Hoerstgen (Nordrhein-Westfalen)

Bildergebnis für kamp Lintfort karte Hoerstgen liegt heute auf dem Territorium der Stadt Kamp-Lintfort (im Kreis Wesel) und ist dessen westlichster Stadtteil (Kartenskizze 'Kreis Wesel', TUBS 2008, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 3.0).

 

Seit Mitte des 16.Jahrhunderts sollen im kleinen protestantischen Dorfe Hoerstgen Juden ansässig gewesen sein; dabei handelte es sich nur um sehr wenige Familien. Sie verfügten über Geleitbriefe der Herren von Millendonk (Mylendonk). Im 18.Jahrhundert lebten die jüdischen Familien in Häusern, die von der Grundherrschaft - nun die Freiherren von Hoerstgen (Frohnenbruch) - an der Dorfstraße errichtet worden waren; ganz in der Nähe entstand um 1760 auch eine Synagoge. Gegen Mitte des 19.Jahrhunderts ließ die Hoerstger Judenschaft - sie machte im Dorf damals immerhin ca. 25% der Gesamteinwohner aus - ein neues Synagogengebäude mit angeschlossener Mikwe errichten. Der Bau war durch eine Kollekte von den jüdischen Bewohnern im Regierungsbezirk Düsseldorf finanziert worden. Der kleine quadratische Backsteinbau wurde wie folgt beschrieben: ... Betritt man das Innere durch den etwa versteckten Eingang an der Nordseite, so fällt sofort ... der weiß gestrichene Toraschrein ins Auge. Der durch zwei Treppenstufen erhöhte und von zwei Säulen flankierte Toraschrank ist schon der Vorhangs entledigt. In der Mitte des nahezu quadratischen, säulenlosen Saalbaus befindet sich die Bima, die von einem kunstvoll gedrechselten Holzgeländer mit kannelierten Säulchen eingerahmt wird. ...

Vergrößerte Ansicht des angeklickten Bildes http://www.phila-gert.de/spgkl/bilder/synagoge-innen-1930.jpg

 Hoerstger Synagoge  und Innenraum (hist. Aufn., um 1925/30, Stadt Kamp-Lintfort und aus: phila-gert.de)

Seit Mitte der 1850er Jahre war Hoerstgen eine Filialgemeinde der Kultusgemeinde Rheinberg, danach der Gemeinde Alpen zugehörig; später wurde sie dann Rheurdt eingegliedert. Infolge der Abwanderung der meisten Gemeindeangehörigen konnten bald Gottesdienste nicht mehr abgehalten werden, da kein Minjan zustande kam; das Synagogengebäude verfiel in den folgenden Jahren nun zusehends. 1930/1931 ging das Synagogengebäude in den Besitz der Kommune über, die als Gegenleistung die Unterhaltung des jüdischen Friedhofs zugesagte hatte. Kurz darauf wurde das ehemalige Synagogengebäude abgerissen.

Das letzte heute noch sichtbare Zeugnis der Hoerstgener Judengemeinde ist der jüdische Friedhof am Ortsausgang Richtung Sevelen (an der Breitenwegsallee); der älteste noch vorhandene Grabstein stammt aus dem Jahre 1808. Das Alter dieser Begräbnisstätte lässt sich nicht exakt datieren, soll aber vermutlich bis ins 17.Jahrhundert (?) zurückreichen.

Juden in Hoerstgen:

         --- 1799 ...........................  80 Juden (in 17 Familien),

    --- 1801/03 ........................ 106   “  ,

    --- 1808 ...........................  91   “  ,

    --- 1815 ...........................  80   "  ,

    --- 1823 ...........................  54   “  ,

    --- 1843 ...........................  51   “  ,

    --- 1864 ...........................  43   “  ,

    --- um 1880 ........................  35   "  ,

    --- 1896 ...........................  29   “  ,

    --- 1907 ...........................   7   “  .

Angaben aus: Elfi Pracht-Jörns, Jüdisches Kulturerbe in Nordrhein-Westfalen, Teil II: Reg.bez. Düsseldorf, S. 596

und                 A.Spitzner-Jahn/B.Keuck, “Es wohnen auch zimlich Juden darin, welche vieles eintragen” - Zur Geschichte der Hoerstgener Juden

 

Zu Beginn des 19.Jahrhunderts stellten die Juden Hoerstgens vorübergehend mehr als 20% der (fast ausschließlich protestantischen) Einwohnerschaft. Ihren Lebensunterhalt bestritten sie damals als Hausierer (5), Wiederverkäufer (4), Metzger (3), Kleinhändler (2) und „Winkeliers“ (2). Im Laufe des 19.Jahrhunderts gelang einigen jüdischen Familien der Aufstieg zum „bürgerlichen Kaufmann“.

Um die Jahrhundertwende war die ehemals relativ große jüdische Gemeinde von Hoerstgen nahezu ausgezehrt.

 

Mit der Abwanderung aus Hoerstgen wuchs gleichzeitig die Anzahl der jüdischen Bewohner in Kamp-Lintfort. Einhergehend mit der hier einsetzenden Industrialisierung siedelten sich in Camperbruch an der Moerser Straße auch einige jüdische Kaufmannsfamilien an. Bis 1933 stieg die Zahl der auf dem Kamp-Lintforter Gebiet lebenden Juden auf fast 40 Personen, ging dann aber bereits 1934 auf 29 zurück. 1940 lebten noch sieben Angehörige mosaischen Glaubens hier, eine Familie alsbald nach Riga deportiert.

Unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkrieges wurde das langgestreckte schmale ca. 1.900 m² große jüdische Friedhofsgelände eingeebnet und zu einer Grünfläche umgewandelt. Die noch erkenntlichen Grabstätten wurden soweit "in Ordnung gebracht" und die vorhandenen 29 Grabmale in einer Reihe wieder aufgestellt; dabei dürften die heute sichtbaren Grabstein-Standorte nicht mit den ursprünglichen übereinstimmen.

 Jüdischer Friedhof (Aufn. um 2005, aus: kamp-lintfort.de)

Seit 2015 erinnern fünf sog. „Stolpersteine“ am Abteiplatz in Kamp-Lintfort an Angehörige der Familie Cahn, die als letzte im Ort gelebt hatte und 1941 nach Riga deportiert wurde. Initiiert wurde die Verlegung der Gedenktäfelchen von Schüler/innen der Jahrgangsstufe 12 der UNESCO-Schule im Rahmen eines Projektkurses.

An der Dorfstraße wurde dank einer privaten Initiative 2021 eine Tafel aufgestellt, die an die jüdische Dorfgeschichte Hoerstgens erinnert.

 

Berühmtester Sohn des niederrheinischen Dorfes Hoerstgen ist Jacob Wiener (geb. 1815); er war das erste von insgesamt zehn Kindern eines jüdischen Handelsmannes. Nachdem er Ende der 1830er Jahre nach Brüssel übergesiedelt war und dort als Graveur tätig war, nahm er – nun als Jacques Wiener – die belgische Staatsbürgerschaft an. Als Chefgraveur der belgischen Münze erwarb er sich große Verdienste. 1899 verstarb er in Brüssel. Im Jahre 1987 würdigte die belgische Post das Lebenswerk des gebürtigen Hoerstgeners und Schöpfers der ersten belgischen Briefmarke mit der Herausgabe eines Sonderpostwertzeichens.

                  Jacob (Jacques) Wiener auf einer belgischen Briefmarke

 

 

Außer in Hoerstgen gab es im 19.Jahrhundert im Kreise Geldern auch in den folgenden Orten jüdische Gemeinden: Alpen, Issum, Moers, Orsoy, Rheinberg, Sonsbeck und Xanten.

 

 

 

Weitere Informationen:

Albert Spitzner-Jahn, Die Hoerstger Juden - die “älteste israelitische Gemeinde im Kreis Geldern”, in: "Der Niederrhein (Krefeld)", 57-2/1990, S. 193 f.

Michael Brocke (Hrg.), Feuer an dein Heiligtum gelegt - Zerstörte Synagogen 1938 Nordrhein-Westfalen, Ludwig Steinheim-Institut, Kamp Verlag, Bochum 1999

Elfi Pracht-Jörns, Jüdisches Kulturerbe in Nordrhein-Westfalen, Teil II: Regierungsbezirk Düsseldorf, J.P. Bachem Verlag, Köln 2000, S. 596 - 598

Albert Spitzner-Jahn, Jüdische Einwohner in den heutigen Kamp-Lintforter Ortsteilen Hoerstgen und Kamp, 4.Aufl., Kamp-Lintfort 2001

A.Spitzner-Jahn/B.Keuck, “Es wohnen auch zimlich Juden darin, welche vieles eintragen” - Zur Geschichte der Hoerstgener Juden vom 18. bis zum 20.Jahrhundert, in: B. Keuck/G. Halmanns (Hrg.), Juden in der Geschichte des Gelderlandes, Hrg. Veröffentlichungen des Historischen Vereins für Geldern und Umgebung, Band 101/2002, S.133 ff. 

Das Schicksal der jüdischen Einwohnerschaft, in: Werner Kröger/Gert W. F. Murmann/Albert Spitzner-Jahn (Bearb.), Die Stadt- und Postgeschichte von Kamp-Lintfort, online abrufbar unter: phila-gert.de

Franz-Peter Knöchel (Bearb.), Jüdischer Friedhof Breitenwegsallee in Hoerstgen, online abrufbar unter: kuladig.de

Nicole Kempgens (Red.), Jüdischer Friedhof, online abrufbar unter: kamp-lintfort.de

Karen Kliem (Red.), Fünf Stolpersteine in Kamp-Lintfort verlegt, aus: "WAZ - Westdeutsche Allgemeine Zeitung" vom 15.12.2015

Armin Mesenhol (Red.), Geschichte mal anders – Stolpersteine in Kamp-Lintfort, in: lokalcompass.de (Wochenmagazin) vom 15.12.2015

Auflistung der in Kamp-Lintfort verlegten Stolpersteine, online abrufbar unter: wikipedia.org/wiki/Liste_der_Stolpersteine_in_Kamp-Lintfort

Jasmin Ohneszeit (Red.), Kamp-Lintfort: Gedenktafel erinnert an Synagoge in Hoerstgen, in: „WAZ – Westdeutsche Allgemeine Zeitung“ vom 19.9.2021