Haldensleben/Ohre (Sachsen-Anhalt))
Haldensleben bestand ursprünglich aus zwei Siedlungen: aus dem Burg- und Klosterdorf Althaldensleben und der Marktsiedlung Neuhaldensleben; beide Orte wurden 1938 vereinigt. Das derzeit ca. 19.000 Bewohner zählende Haldensleben - nordwestlich der Landeshauptstadt Magdeburg gelegen - ist heute die Kreisstadt des Landkreises Börde (topografische Karte 'Magdeburger Börde', aus: commons.wikimedia.org, gemeinfrei und Kartenskizze 'Landkreis Börde', aus: ortsdienst.de/sachsen-anhalt/boerde).
In der zwischen Altmark und Magdeburger Börde gelegenen Ortschaft Haldensleben hielten sich bereits seit 1326 Juden auf, die vor allem im Geldhandel tätig waren. Während der Pestpogrome scheinen sie nicht vertrieben worden zu sein; doch seit dem Anfang des 15.Jahrhunderts gibt es keine urkundlichen Belege für jüdisches Leben am Ort; es kann davon ausgegangen werden, dass sich jahrhundertelang keine Juden in Haldensleben angesiedelt haben.
Alt-Haldensleben - Stich um 1835 (Abb. aus: wikipedia.org, gemeinfrei)
Erst in der napoleonischen Zeit gibt es wieder Hinweise auf jüdische Einwohner in Haldensleben; im Jahre 1808 (oder 1811) gründete sich hier eine Kultusgemeinde. 1822 weihte die etwa 70 Seelen umfassende Gemeinde ihre schlichte Synagoge in der Neuhaldenslebener Steinstraße ein; der Magdeburger Rabbiner Isaak Heilbronn leitete damals das Zeremoniell. Ob es bereits in den Jahren zuvor einen gottesdienstlichen Raum gab, ist nicht eindeutig nachweisbar, doch sehr wahrscheinlich. Ein gemeindeeigenes Schulgebäude existierte in Haldensleben nicht; der jüdische Religions- und Hebräischunterricht fand in der „Knaben-Volksschule“ statt.
Auf dem Trendelberge - weit vor den Toren der Kleinstadt gelegen - bestand seit 1808 (andere Angabe: 1811) eine Begräbnisstätte für die verstorbenen Juden der Haldenslebener Gemeinde.
Jüdischer Friedhof (Aufn. Olaf Meister, 2010, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0)
Zur jüdischen Gemeinde zählten auch die wenigen Juden aus Hötensleben und Alvensleben.
Juden in Haldensleben:
--- 1808 ........................... eine jüdische Familie,
--- 1822 ........................... 72 Juden,
--- 1848 ........................... 68 “ ,
--- 1862 ........................... 89 “ ,
--- um 1870 ........................ 102 “ ,
--- 1892 ........................... 45 “ ,
--- 1905 ........................... 16 “ ,
--- 1910 ........................... 14 “ ,
--- 1928 ........................... 15 “ ,
--- 1933 ........................... 8 “ ,
--- 1934 ........................... 4 “ ,
--- 1942 (Dez.) .................... keine.
Angaben aus: Detlev Engelcke, Die Geschichte der Juden in Haldensleben, S. 18 - 20
hist. Ansicht, um 1900 (aus: wikipedia.org, gemeinfrei)
Ihren personellen Höchststand erreichte die Kultusgemeinde mit ca. 100 Gemeindemitgliedern zwischen 1865/1875. Sie war damit - nach Magdeburg und Halberstadt - die drittgrößte Gemeinde im Regierungsbezirk Magdeburg. Doch bereits wenige Jahre später wanderten vermehrt jüdische Familien aus der Kleinstadt ab, was die Gemeinde deutlich schrumpfen ließ. Ihren Lebenserwerb bestritten die Haldenslebener Juden vor allem als selbstständige Geschäftsleute und Handwerker.
Bereits 1907 gab die jüdische Restgemeinde das inzwischen baufällig gewordene Synagogengebäude auf; ab den 1950er Jahren wurde es von der Neuapostolischen Kirchengemeinde genutzt. 1928 löste sich die Gemeinde offiziell auf.
Zu Beginn der NS-Zeit lebten nur noch acht jüdische Einwohner in der Stadt. Dennoch wurde auch hier der Boykott durchgeführt, wie in einer Beilage zum „Wochenblatt” am 1.4.1933 deutlich wird:
Der Boykott in Neuhaldensleben
Warnposten vor den jüdischen Geschäften - Das Gewerkschaftshaus besetzt
Der von der Reichsleitung der NSDAP angeordnete Boykott jüdischer Geschäftsleute, Ärzte und Rechtsanwälte hat, wie im ganzen Reich so auch in Neuhaldensleben schlagartig um 10 Uhr eingesetzt. SA-und SS-Leute bezogen um diese Zeit vor den Geschäftslokalen Gropa und Leona Posten. ... Die SA-Leute versuchten, die wenigen Kauflustigen in ihrem Sinne aufzuklären und von dem Kauf abzuhalten. Vor der Wohnung des Kreisarztes Eliassow nahmen ebenfalls Boykott-Posten Aufstellung. Die Durchführung des Boykotts ist bis jetzt vollständig ruhig verlaufen. Nur ganz vereinzelt wird in den jüdischen Geschäften gekauft. ...
Der letzte jüdische Bewohner Haldenslebens beging einen Tag vor seiner bevorstehenden Deportation im Dezember 1942 Selbstmord.
Seit 1988 erinnert ein Gedenkstein auf dem wiederhergerichteten jüdischen Friedhof unweit der Bornschen Straße an die ehemaligen jüdischen Bewohner des Ortes; auf dem ca. 1.200 m² großen, mit einer Backsteinmauer umgebenen Areal findet man heute noch ca. 50 Grabsteine.
Jüdisches Friedhofsgelände (Aufn. Olaf Meister, 2010, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0)
2002 übernahm der hiesige Landkreis das inzwischen vom Verfall bedrohte Synagogengebäude; es wurde dem Museum Haldensleben angegliedert. Nach der Sanierung des Gebäudes wurde es im Frühjahr 2007 als „Haus der anderen Nachbarn“ der Öffentlichkeit übergeben.
Ehem. Synagoge (Aufn. Olaf Meister, 2007, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0)
In Haldensleben wurden 2017 die ersten beiden sog. „Stolpersteine“ verlegt; 2020 kam ein weiterer hinzu.
Aufn. D. Krasper, 2020, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 4.0
In Hötensleben, einer kleinen Kommune etwa zwölf Kilometer südlich von Helmstedt und heute zur Verbandsgemeinde Obere Aller gehörig, wurden 2014 am Steinweg drei sog. „Stolpersteine“ verlegt, die an die jüdische Familie Jaeckel (sie wohnte am Ort bis 1939) erinnern. 2022 kam ein weiterer Stein hinzu.
Weitere Informationen:
Detlev Engelcke, Die Geschichte der Juden in Haldensleben. Anfang und Ende einer ausgelieferten Minderheit, im Auftrag der Synagogengemeinde Magdeburg, Magdeburg 1989
M.Brocke/E.Ruthenberg/K.U.Schulenburg, Stein und Name. Die jüdischen Friedhöfe in Ostdeutschland (Neue Bundesländer/DDR und Berlin), in: "Veröffentlichungen aus dem Institut Kirche und Judentum", Hrg. Peter v.d.Osten-Sacken, Band 22, Berlin 1994, S. 402 - 404
Landesverband Jüdischer Gemeinden Sachsen-Anhalt (Hrg.), Geschichte jüdischer Gemeinden in Sachsen-Anhalt - Versuch einer Erinnerung, Wernigerode 1997, S. 132 - 135
Detlev Engelcke, Haldensleben, in: Jutta Dick/Marina Sassenberg (Hrg.), Wegweiser durch das jüdische Sachsen-Anhalt, Verlag für Berlin-Brandenburg, Potsdam 1998, S. 92 - 97
Holger Brülls, Synagogen in Sachsen-Anhalt, Arbeitsberichte des Landesamtes für Denkmalpflege in Sachsen-Anhalt 3, Verlag für Bauwesen, Berlin 1998, S. 92 – 95
Ulrich Hauer, Von der Synagoge zum „Haus der anderen Nachbarn“. Konzeption zur musealen Nutzung der ehemaligen Synagoge von Haldensleben, 2004
Mathias Köhler, Denkmalverzeichnis Sachsen-Anhalt, Band 10.1, Ohrekreis (I), Altkreis Haldensleben. Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt, 2005, S. 111 (betr. Friedhof Haldensleben)
Ronny Schoof (Red.), Nur der Kopf stolpert, die Füße polieren blank, in: volksstimme.de vom 24.4.2014 (betr. Stolpersteine in Hötensleben)
Alexander Rekow (Red.), Stolpersteine in Haldensleben verlegt, in: volksstimme.de vom 25.3.2017
Auflistung der Stolpersteine in Haldensleben, online abrufbar unter: wikipedia.org/wiki/Liste_der_Stolpersteine_in_Haldensleben
Johannes Vetter (Red.), Spärliche Spuren jüdischen Lebens, in: volksstimme.de vom 21.10.2019
Carina Bosse (Red.), Stolpersteine. Dunkles Kapital in leichter Sprache, in: volksstimme.de vom 16.11.2020