Höchst/Main (Hessen)
Höchst/Main - derzeit ca. 15.000 Einwohner - ist seit 1928 ein Stadtteil der Mainmetropole Frankfurt (Ausschnitte aus hist. Karten von 1905 und 1895, aus: wikipedia.org, gemeinfrei).
Für das Mittelalter liegen zwar keine Belege dafür vor, dass Juden in Höchst ansässig waren bzw. sich hier zeitweilig aufhielten, doch dürfte dies wohl der Fall gewesen sein, weil in den Nachbarorten zu damaliger Zeit auch jüdische Familien gelebt haben.
Höchst am Main gegen Mitte des 17.Jahrhunderts (Abb. aus: wikipedia.org, gemeinfrei)
Erstmals ist die Existenz einer jüdischen Familie in Höchst 1635 urkundlich nachgewiesen. Um 1805 - gegen Ende der kurmainzischen und zu Beginn der nassauischen Herrschaft - lebten in Höchst sechs jüdische Familien mit insgesamt 21 Personen. Bis ins beginnende 19. Jahrhunderts lebten die jüdischen Familien vom Geld- und Warenhandel, dann auch vom Handel mit Wein.
Gottesdienste hielt die kleine Gemeinde zunächst in einem Privathause ab; 1806 richtete sie in einem Turm der nördlichen Stadtmauer ihr Bethaus ein, dem eine Mikwe angeschlossen war. An gleicher Stelle wurde ca. zehn Jahre später aus den Bruchsteinen des niedergelegten Turmes eine neue Synagoge erbaut. Im 19. Jahrhundert wuchs die jüdische Gemeinde von Höchst stark an, was auch ihre Finanzkraft stärkte. Gegen Ende des 19.Jahrhunderts war ein Synagogenneubau unausweichlich; im Frühjahr 1905 wurde die fast 90 Jahre alte Synagoge abgerissen und im Dezember 1905 in unmittelbarer Nähe der Neubau - ein markantes Backsteingebäude flankiert von zwei Zwiebeltürmen - eingeweiht.
die 1909 eingeweihte Synagoge in Höchst (links: Skizze Christian Rumpf, 1927 - rechts: hist. Aufn., 1938)
Aus dem „Kreisblatt für den Kreis Höchst am Main” vom 15.Dez. 1905:
Die Einweihung der neuen Synagoge fand gestern nachmittag von 4 Uhr ab in einem feierlichen Gottesdienst und in Anwesenheit von Vertretern der königlichen und städtischen Behörden, sowie der Synagogengemeinde und zahlreicher Gäste ... statt, so daß das hellerleuchtete Gotteshaus bis auf den letzten Platz gefüllt war. ... Nach dem Umzug betraten die Ältesten die Estrade zum Allerheiligsten, dessen Vorhang zuvor geöffnet war, und hier wurden nun durch den 1.Vorsteher der hiesigen Gemeinde, Herrn Max Ettinghausen, die Thorarollen ... aufgestellt und dann wieder der heilige Schrein durch den Vorhang geschlossen. ... Dem Schlußgesang folgte nach einer kleinen Pause ein kurzer Abendgottesdienst, mit dem die einstündige Feier schloß. Abends 7 Uhr fand bei einer Beteiligung von 110 Herren ein Festbankett im oberen Saale der “Schönen Aussicht” statt. Auch hier gehörten die Teilnehmer allen Gesellschaftsklassen, allen Konfessionen an und ein äußerst sympathischer Ton, ein ungezwungener, fröhlicher Verkehr ... gestaltete den Abend für alle Erschienenen zu einem recht erhebenden Fest. ...
Im rückwärtigen Teil des Synagogengebäudes wurden eine Mikwe mit einem Bassin und ein Raum für den Vorbeter erstellt. Die Synagoge hatte 84 Sitzplätze für Männer und 54 Sitzplätze für Frauen auf der Empore.
Religiöse Unterweisung der Kinder und die Verrichtung ritueller Belange war einem Lehrer vorbehalten, der seitens der Gemeinde angestellt war.
Anzeige in der Zeitschrift "Der Israelit" vom 8. Jan. 1868
Die in Höchst verstorbenen Juden wurden zunächst auf dem jüdischen Sammelfriedhof von Niederhofheim, heute ein Ortsteil von Liederbach, beerdigt; nach dessen Schließung wurde in den 1870er Jahren ein neuer Friedhof in der Gemarkung von Bad Soden angelegt, der auch von der jüdischen Gemeinde Höchst mitbenutzt wurde.
Die jüdische Gemeinde in Höchst stand damals unter orthodoxer Aufsicht, wie folgende Zeilen beweisen:
„ ... Die Kultusgemeinde unserer hies. Industriestadt besteht z.Z. aus 52 steuerzahlenden Mitgliedern, die sich zum großen Theil aus Akademikern, Fabrikbesitzern und Kaufleuten zusammensetzen. Handwerker sind hier, außer einem Bäcker und vier Metzgern, die leider alle ‘Sabbatschänder’ sind, nicht vorhanden. Trotzdem würde sicherlich ein religiöser Metzger gut existiren können, ... Unsere Gemeinde-Institutionen stehen unter orthodoxer Aufsicht. ...”
(aus: „Der Israelit” vom 26.Febr. 1901)
Die Höchster Gemeinde, zu der auch die wenigen Juden aus Griesheim gehörten, unterstand dem Rabbinatsbezirk Wiesbaden.
Juden in Höchst:
--- um 1720 ........................ 2 jüdische Familien,
--- 1745 ........................... 12 Juden,
--- um 1805 ........................ 6 jüdische Familien,
--- 1816 ....................... ca. 10 “ “ ,
--- 1846 ........................... 59 Juden,
--- 1871 ........................... 64 “ ,
--- 1890 ........................... 99 “ (ca. 1% d. Bevölk.),
--- 1897 ........................... 134 “ ,
--- 1900 ........................... 148 “ ,
--- 1905 ........................... 153 “ ,
--- 1914 ........................... 151 " ,
--- 1925 ........................... 184 “ (0,6% d. Bevölk.),
--- 1932/33 .................... ca. 200 “ ,
--- 1938 ....................... ca. 70 “ ,
--- 1942 (Dez.) .................... keine.
Angaben aus: Rudolf Schaefer, Die Juden in Höchst am Main
und W.Beck/J.Fenzl/H.Krohn, Juden in Höchst, S. 10
Die Höchster Juden waren zu Beginn des 20.Jahrhunderts stark in das Wirtschaftsleben der aufstrebenden Industriestadt involviert. Höchst galt auch als Einkaufszentrum für die ländlichen Taunusorte. Eine der ältesten und einflussreichsten jüdischen Familien, die über mehrere Generationen hinweg in Höchst wirkten, war die Familie Ettinghausen.
Anzeigen von 1899 bzw. 1903
Geschäftsanzeige aus dem Jahre 1906
... und Lehrstellenangebote von 1900 und 1908
Mit Beginn der NS-Zeit begann der Niedergang der Höchster jüdischen Gemeinde. Schon vor 1933 hatte die hiesige SA antijüdische „Aktionen“ organisiert, die sich nach der Machtübernahme verstärkten und im Boykott vom 1.4.1933 ihren ersten Höhepunkt erreichten. Darüber berichtete das „Höchster Kreisblatt” vom 1.4.1933:
Der Boykott marschiert. Die Maßnahmen zur Durchführung des Boykotts der jüdischen Geschäfte vollzogen sich in Höchst mit voller Wucht, aber in vollständiger Ruhe und Ordnung. Nirgends ist es zu Zwischenfällen gekommen. In der Stadt hatten sich, namentlich auf der Königsteinerstraße zahlreiche Menschen eingefunden, die dabei sein und scheinbar lernen wollten, “wie man Geschäfte schließt”. ... Die meisten jüdischen Geschäfte schlossen ihre Läden vollständig, einige hatten überhaupt nicht geöffnet. ... Die Polizei hatte lediglich etwas Arbeit mit der Verkehrsregelung, da es zeitweilig auf der Königsteinerstraße zu kleinen Stockungen kam. ...
Weitere Boykottmaßnahmen, z.B. der sog. "Weihnachtsboykott" 1934, folgten; Folge der zunehmenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Diskriminierung der jüdischen Bewohner von Höchst waren Geschäftsaufgaben. Die meisten wanderten aus Höchst ab.
Am 10. November 1938 wurde die Höchster Synagoge von SA-Männern und Teile der hiesigen Bevölkerung geschändet, in Brand gesetzt und fast vollständig vernichtet; nur der Baukörper blieb stehen. Wenige Monate später wurde die Ruine niedergerissen, während des Krieges an dieser Stelle ein Luftschutzbunker errichtet.
Das „Höchster Kreisblatt” berichtete wie folgt:
Gerechte Vergeltung. Gegen 7 Uhr vormittags wurde die Feuerwehr von Anwohnern alarmiert, die in der Höchster Synagoge einen Feuerschein und Rauch bemerkt hatten. Die Feuerwehr rückte daraufhin an, zumal Gefahr für die angrenzenden Altstadt-Häuser bestand. Die Beschädigungen .. sind ... unerheblich.
Einen Tag später hieß es dann:
... in den Mittagsstunden von der empörten Bevölkerung ganze Arbeit geleistet ... die Synagoge wurde im Innern größtenteils zerstört. Etwa um 1.30 Uhr mittags wurde die Feuerwehr erneut gerufen, weil in der Synagoge Feuer ausgebrochen war, durch das die hölzerne Inneneinrichtung und andere brennbare Gegenstände beschädigt bzw. vernichtet wurden.
Unmittelbar nach den Zerstörungen verhaftete die Höchster Polizei jüdische Männer und brachte einen Teil von ihnen ins KZ Buchenwald. Wer nicht mehr rechtzeitig emigrieren konnte, wurde 1941/1942 deportiert; fast alle kamen ums Leben
Etwa 110 gebürtige bzw. längere Zeit in Höchst ansässig gewesene jüdische Bürger wurden nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem/Jerusalem und des "Gedenkbuches - Opfer der Verfolgung der Juden ..." Opfer der NS-Gewaltherrschaft (namentliche Nennung der betroffenen Personen siehe: alemannia-judaica.de/hoechst_am_main_synagoge.htm).
[vgl. Frankfurt/Main (Hessen)]
Am Bunker am Markt befand sich bis in die jüngste Zeit eine Gedenktafel zur Erinnerung an die einstige Höchster Synagoge; ihre Inschrift - mit einem falschen Zerstörungsdatum versehen - lautete:
An dieser Stelle stand die 1905 von der Höchster Jüdischen Gemeinde errichtete Synagoge.
Sie wurde am 9.November 1938 zerstört.
Mit Hilfe der Stadt Frankfurt am Main wurde zum Gedenken
in der Gemeinde Neve-Efraim-Monosson/Israel eine neue Synagoge erbaut.
- *Das Datum der Zerstörung ist der 10.November 1938
Der ehemalige Synagogenstandort trägt heute den Namen Ettinghausen-Platz*.
*Die Familie Ettinghausen war eine der ältesten jüdischen Familien in Höchst, zu Beginn des 19.Jahrhunderts von Heddernheim zugezogen. Sie war ein Beispiel für eine Familie, die in der jüdischen Gemeinde, im Wirtschafts- und Vereinsleben sowie in der Kommunalpolitik aktiv tätig war.
Anmerkung: Vor dem Bunker steht seit 1982 ein Abguss der Plastik „Krieg“ von Richard Biringer. Das Original, 1928 aufgestellt, wurde während der NS-Zeit entfernt und eingeschmolzen.
Am 72.Jahrestag des Novemberpogrom wurde in Höchst die Installation „Fernrohre in die Vergangenheit“ eingeweiht. Die „Fernrohre in die Vergangenheit“ lassen virtuell die Außenansicht und den Innenraum der 1905 erbauten und am 10. November 1938 zerstörten ehemaligen Höchster Synagoge an ihrem einstigen Standort wieder sichtbar werden.
Synagogenmodell – ausgestellt im Schloss Höchst (Aufn. Norbert Schnitzler, Aachen, 2003)
Virtuelle Rekonstruktion der Höchster Synagoge (Marc Grellert, Architectura Virtualis, 2011)
2018 wurde eine Gedenk- bzw. Infotafel am ehem. Synagogenstandort am Ettinghausen-Platz angebracht, die eine ältere (inhaltlich nicht korrekte) Inschriftentafel ersetzt.
Der Inschritentext lautet: „Hier stand die 1905 errichtete Synagoge der Jüdischen Gemeinde Höchst. ‚Treu zu ihr zu stehen in der Betätigung wahrer Nächsten- und Menschenliebe’, versprach Bürgermeister Palleske der Gemeinde im Namen der Bürgerschaft auf der Einweihungsfeier. 33 Jahre später, am 10. November 1938, verwüsteten Männer der SA und Höchster Bürger die Synagoge und steckten sie in Brand. Feuerwehr, Polizei und viele Schaulustige sahen tatenlos der Zerstörung zu – auch als Höchster Juden verhöhnt, bespuckt und mit Steinen beworfen wurden. Im April 1939 wurde die Synagoge abgerissen. Der 1942 errichtete Luftschutzbunker verdeckte mit seinen Mauern das Leid und die Geschichte der Höchster Juden. Etwa die Hälfte der 200 jüdischen Einwohner von Höchst wurde ermordet oder in den Tod getrieben. Die Erinnerung an die Ereignisse von damals soll eine Mahnung für die Gegenwart und Zukunft sein, zu allen Zeiten und unter allen Bedingungen für das Recht und die Würde aller Menschen einzustehen."
Jüngst (2020) wurden die Fundamente der ehemaligen Synagoge freigelegt; vermutlich sind hier sogar Relikte eines noch älteren Synagogengebäudes zu finden, die auf eine Überbauung durch die jüngere schließen lassen. Eine geplante dauerhafte Neugestaltung des Ettinghaus-Platzes soll die Geschichte der Örtlichkeit in angemessener Weise deutlich machen.
2006 wurden die ersten sog. „Stolpersteine“ in den Straßen von Höchst verlegt; inzwischen liegen in den Gehwegen mehr als 100 Steine (Stand 2022).
in der Hostatostraße, Königsteiner Str. und Bolongarostr. (Aufn. Initiative Stolpersteine Frankfurt/M. e.V.)
Weitere Informationen:
Wilhelm Frischholz, Alt-Höchst. Ein Heimatbuch in Wort und Bild, Frankfurt/M. 1926
Rudolf Schaefer, Die Juden in Höchst am Main, in: "Höchster Geschichtshefte", Hrg. Verein für Geschichte und Altertumskunde, No. 36/37, Frankfurt-Höchst 1982
Paul Arnsberg, Die Geschichte der Frankfurter Juden seit der Französischen Revolution, Band 2, Darmstadt 1983, S. 547 - 562
Wolfgang Wippermann, Das Leben in Frankfurt zur NS-Zeit, Band 1: Die nationalsozialistische Judenverfolgung, Frankfurt/M. 1986
Thea Altaras, Synagogen in Hessen - Was geschah seit 1945 ?, Verlag K.R.Langewiesche Nachfolger Hans Köster, Königstein/T. 1988, S. 196/197
Wolfgang Metternich, Juden in Höchst, in: "Alt-Höchst - Nachrichten und Meinungen", Hrg. Bürgervereinigung Höchster Altstadt, 4/1988
W.Beck/J.Fenzl/H.Krohn, Juden in Höchst, in: Die vergessenen Nachbarn. Juden in den Frankfurter Vororten Bergen-Enkheim, Bockenheim, Heddernheim, Höchst und Rödelheim, Begleitbuch zur Ausstellung des Jüdischen Museum Frankfurt/M., Frankfurt/M. 1990/1991
Studienkreis Deutscher Widerstand (Hrg.), Heimatgeschichtlicher Wegweiser zu Stätten des Widerstandes und der Verfolgung 1933 - 1945, Hessen I Regierungsbezirk Darmstadt, 1995, S. 108 ff.
Höchst, in: alemannia-judaica.de (mit zahlreichen, zumeist personenbezogenen Dokumenten zur jüdischen Ortshistorie)
Stolpersteine im Stadtteil Höchst, hrg. Von der Initiative Stolpersteine in Frankfurt am Main, online abrufbar unter: frankfurt.de
Auflistung aller in Höchst verlegten Stolpersteine, online abrufbar unter: wikipedia.org/wiki/Liste_der_Stolpersteine_in_Frankfurt-Höchst
AG Geschichte und Ertinnerung (Bearb.), Rundgang zu Stolpersteinen und anderen Orten des Gedenkens, Broschüre, 2017
Wolfgang Metternich (Red.), Standort der Synagoge von 1806 lokalisiert, in: „Höchster Kreisblatt“ vom 4.8.2018
Eugen El (Red.), Beten am Ettinghausen-Platz. Der Historiker Wolfgang Metternich hat Relikte älterer Synagogen gefunden, in: “Jüdische Allgemeine“ vom 8.10.2018
N.N. (Red.), Am Ettinghausenplatz. Neue Gedenktafel erinnert an zerstörte Synagoge, in: „Frankfurter Wochenblatt“ vom 23.11.2018
Laura Franz (Red.), Jüdische Geschichte in Höchst sichtbar machen, in: „Frankfurter Rundschau“ vom 18.1.2019
George Grodenky (Red.), Denkmalamt legte Fundament der Höchster Synagoge frei, in: „Frankfurter Rundschau“ vom 4.5.2020
N.N. (Red.), Fundamente der Synagoge in Höchst freigelegt: "Vergessen war sie nie", in: "BILD" vom 8.9.2020
FR (Red.), Höchst: Umgestaltung des Ettinghausen-Platzes vertagt, in: „Frankfurter Rundschau“ vom 22.11.2021