180 " .
Angaben aus: Institut Theresienstädter Initiative (2005)
Jungbunzlau - Stich, um 1835 (Abb. aus: wikipedia.org, gemeinfrei)
Anfang der 1920er Jahre richtete man in der Stadt ein jüdisches Museum ein; dessen Ausstellungsobjekte wurden später in das Zentrale Jüdische Museum Prag überstellt.
Die deutsche Besetzung während des Zweiten Weltkrieges besiegelte das Ende der jüdischen Gemeinde. Anfang Juni 1942 wurden die Juden Jungbunzlaus und die aus der Region im alten Schloss zusammengezogen; von hier aus wurden mehr als 1.000 Personen im Januar 1943 nach Theresienstadt deportiert, die meisten anschließend nach Auschwitz-Birkenau verfrachtet. Die bislang von der Deportation zurückgestellten und die „in Mischehe“ lebenden Juden aus Jungbunzlau mussten 1944 den Weg in die Deportation antreten. Nur 40 Personen sollen die Shoa überlebt haben.
Nach Kriegsende gründete sich in der Stadt wieder eine kleine israelitische Gemeinschaft, die aber schon in den 1950er Jahren sich wieder auflöste. Die Reste des jüdischen Viertels, dazu zählte auch die Synagoge, wurden Ende der 1950er/Anfang der 1960er Jahre abgerissen. Erhalten geblieben sind große Teile des jüdischen Friedhofs, der zu den besterhaltenen Tschechiens zählt. Unter den vorhandenen ca. 1.400 Grabsteinen/-stelen ist eines der schönsten Grabmale das des 1634 gestorbenen „Hofjuden“ Jacov Baschewi von Treuenberg; er machte Geschichte als Finanzier habsburgischer Kaiser und Wallensteins. Jacov Baschewi war der erste Jude in Österreich, der in den Adelsstand erhoben wurde.
Aufn. Fet'our, 2012, aus: wikipedia.org, CCO
alte Gräber (Aufn. aus: metalovacesta.cz) Jüdische Begräbnishalle (Aufn. Fet'our, 2012, aus: wikipedia.org, CCO)
Vor der Friedhofsmauer befindet sich heute eine aus Metall bestehende, sehr eigenwillig gestaltete Skulptur, die auf den jüdischen Friedhof hinweist.
Skulptur (Aufn. aus: metalovacesta.cz)
Die tschechische Stadt Mladá Boleslav nimmt auch am sog. „Stolperstein“-Projekt teil.
"Stolpersteine" (Aufn. Chr. Michelides, in: wikipedia.org, CC BY-SA 4.0)
1852 wurde der Textil-Großindustrielle Alois Neumann in Jungbunzlau geboren. Nach dem Tode seines Vaters übernahm er zusammen mit seinen beiden Brüdern das väterliche Unternehmen (Wollweberei u. Baumwollspinnereien) und vergrößerte es ständig; Niederlassungen bzw. Agenturen bestanden in ganz Europa. Alois Neumann engagierte sich auch politisch. 1914 verstarb er in Reichenberg.
Alfred Meissner wurde 1871 in Jungbunzlau geboren. Nach seinem Jura-Studium in Wien und Prag war er zunächst als Rechtsanwalt tätig. Als führendes Mitglied der Sozialdemokratie in der Tschechoslowakei war er von 1920 bis 1934 Justizminister, danach leitete er das Ministerium für Soziales. Auf Grund seiner jüdischen Herkunft wurde er 1942 mit seiner Ehefrau nach Theresienstadt deportiert. Im Ghetto gehörte er dem Ältestenrat an. Er war Mitunterzeichner des Aufrufes an die Theresienstädter Häftlinge vom Mai 1945. Alfred Meissner kehrte im Sommer 1945 nach Prag zurück; hier starb er fünf Jahre später.
Nur wenige Kilometer nördlich von Jungbunzlau liegt die Ortschaft Münchengrätz (tsch. Mnichovo Hradiště, derzeit ca. 8.500 Einw.), in der sich vermutlich gegen Ende des 17./Anfang des 18.Jahrhunderts eine jüdische Gemeinde bildete; aus dieser Zeit stammt auch der Friedhof. Um 1840 erreichte die Zahl der Gemeindeangehörigen mit ca. 180 Personen ihren höchsten Stand; gegen Ende des 19.Jahrhunderts setzte die Abwanderung der jüdischen Familien in größere Städte ein. Vor dem Ersten Weltkrieg zählte die Gemeinde keine 100 Angehörige mehr. Die letzten im Ort verbliebenen wurden unter der NS-Besatzung deportiert.
Derzeit (2023) sind Überlegungen angestellt, den jüdischen Friedhof wieder ins Bewusstsein der Öffentlichkeit zu bringen, indem man versucht, das unter dem kommunistischen Regime in den 1980er Jahren eingeebnete Gelände wieder als ehemalige jüdische Ruhestätte sichtbar zu machen.
Münchengrätz ist die Geburtsstadt des Schriftstellers und Publizisten Leopold Kompert (1822-1886); er galt am Ende des 19.Jahrhunderts als Vorbild einer neuen Erzählgattung, der sog. Ghetto-Literatur. Kompert selbst durchlebte eine für Bewohner des damaligen Ghettos beispielhafte Sozialisation: Er wuchs in der traditionell jüdischen Kultur auf, konnte aber im Zuge der Liberalisierung einen humanistischen Bildungsweg einschlagen. In seinen Erzählungen vermittelte Kompert ein authentisches Bild jüdischen Lebens in Böhmen. Zu seinen seit 1848 entstandenen Werken zählen „Aus dem Ghetto“ (1848), „Böhmische Juden“ (1851), die Romane „Am Pflug“ (1855), „Zwischen Ruinen“ (1875), „Franzi und Heini“ (1881) u.a. Leopold Kompert starb 1886 in Wien.
Seine Grabstätte und die seiner Frau findet man auf dem jüdischen Friedhof in Wien (Aufn. P., 2017, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0).
Im Landstädtchen Unter-Zetno (tsch. Dolni Cetno, derzeit kaum mehr als 100 Einw.) - knapp zehn Kilometer südwestlich von Jungbunzlau - ist jüdische Ansiedlung seit dem späten 18.Jahrhundert bekannt. Um 1850 zählte die jüdische Minorität etwa 100 Personen; zu Beginn des 20.Jahrhunderts war ihre Zahl bereits bedeutungslos geworden.
Die jüdische Gemeinde besaß auch ein schlichtes Synagogengebäude (hist. Aufn., um ?), das bereits seit Jahrzehnten zu Wohnzwecken genutzt wird. Vom kleinflächigen jüdischen Friedhof, dessen Anlage in den späten 1860er Jahren erfolgte, sind neben einem Taharahaus nur noch spärliche Relikte vorhanden.
von Vegetation überwachsenes Friedhofsgelände und Taharahaus (Aufn. Fet'our, 2012, aus: wikipedia.org, CCO)
In Melnik (tsch. Melník, derzeit ca. 19.500 Einw.) - in Zentralböhmen ca. 35 Kilometer westlich von Jungbunzlau gelegen - bildete sich eine neuzeitliche jüdische Gemeinde gegen Mitte des 19.Jahrhunderts. Die früheste dokumentierte Erwähnung jüdischer Ansiedlung erfolgte aber bereits 1402; allerdings war es in den Folgejahrhunderten Juden nicht erlaubt, dauerhaft in Melnik zu wohnen. Anfang der 1870er Jahre erreichte die Zahl der Gemeindeangehörigen fast 200 Personen. Seit 1862 besaß die Judenschaft Melniks ein eigenes Synagogengebäude; zwei Jahrzehnte später wurde in unmittelbarer Nähe auch ein Friedhof angelegt. Um 1930 gehörten der Gemeinde nur noch ca. 85 Personen an. Während der deutschen Okkupation wurden die hier verbliebenen Juden nach Theresienstadt deportiert; von hier aus führte ihr Weg zumeist in die Vernichtungslager. Von den 83 Melniker Juden haben nur fünf die NS-Zeit überlebt.
In jüngster Zeit wurde in Melnik eine kleine Gedenkstätte, die an die Synagoge und an die ehemalige jüdische Gemeinde erinnern soll, eingerichtet.
Auch das in den vergangenen Jahrzehnten in Vergessenheit geratene, von der Vegetation überwucherte jüdische Begräbnisgelände mit derzeit ca. 130 Gräbern, aber nur noch ca. 20 verbliebenen Grabsteinen in allerjüngster Zeit wieder in einen ansehbaren Zustand versetzt.
Jüdischer Friedhof Melnik (Aufn. Jitka Erbenová, 2012, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 3.0
In Neratowitz (tsch. Neratovice, derzeit ca. 16.000 Einw.) – ca. 15 Kilometer südlich von Melnik – erinnern seit 2010 mehrere sog. “Stolpersteine“ an Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.
verlegt für Angehörige der Fam. Heller (Aufn. Chr. Michelides, in: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 4.0)
Weitere Informationen:
Moritz Grünwald, Zur Geschichte der Juden in Jungbunzlau, in: "Zeitschrift für die Geschichte der Juden in Deutschland", Jg. 1/1887, No. 4, S. 387/388
Moritz Grünwald, Jungbunzlauer Rabbiner, in: "Jüdisches Zentralblatt" 1888
A.E. Goldmann (Bearb.), Geschichte der Juden in Jungbunzlau, in: Hugo Gold (Hrg.), Die Juden und Judengemeinden Böhmens in Vergangenheit und Gegenwart, Brünn/Prag 1934, S. 212 – 221
Germania Judaica, Band III/1, Tübingen 1987, S. 598/599
Jiri Fiedler, Jewish sights in Bohemia and Moravia, Prag 1991, S. 118 - 120
The Encyclopedia of Jewish Life before and during the Holocaust (Vol. 2), New York University Press, Washington Square, New York 2001, S. 807
The Jewish Community of Mlada Bolelav (Jungbunzlau), Hrg. Beit Hatfutsot – The Museum of the Jewish People, online abrufbar unter: dbs.bh.org.il/place/mlada-boleslav
Jewish Families from Mladá Boleslav (Jungbunzlau), Bohemia, Czech Republic, online abrufbar unter. geni.com/projects/Jewish-Families-from-Mlad%25C3%25A1-Boleslav-Jungbunzlau-Bohemia-Czech-Republic/13969
Auflistung der in Mladá Boleslav (Jungbunzlau) verlegten Stolersteine, onine abrufbar unter: wikipedia.org/wiki/Liste_der_Stolpersteine_in_Mladá_Boleslav
Auflistung der in Neratovice verlegten Stolpersteine, online abrufbar unte: wikipedia.org/wiki/Liste_der_Stolpersteine_in_Neratovice
Maria Hammerich-Maier (Red.), Der Jüdische Friedhof von Mladá Boleslav, in: radio.cz vom 17.5.2019
Kateřina Čapková /Hillel J. Kieval (Hrg.), Zwischen Prag und Nikolsburg. Jüdisches Leben in den böhmischen Ländern, in: "Veröffentlichungen des Collegium Carolinum", Band 140, München 2020, u.a. S. 38
Till Janzer/Radek Duchon (Red.), Stadt Mnichovo Hradiště erneuert früheren jüdischen Friedhof, in: Radio Prag International vom 4.7.2023