Harburg-Wilhelmsburg (Hamburg)
Harburg ist ein an der Süderelbe gelegener Stadtteil im Südwesten des Hamburger Stadtstaates (Skizze 'Hansestadt Hamburg' mit Harburg-Wilhelmsburg rot markiert, F. 2008, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 3.0).
Harburg (Harborg) - Grenzstadt an der Elbe zu Hamburg, um 1650 (Quelle: "Theatrum orbis terrarum, sive, Atlas novus" von Willem Janszoon und Joan Blaeu, aus: wiiki-de.genealogy.net/)
Ein sicheres Zeugnis für dauerhafte Ansässigkeit aschkenasischer Juden in Harburg liegt aus dem Jahre 1610 vor, als Herzog Wilhelm von Braunschweig-Lüneburg zwei Juden mit je einem Schutzbrief ausstattete, der ihnen den Zuzug nach Harburg gewährte. In der Folgezeit lebten nur vereinzelt Familien im Ort, die neben dem „Zuzugsgeld“ relativ hohe Schutzgelder bezahlen mussten; von einer organisierten Gemeinde kann im 17./18.Jahrhundert nicht gesprochen werden.
Eine jüdische Begräbnisstätte in Harburg ist seit Beginn des 17.Jahrhundert nachweisbar; sie befand sich am Fuße des Harburger Schwarzenbergs (heute Schwarzenbergstraße). Für deren Nutzung mussten alle Harburger Juden eine festgelegte Abgabe zahlen, dazu kam eine individuelle Gebühr für jede Beerdigung. Die Harburger Begräbnisstätte diente auch Verstorbenen aus Winsen/Luhe, Tostedt und zeitweilig auch aus Lüneburg als "Guter Ort". Bei Schanzarbeiten französischer Truppen wurde der Friedhof 1813 verwüstet, so dass er später neu angelegt werden musste. 1857 wurde ein Taharahaus errichtet. Der jüdische Friedhof wurde bis 1936 genutzt.
Die neue Harburger Synagoge in der Eißendorfer Straße – ein Gebäude aus gelben Klinkern mit schwarzem Schieferdach - wurde im Mai 1863 eingeweiht; der recht aufwändige Bau dokumentierte Wohlstand und Finanzkraft der damaligen Gemeinde.
Synagoge um 1890 (Abb. aus: wikipedia.org, gemeinfrei) und Frontseite der Synagoge (hist. Bauzeichnung)
Juden in Harburg-Wilhelmsburg:
--- 1610 ........................... 2 jüdische Familien,
--- 1855 ........................... 109 Juden,
--- 1864 ........................... 175 “ ,
--- 1885 ........................... 223 “ ,
--- 1905 ........................... 351 “ ,
--- 1933 ........................... 315 “ ,
--- 1936 ........................... 192 “ .
Angaben aus: The Encyclopedia of Jewish Life before and during the Holocaust (Vol. 1), S. 498
Blick auf Harburg, 19.Jahrh. (Abb. aus: wikiwand.com/de/Hamburg-Harburg)
Ein Großteil der Harburger Juden betrieb Einzelhandelsgeschäfte, vornehmlich im Konfektionsbereich; andere betätigten sich im Großhandel. Die bekannte Phoenix AG ging auf die Gründung der Gebrüder Cohen im Jahre 1856 zurück.
1937 zählte die Harburger Synagogengemeinde nur noch etwa 150 Mitglieder; da zudem die wohlhabenderen Familien in die Emigration gegangen waren, geriet die Gemeinde in finanzielle Schwierigkeiten und fusionierte mit den jüdischen Gemeinden von Hamburg und Wandsbek. Gottesdienste in der Harburger Synagoge fanden ab 1936 nicht mehr statt. Der letzte Rabbiner der Harburger Gemeinde, Alfred Gordon (er wurde 1941 ins Ghetto Lodz deportiert) verfasste 1933 die Worte: „Es ist eine große Angst in uns eingezogen; die materielle Basis unseres Lebens scheint uns bedroht, die seelische Not ist fast noch größer. Und dennoch, liebe Brüder, liebe Schwestern, in den ungeheueren Geschehen unserer Zeit darf das Schicksal der Einzelnen, ja einer Gruppe nicht im Vordergrund stehen.“
Am Abend des 9.November 1938 kam es in Harburg zunächst ‚nur’ zur Zertrümmerung einiger Schaufensterscheiben des am Sand gelegenen Geschäfts der Familie Laser; einen Tag später setzten dann NSDAP-, SA- und HJ-Angehörige ihr Zerstörungswerk fort und demolierten die Synagoge, die Leichenhalle auf dem jüdischen Friedhof am Schwarzenberg und zahlreiche jüdische Geschäfte in Harburg. In der Lokalpresse hieß es zu den Ausschreitungen:
Volkskundgebungen gegen den jüdischen Meuchelmord
... Auch in Hamburg und im Stadtteil Harburg kam die Entrüstung über dieses Verbrechen jüdischen Hasses deutlich zum Ausdruck. Eine Volksmenge hatte sich zusammengefunden, um in aller Oeffentlichkeit die Solidarität aller Deutschen in der Verurteilung dieses neuen schmachvollen Verbrechens zu bekunden. Vor den noch unter jüdischer Führung stehenden Geschäften und der Synagoge sowie der Grabkapelle auf dem Schwarzenberg hatte sich eine größere Menschenmenge eingefunden, die ihrem Abscheu drastischen Ausdruck verlieh. Es ist der dem deutschen Volke im nationalsozialistischen Staate anerzogenen Disziplin zu danken, daß größere Ausschreitungen vermieden wurden. Immerhin dürften auch die Juden in Hamburg und im Stadtteil Harburg nunmehr erfahren haben, daß es mit der Geduld des deutschen Volkes zu Ende ist. ...
(aus: „Harburger Anzeigen und Nachrichten“ vom 11.11.1938)
In einem Urteil eines Nachkriegsprozesses (1949) gegen die Synagogenschänder wurde folgendes konstatiert:
„ ...Auch bei den größeren jüdischen Geschäften im Geschäftsviertel im Stadtteil Harburg waren tagsüber am 9. November [es muss 10. November heißen] 1938 Polizeischutzposten aufgezogen. Sie konnten bis zum Einbruch der Dunkelheit jegliche Zerstörungen verhindern. In den Abendstunden - ... - wurden an vielen jüdischen Geschäften und vereinzelt auch ehemals jüdischen Geschäften die Schaufensterscheiben zertrümmert und andere Schäden angerichtet. Es konnte nicht festgestellt werden, ob diese Taten durch die Teilnehmer der von der Synagoge ausgegangenen Demonstrationszüge verübt worden sind, oder ob andere Täter hierfür in Betracht kommen. Sicher ist, dass ein vom Feuer auf dem Sand abziehender Trupp das an der Ecke der Neuen Straße und Ludwigstraße belegene Geschäft eines jüdischen Althändlers demolierte, obwohl diesen Leuten das offenbar inzwischen schriftlich ergangene Verbot weiterer Zerstörungen bekannt gegeben worden war. Ein gesondert von der Synagoge abfließender Demonstrationszug begab sich zu dem 250 Meter entfernt an der Ecke Linden- und Karlstraße liegende Geschäft der Geschwister Stapelfeld, einer Möbel- und Textilhandlung. Teilnehmer dieses Zuges zertrümmerten die großen Schaufensterscheiben des Ladens und warfen die ausgestellten Möbelstücke auf die Straße. ...“
Das Synagogengebäude wurde offenbar im Jahre 1941 abgerissen; das freigewordene Gelände wurde von einer Werkstatt genutzt. Nach dem Krieg wurden dort Wohngebäude errichtet.
[vgl. Hamburg]
Ende des 17. Jahrhunderts gegründet ist der jüdische Friedhof in Harburg mehr als 300 Jahre alt. Seine geringe Größe täuscht über dessen einstige regionale Bedeutung hinweg: so war das Gelände über viele Jahrzehnte hinweg der „Gute Ort“ für die jüdischen Gemeinden in Harburg, Winsen/Luhe, Tostedt und Lüneburg. Erhalten haben sich auf dem Friedhofsareal ca. 240 Grabsteine.
jüdischer Friedhof in Harburg (Aufn. Bärbel Miemietz, 2021, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 4.0)
Das als Denkmal gestaltete rekonstruierte Portal der Synagoge an der Eißendorfer Straße/Ecke Knoopstraße (Aufn. C., 2011, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0) - es befindet sich an der Außenfassade dort befindlicher Wohnblöcke - wurde 1988 eingeweiht und trägt zwei Tafeln mit den folgenden Texten:
Hier - an der Eißendorfer Straße 15 - stand die Synagoge der ehemaligen Synagogen-Gemeinde Harburg. Das Gotteshaus wurde 1863 eingeweiht. Zuvor hatte es Betsäle in Häusern am Schippsee und am Karnapp gegeben. Noch 1930 wurde die Synagoge erweitert. Seit 1936 konnte sie von Harburgern jüdischen Glaubens wegen der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland nicht mehr für Gottesdienste genutzt werden.
Am Abend des 10.November 1938 fiel die Synagoge dem Novemberpogrom im Deutschen Reich zum Opfer. Sie wurde von nationalsozialistischen und weiteren Harburger Bürgern im Innern verwüstet und beraubt. Das Grundstück mußte 1939 zwangsverkauft werden. 1941 wurde das Gebäude abgebrochen. Möge dieses an einem Teil unseres Volkes begangene Unrecht uns ständig Mahnung sein. Wenn Menschen Rechte mit Füßen getreten werden, wird Widerstand zur Pflicht. Harburg, den 10.November
Seit November 2001 sind im Harburger Rathaus Gedenktafeln angebracht, die an die Harburger Opfer des Nationalsozialismus erinnern.
In mehreren Verlegeaktionen - beginnend im Jahre 2003 - wurden im Hamburger Stadtteil Harburg insgesamt etwa 240 sog. „Stolpersteine“ in die Gehwegpflasterung eingefügt (Stand 2022), die Opfern der NS-Gewaltherrschaft gewidmet sind.
verlegt in der Lüneburger Straße, Rathausstraße, Schlossmühlendamm und Hölertwiete (Aufn. H., 2017, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 4.0)
Bis 2023 wurden im Hamburger Stadtstaat insgesamt mehr als 7.000 "Stolpersteine" verlegt.
Am nördlichen Ortsrand von Salzhausen (im Landkreis Harburg) liegt befindet sich ein jüdischer Friedhof. Auf dem ca. 400 m² großen baumbestandenen Gelände sind aber keine Grabsteine mehr vorhanden. Nur ein Gedenkstein mit der Inschrift "1834 - 1870 Alter jüdischer Friedhof" lässt auf die einstige Nutzung der Grünfläche schließen.
Aufn. D.Rohde-Kage, 2012, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 3.0)
Weitere Informationen:
Peter Freimark/Arno Herzig (Hrg.), Die Hamburger Juden in der Emanzipationsphase 1780 - 1870, Hamburg 1989
The Encyclopedia of Jewish Life before and during the Holocaust (Vol. 1), New York University Press, Washington Square, New York 2001, S. 498
Detlef Garbe/Jens Michelsen (Red.), Gedenkstätten in Hamburg. Ein Wegweiser zu Stätten der Erinnerung an die Jahre 1933 - 1945 Hrg. KZ Gedenkstätte Neuengamme/Landeszentrale für politische Bildung, Hamburg 2003
Rachel Wahba (Red.), Gedenken an die jüdische Gemeinde, in: „Hamburger Abendblatt“ vom 12.11.2003
Eberhard Kändler, Der jüdische Friedhof Harburg, Christians Verlag, Hamburg 2004
Nicole Rinza, Shalom Hamburg: die Hamburger Juden und ihre Synagogen (Film), Hrg. Landeszentrale für politische Bildung, Hamburg 2005
Ina Lorenz (Hrg.) Zerstörte Geschichte. Vierhundert Jahre jüdisches Leben in Hamburg, Hrg. Landeszentrale für politische Bildung, Hamburg 2005 (mehrere längere Aufsätze)
Institut für die Geschichte der deutschen Juden (Hrg.), Das Jüdische Hamburg. Ein historisches Nachschlagewerk, Wallstein-Verlag Göttingen 2006
Matthias Heyl, „Vielleicht steht die Synagoge noch“. Jüdisches Leben in Harburg 1933 – 1945, books on demand, Norderstedt 2009
B. Günther/M. Markert/H.-J. Meyer/K. Möller/U. Bollmann (Bearb.), Stolpersteine in Hamburg-Harburg und Hamburg-Wilhelmsburg. Biografische Spurensuche, hrg. von der Landeszentrale für politische Bildung Hamburg
Geschichte der Juden in Hamburg – Die Gemeinde in Harburg, online abrufbar unter: wikiwand.com/de/Geschichte_der_Juden_in_Hamburg#/Die_Gemeinde_in_Harburg
Eberhard Kändler (Bearb.), Harburg-Wilhelmsburg – Synagogengemeinde, in: Das jüdische Hamburg - ein Nachschlagewerk, online abrufbar unter: dasjuedischehamburg.de/inhalt/harburg-wilhelmsburg-synagogengemeinde
Gedenken an die Verwüstung der Harburger Synagoge vor 77 Jahren, in: harburg-aktuell.de vom 6.11.2015
Jochen Gipp (Red.), Künstler Demnig setzt 18 neue Stolpersteine, in: „Hamburger Abendblatt“ vom 25.11.2015
Auflistung der Stolpersteine in Hamburg-Harburg, online abrufbar unter: wikipedia.org/wiki/Liste_der_Stolpersteine_in_Hamburg-Harburg
Gedenken in Harburg: 24 neue Stolpersteine zum Jubiläum, in: harburg-aktuell.de vom 30.8.2018
Olaf Zimmermann (Red.), In Harburg werden acht weitere Stolpersteine an Opfer des Nationalsozialismus erinnern, in: „Elbe Wochenblatt“ vom 14.5.2019
Stadtmuseum Harburg/Geschichtswerkstatt Harburg/Initiative Gedenken in Harburg (Bearb.), Sonderausstellung „Orte jüdischen Lebens in Harburg“, Hamburg 2021
Andreas Scharnberg (Red.), Orte jüdischen Lebens in Harburg – Die neue Ausstellung des Stadtmuseums Harburg, in: „Aktuelles aus Süderelbe“ vom 21.7.2021