Hegenheim (Elsass)
Das oberelsässische Hegenheim (frz. Hégenheim) mit derzeit ca. 3.500 Einwohnern liegt unmittelbar an der Grenze zur Schweiz - nur etwa fünf Kilometer vom Baseler Stadtzentrum entfernt (Ausschnitt aus aktueller Straßenkarte).
Im oberelsässischen Hégenheim existierte gegen Mitte des 19.Jahrhunderts eine der größten jüdischen Gemeinden des Sundgaus, die damals mit nahezu 800 Angehörigen etwa ein Drittel der Ortsbevölkerung stellte.
Die Wurzeln einer jüdischen Gemeinde in Hegenheim reichen bis ins 17.Jahrhundert zurück.
Eine um 1740 gebaute Synagoge wurde im Jahre 1815 während der Belagerung geplündert und in Brand gesetzt; einige Jahre später (1822) wurde sie wiederaufgebaut. Nach seiner Restaurierung 1858 wurde das Gebäude durch die Rabbiner aus Colmar und Hegenheim neu geweiht. Seit den 1830er Jahren existierte am Ort auch eine jüdische Elementarschule.
In der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts war die Besetzung der Religionslehrer- und Schächterstelle einem ständigen Wechsel unterworfen (vgl. dazu: Stellenausschreibungen).
Ausschreibungen der Lehrerstelle - Anzeigen aus der Zeitschrift "Der Israelit" von 1850, 1861, 1872, 1886, 1892 und 1903
Über die jüdische Gemeinde Hegenheim berichtet S. Mannheimer, der damalige Lehrer der Gemeinde, u.a. wie folgt:„ ... Die hiesige israelitische Gemeinde, aus ca. 160 Familien bestehend, macht beinahe die Hälfte der Einwohner des Ortes aus. ... Handel, Gewerbe und Ackerbau bilden ihre Beschäftigung. ... Die Synagoge wurde im Laufe des Sommers prachtvoll renoviert ... Der Herr Grand-Rabbin Klein von Colmar und der hiesige Rabbiner Nordmann hielten am Freitag Abend die Einweihungsreden, worin sie den Zweck des Gotteshauses in eindringlicher Sprache dartaten. ... Die hiesige israelitische Schule, vor ungefähr 30 Jahren gegründet, steht unter der Aufsicht des Herrn Rabbiners. Es werden in derselben das Französische, Deutsche und Hebräische von drei Lehrern unterrichtet. Man sieht den wohltätigen Einfluß, den die konfessionelle Trennung hat, da dadurch die Kenntnis der Religion weit mehr gefördert wird, als an den Orten, wo die Kinder die christliche Elementarschule besuchen ... Obgleich in den Schulen des Elsasses das Französische Unterrichtssprache ist, so ist doch die deutsche Sprache vorherrschend ... Die elsässischen Rabbiner sind daher genötigt, abwechselnd in beiden Sprachen zu predigen. ... Was auf mich ... einen angenehmen, erfreulichen Eindruck macht, ist die Einigkeit und das gute Einvernehmen, die hier herrschen und die auch bei der Restauration der Synagoge ... nicht gestört worden sind. Möchten sie auch in der Folge ungetrübt erhalten bleiben ! ...“ (aus: „Allgemeine Zeitung des Judentums“ vom 18.10.1858)
Zu ihrer Blütezeit verfügte die Gemeinde über zahlreiche Einrichtungen und Vereine; die zahlenmäßig größten jüdischen Familien am Ort hießen Bloch, Dreyfus, Ginzburg, Levy und Nortemann.
Seit Mitte der 1870er Jahre gab es in Hegenheim das „Israelitische Armenasyl“, in dem sozial schwache Menschen Obdach fanden.
Von 1772 bis 1910 war Hegenheim Sitz eines Rabbinats, ab 1805 auch für Basel und einige weitere Schweizer Orte zuständig. Der Rabbiner Moses Nordmann (1809-1884) war während seiner 50jährigen Amtszeit ein Vorkämpfer für die Gleichberechtigung der Juden in der Schweiz.
Moses Nordmann wurde 1809 als Sohn eines jüdischen Viehhändlers in Hegenheim geboren. Nach seinem Studium in Heidelberg und Würzburg übernahm er das Rabbinat in Hegenheim; seit Mitte der 1830er Jahre war er - neben seiner Tätigkeit in seinem Oberelsässer Rabbinatsbezirk - auch für die in die Nordschweiz eingewanderten jüdischen Familien zuständig. Zeit seines Lebens kämpfte er – in Wort und Tat - für die Gleichstellung der Juden in der Schweiz. Gleichzeitig setzte er sich für eine Modernisierung des orthodox-jüdischen Gottesdienstes ein. Moses Nordmann verstarb 1884 an seiner Wirkungsstätte in Hegenheim.
Mohel-Buch aus Hegenheim (Abb. D.Hofer, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 4.0)
1673 stellte der damalige Grundherr des Ortes, Hannibal von Bärenfels, seinen jüdischen Untertanen am Ortsrand von Hegenheim ein Begräbnisgelände zur Verfügung, das in den folgenden Jahrhunderten mehrfach erweitert wurde. Es diente nicht nur verstorbenen Juden aus Hegenheim als letzte Ruhestätte, sondern war auch lange Zeit Begräbnisplatz für zahlreiche Gemeinden des südlichen Elsass und der nordwestlichen Schweiz; so wurden bis 1871 verstorbene Juden aus Bern und bis 1903 aus Basel hier begraben.
Teilansichten des jüdischen Friedhofs Hegenheim (Aufn. M., 2012 und F., 2011, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 2.0 bzw. 3.0)
Anm.: Vor Anlegung des Hegenheimer Judenfriedhofes wurden Verstorbene aus der Region auf dem jüdischen Friedhof in Zwingen (damals dem Hochstift Basel zugehörig) begraben.
Juden in Hegenheim:
--- 1689 ......................... 14 jüdische Familien,
--- 1716 ......................... 29 “ “ ,
--- 1766 ......................... 63 “ “ ,
--- 1784 ......................... 409 Juden (in 83 Familien),
--- 1833 ......................... 784 “ (ca. 35% d. Bevölk.),
--- 1846 ......................... 785 “ (in ca. 160 Familien),
--- 1861 ......................... 646 “ ,
--- 1871 ......................... 413 “ ,
--- 1905 ......................... 110 “ ,
--- 1936 ......................... 36 “ ,
--- 1954 ..................... ca. 20 “ .
Angaben aus: Michel Rothé/Max Warschawski, Les synagogues d’Alsace et lieur histoire, S. 47
Die Haltung der christlichen Bevölkerung Hegenheims gegenüber den hier ansässigen jüdischen Familien machten Forderungen des Jahres 1789 deutlich, die die Auflösung der jüdischen Gemeindeautonomie und damit auch die volle Beteiligung an den kommunalen Steuern verlangten. Zudem wurde eine größere Niederlassungsfreiheit in anderen Dörfern gefordert, um damit einen Teil der Juden aus Hegenheim loszuwerden.
Der Sundgau war im Sommer des Jahres 1789 Zentrum pogromartiger Ausschreitungen, die sich gegen die Herrschaft der feudalen Obrigkeit und gegen die jüdische Bevölkerung richteten; letzteres lag vor allem daran, weil zahlreiche christliche Elsässer bei jüdischen Geldverleihern hoch verschuldet waren. Die Juden in den Dörfern wurden bedroht, ihre Behausungen geplündert und Schuldscheine vernichtet. Die bei einem Pogrom im Jahre 1815 geplünderte und in Brand gesetzte Synagoge wurde einige Jahre später wieder aufgebaut.
Im Revolutionsjahr 1848 ereigneten sich in Hegenheim - damals größte jüdische Landgemeinde des Elsass - antijüdische Ausschreitungen. Dem dortigen Rabbiner Moses Nordmann gelang es zunächst durch den Einsatz bewaffneter jüdischer und nichtjüdischer Nationalgardisten, die Plünderer in die Schranken zu weisen; letztlich war aber die jüdische Gemeinde dem Mob schutzlos ausgeliefert, sodass die mehr als 800 Gemeindemitglieder vorübergehend in die benachbarte Schweiz flüchten mussten. Noch gegen Mitte des 19.Jahrhunderts setzte sich mehr als ein Drittel der Bevölkerung Hegenheims aus jüdischen Bewohnern zusammen; doch innerhalb nur weniger Jahrzehnte kam es zu einer starken Abwanderung, die den unaufhaltsamen Niedergang der einst blühenden Gemeinde einleitete. Schließlich löste sich die Gemeinde gegen Ende des Ersten Weltkrieges völlig auf.
Aus einem Artikel „Der Israelit“ vom 28.Febr. 1901: „ Hegenheim (Elsass), 26. Februar. Daß viele unserer jüdischen Landgemeinden fortgesetzt abnehmen, ist eine bekannte Tatsache, die auch durch die Geschichte der hiesigen Gemeinde bestätigt wird. Unsere Gemeinde zählte am Anfang des (19.)Jahrhunderts ca. 200 Familien, … Im Jahre 1848 wurde die Auswanderung mehrerer Familien durch eine Judenverfolgung veranlasst. Die Wegziehenden wandten sich nach Frankreich, da die Schweiz, die ihnen wohl näher gelegen hätte, den Juden bis 1860 verschlossen war. … Erst durch den im Jahre 1860 abgeschlossenen Handelsvertrag zwischen Frankreich und der Schweiz fielen auch hier die Schranken der Intoleranz. Demzufolge verliehen zahlreiche Familien unseren Ort und siedelten nach Basel über, wo sie vorher schon zum großen Teil ihr Gewerbe betrieben hatten. Der Ausgang des deutsch-französischen Krieges endlich entführte uns nochmals eine Reihe jüdischer Gemeindemitglieder, die nur auf französischem Boden glücklich zu werden glaubten. ...“
Das Hegenheimer Rabbinat, das zuletzt unter der Ägide von Dr. Salomon Schüler stand, wurde schließlich 1907 offiziell aufgelöst und nach St. Louis verlagert.
Kleinanzeige aus der Zeitschrift "Der Israelit" vom 10.Jan. 1907
Aus einem Bericht der „Allgemeinen Zeitung des Judentums“ vom 7.3.1907: „ ...Die Gemeinde Hégenheim … ist soweit heruntergekommen, daß es nicht gelingen will, einen Vorstand zu finden. Man hat dieses Amt neulich dem Synagogendiener angeboten. Dieser aber ist keineswegs gewillt, seine Stelle, die ihm wenigstens etwas einbringt, zu vertauschen mit einer solchen, die ihm höchstens Verdruß bereiten könnte.“ Das Synagogengebäude wurde aufgegeben und anschließend als Werkstatt genutzt. Während des Zweiten Weltkrieges wurde das Gebäude zeitweilig als Unterkunft für sowjetische Kriegsgefangene genutzt.
Nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem/Jerusalem sind nachweislich 15 aus Hegenheim stammende jüdische Bürger Opfer des Holocaust geworden (namentliche Nennung der betroffenen Personen siehe: alemannia-judaica.de/hegenheim_synagogue.htm).
Ehem. Synagogengebäude (Aufn. M.Rothé) Blick auf die Frauenempore (Aufn. M. Rothé, aus: sdv.fr/judaisme/synagog)
heutiger Bauzustand (Aufn. Rauenheim, 2010, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0)
Das vom Verfall bedrohte Synagogengebäude, das 2019 von einer Künstlerin gekauft wurde, soll saniert und künftig als Kulturzentrum der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden; zusammen mit dem Verein „Ehemalige Synagoge Hégenheim“ wird das Projekt dann realisiert werden. Die Sanierung soll dabei dem historischen Bauzustand Rechnung tragen.
Ehem. Frauenempore (Aufn. aus: Verein "Ehemalige Synagoge Hégenheim")
Auf dem seit 1673 bestehenden Friedhofsgelände - es besitzt eine Fläche von knapp 20.000 m² - sind im Laufe der Jahrhunderte schätzungsweise insgesamt ca. 6.000 bis 8.000 Juden beerdigt worden. Nahezu 3.000 Grabsteine haben die Zeiten überdauert; der älteste stammt aus der Zeit der Anlegung des Friedhofs. Noch heute finden hier vereinzelt Begräbnisse statt.
Jüngere Grabstätten (Aufn. M. 2012, aus: commons.wikimedia.org CC BY-SA 2.0)
Ein Denkmal erinnert auf dem weitläufigen Gelände an Opfer der NS-Verfolgung.
Aufn. Detlef Ernst Rosenow, 2007, aus: alemannia-judaica.de
Weitere Informationen:
S. Mannheimer, Bericht über die jüdische Gemeinde in Hegenheim 1858, in: "Allgemeine Zeitung des Judentums" vom 18.10.1858, Heft 43/1858, S. 593 f.
Achilles Nordmann (Red.), Über den Judenfriedhof in Zwingen und Judenniederlassungen im Fürstbistum Basel, in: "Baseler Zeitschrift für Geschichte und Altertumskunde", Band 6/1907, S. 120 - 151
Achilles Nordmann, Der Israelitische Friedhof in Hegenheim in geschichtlicher Darstellung, Basel 1910
Ludwig Kahn, Die sog. ‘Judendörfer’ in der Umgebung von Basel, aus: "Jüdischer Taschenkalender 1962/1963 der Israelitischen Fürsorge Basel"
Ludwig Kahn, Aus der Geschichte der jüdischen Gemeinden von Hegenheim (Elsaß), Kirchen, Müllheim und Sulzburg (Baden), in: "Jüdischer Taschenkalender 1963/1964 der Israelitischen Fürsorge Basel"
Michel Rothé/Max Warschawski, Les synagogues d’Alsace et lieur histoire, Jerusalem 1992
Raymond M. Jung, 1848: Der Judenrumpel und Hegenheim, in: "‘Maajan’ (Die Quelle)", Heft 47/1998, S. 1243 f.
Gil Hüttenmeister/Léa Rogg, Der jüdische Friedhof in Hegenheim / Le Cimitière Israélite de Hegenheim (Haut-Rhin), verlag regionalkultur, Heidelberg 2003 (Schwabe Verlag Basel)
Hégenheim (Elsass), in: alemannia-judaica.de (mit diversen Dokumenten zur jüdischen Ortshistorie)
Daniel Gerson, Die Kehrseite der Emanzipation in Frankreich. Judenfeindschaft im Elsass 1778 bis 1848, hrg. vom Zentrum für Antisemitismusforschung der TU Berlin, Klartext-Verlag, Essen 2006, S. 73 f., S. 243 und S. 267 f.
Robert Uri Kaufmann (Red.), Moses Nordmann, in: Historisches Lexikon der Schweiz, online abrufbar unter: hls-dhs-dss.ch/textes/d/D14920.php
Martina Polek (Red.), Synagoge in Hégenheim. Ein Stück Erinnerung an das Landjudentum, in: „Regionaljournal Basel Baselland“ vom 31.7.2020
Gabriel Heim (Red.), Hegenheim. Alte Synagoge mit Zukunft, in: „Tachles – das jüdische Wochenmagazin“, Ausg. 40/2020
Julia Konstantinidis (Red.), Verborgene Synagoge in Hegenheim – Ein Zufluchtsort für Baseler Juden, in: “Basler Zeitung“ vom 4.9.2021