Ihringen/Kaiserstuhl (Baden-Württemberg)

Datei:Ihringen in FR.svg Ihringen – WikipediaIhringen ist eine Kommune mit derzeit ca. 6.200 Einwohnern im Landkreis Breisgau-Hochschwarzwald im Südwesten Baden-Württembergs – ca. 15 Kilometer nordwestlich von Freiburg gelegen (Kartenskizze 'Landkreis Breisgau-Hochschwarzwald', Hagar 2010, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SDA 3.0).

Ihringen, Merian-Stich um 1620 (Abb. aus: wikipedia.org, gemeinfrei)

 

In der ersten Hälfte des 16.Jahrhunderts lebten im badischen Oberland zahlreiche jüdische Familien; ob allerdings damals auch in Ihringen Juden wohnten, kann nicht belegt werden. Eine jüdische Gemeinde in Ihringen entstand erst in der ersten Hälfte des 18.Jahrhunderts, als sich hier aus der Schweiz und dem Elsass vertriebene Juden ansiedeln durften.

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Ihringer Haggada des Abraham Levi (1732 – 1756)

Anm.: Die drei „Ihringer Haggadot“ befinden sich im Israel-Museum in Jerusalem, im Jewish Museum London und in der Sammlung von Victor Klagsbald in Paris.

Bis zur Mitte des 19.Jahrhunderts wuchs die Zahl der jüdischen Familien kontinuierlich an, was - von der christlichen Bevölkerungsmehrheit nicht immer gern gesehen wurde.Anfangs wurde in einem Privathaus ein Betsaal eingerichtet. Nachdem der Markgraf Karl Friedrich von Baden eine Genehmigung erteilt hatte, wurde 1760 ein erster Synagogenbau errichtet.

         Schriftstück mit der Genehmigung für den Synagogenbau mit Unterschrift des Markgrafen (Abb. aus: GLA Karlsruhe)

Fast genau 100 Jahre später wurde das inzwischen marode gewordene und viel zu kleine Synagogengebäude durch einen Neubau ersetzt; dieser war mehrere Jahrzehnte geplant worden. Die Synagoge stand in der Bachenstraße und wurde 1863/1864 nach Plänen des Freiburger Architekten Georg Jakob Schneider fertiggestellt; sie verfügte über ca. 110 Männerplätze und zwei Frauenemporen. Die Finanzierung übernahmen zum größten Teil die drei aus Ihringen stammenden Brüder Maier, Hermann und Isaak Weil, die in die USA ausgewandert waren. 

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Ihringer Synagoge (hist. Aufn., um 1895/1900, aus: F.J. Ziwes, Badische Synagogen ...)

Zur Besorgung religiös-ritueller Aufgaben der Gemeinde war ein Lehrer angestellt; zeitweilig besaß die Gemeinde zwei Angestellte: einen Religionslehrer und einen Vorbeter/Schächter. Außergewöhnlich lange dauerte die Amtszeit des Kantors/Schächters Karl Marx; anlässlich seines Todes erschien in der Zeitschrift „Der Israelit“ vom 12.6.1924 ein Artikel, in dem es hieß:

Ihringen (Baden), 1. Juni. Vor kurzem verschied hier im Alter von 79 Jahren unser Kantor und Schochet Karl Marx. Derselbe fungierte über 55 Jahre in hiesiger Gemeinde; es war dies seine erste und letzte Stelle. Am 1. November v.J. gab er den Vorbeterdienst auf, dagegen versah er den Dienst als Bal-Kaure und Schochet bereits bis zu seinem Lebensende. An einem der letzten Sabbate hat er in halbgebrochenem Zustande noch aus der heiligen Thora vorgelesen. Die jüdische Gemeinde verliert durch seinen Heimgang einen sehr tüchtigen und beliebten Beamten und wird ihm ein treues, dauerndes Andenken bewahren.

Um dieses Amt wieder zu besetzen, erschien in der „Zeitschrift „Der Israelit“ folgende Kleinanzeige:

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Stellenangebote in der Zeitschrift "Der Israelit" vom 28.2.1924 und vom 21.11.1929

Neben der Synagoge befanden sich bis 1885 das Rabbinatsgebäude und eine Mikwe; seit den 1830er Jahren gab es in Ihringen auch eine  jüdische Elementarschule.

Bis zu Beginn des 19.Jahrhunderts beerdigte die Ihringer Judenschaft ihre Verstorbenen auf dem in den 1720er Jahren angelegten jüdischen Friedhof in Emmendingen; danach stand ihnen vor dem Dorf am Weg nach Blankenhornsberg ein eigenes Friedhofsgelände zur Verfügung.

Nach ihrer Zugehörigkeit zum Rabbinat von Breisach war die Ihringer Gemeinde ab 1885 dem Rabbinat von Freiburg zugewiesen.

Juden in Ihringen:

         --- 1721 ............................   7 jüdische Familien,

--- 1738 ............................  10     “       “   ,

--- 1750 ............................  12     “       “   ,

    --- 1801 ............................  83 Juden,

    --- 1825 ............................ 126   “  ,

    --- 1852 ............................ 263   “  ,

    --- 1875 ............................ 232   “   (ca. 9% d. Bevölk.),

    --- 1885 ............................ 246   “  ,

    --- 1900 ............................ 186   “  ,

    --- 1925 ............................ 102   “   (ca. 3% d. Bevölk.),

    --- 1933 ............................  98   “  ,

    --- 1940 (Mai) .................. ca.  15   “  .

Angaben aus: F.Hundsnurscher/G.Taddey, Die jüdischen Gemeinden in Baden - Denkmale, ..., S. 139

https://www.alemannia-judaica.de/images/Images%20471/Ihringen%20Dok%20202313.jpgStraßenansicht - Postkarte um 1905 (aus: alemannia-judaica.de)

 

Gegen Mitte des 19.Jahrhunderts hatte die jüdische Gemeinde Ihringens ihren numerischen Höchststand erreicht. Die meisten Ihringer Juden lebten vom Vieh- und Tuchhandel; einige Familien betrieben auch eine kleine Landwirtschaft im Nebenerwerb.

Geschäftsanzeigen jüdischer Gewerbetreibender (1900/1905):

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Anfang der 1930er Jahre gab es in Ihringen allein neun jüdische Vieh- und zwei Pferdehändler; daneben existierten u.a. mehrere Textilgeschäfte.

Schon zu Beginn der NS-Zeit waren einzelne jüdische Bewohner Ihringens den Attacken der Nationalsozialisten, die am Ort bereits früh über eine Anhängerschaft verfügten und diesen zu einer NS-Hochburg ausbauten, ausgesetzt.

Am 10.November 1938 steckten SS-Angehörige die Synagoge in Brand; anschließend wurden die jüdischen Bewohner aus ihren Wohnungen geholt und vor die brennende Synagoge geführt. Einige Männer wurden festgenommen und mehrere Wochen lang im KZ Dachau festgehalten. Während einem Teil der Ihringener Juden die Emigration gelang, zog der andere Teil nach Freiburg, Lörrach und andere Städte. Den Deportationstransporten nach Gurs gehörten insgesamt knapp 40 in Ihringen geborene Juden an; direkt aus dem Ort wurden Ende Oktober 1940 zwölf Personen deportiert.

Nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem/Jerusalem und des "Gedenkbuches - Opfer der Verfolgung der Juden ..." wurden 67 gebürtige bzw. längere Zeit am Ort ansässig gewesene jüdische Bewohner Ihringens Opfer der Shoa (namentliche Nennung der betroffenen Personen siehe: alemannia-judaica.de/ihringen_synagoge.htm).

 

 Unweit des Standortes der ehemaligen Synagoge erinnert seit 1980 eine Gedenktafel an die einstige jüdische Gemeinde Ihringens (Abb. J., 2011, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0); deren Inschrift lautet:

Im Westen, unweit dieser Stätte, stand das ehemalige jüdische Gotteshaus, das am 9.November 1938 gewaltsam zerstört wurde.

An jenes Unrecht und an die damaligen jüdischen Mitbürger soll dieser Gedenkstein erinnern und zur Verständigung aufrufen.

                                                                                                                                     Gemeinde Ihringen a.K.

2009 wurde auf dem Ihringener Synagogenplatz eine Gedenktafel enthüllt; über der in Hebräisch abgefassten Inschrift „Erinnere dich und vergiss nicht“ sind die Namen der jüdischen Bürger Ihringens zu lesen, die in der Zeit des Nationalsozialismus ermordet wurden.

Gedenktafel (Aufn. Joergens, 2011, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0)

Gedenkstein in Ihringen Beim zentralen Mahnmal für die deportierten badischen Juden in Neckarzimmern befindet sich auch ein Memorialstein, der 2004 von Schüler/innen der Freiburger Lessing-Realschule erstellt wurde (Abb. aus: mahnmal-neckarzimmern.de).

Der relativ große jüdische Friedhof mit seinen ca. 250 Grabsteinen liegt heute inmitten der Weinberge.

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Jüdischer Friedhof in Ihringen (Aufn. Veit Feger, 2008, aus: wikipedia.org, CCO und J. Steakley, 2004, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 3.0)

Grabsteine mit reicher Symbolik (alle Aufn. J. Hahn, 2003)

1990 und 2007 wurde der Friedhof schwer geschändet, indem fast alle der noch vorhandenen 200 Grabsteine umgestürzt und teilweise zerstört wurden; die Friedhofsmauer wurde zudem mit NS-Parolen beschmiert.

 

 

 

Weitere Informationen:

F.Hundsnurscher/G.Taddey, Die jüdischen Gemeinden in Baden - Denkmale, Geschichte, Schicksale, Hrg. Archivdirektion Stuttgart, Kohlhammer Verlag, Stuttgart 1968, S. 138 - 140

Joachim Hahn, Erinnerungen und Zeugnisse jüdischer Geschichte in Baden-Württemberg, Konrad Theiss Verlag, Stuttgart 1988, S. 148 - 150

N.N. (Red.), 4.000 demonstrierten gegen Schändung jüdischer Gräber – Schweigemarsch zum zerstörten Friedhof in Ihringen, in: "Südwestpresse“ vom 10.9.1990

Karl Günther, Juden aus Ihringen und Eichstetten auf dem alten Friedhof in Emmendingen, in: "S’Eige zeige, Jahrbuch des Landkreises Emmendingen", No. 5/1991, S. 75 - 99

Franz-Josef Ziwes (Hrg.), Badische Synagogen aus der Zeit von Großherzog Friedrich I. in zeitgenössischen Photographien, G.Braun Buchverlag, Karlsruhe 1997, S. 44 - 47

Margaretha Bookmann (Bearb.), Jüdischer Friedhof Ihringen, Unveröffentlichte Grunddokumentation des Landesdenkmalamtes Baden-Württemberg, 1997

Ulrich Baumann, Zerstörte Nachbarschaften. Christen und Juden in badischen Landgemeinden 1862 - 1940, in: "Studien zur jüdischen Geschichte", Band 7, Dölling und Galitz Verlag, Hamburg 2001

Ursula Huggle (Bearb.), Angeklagt wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit - die Pogromnacht in Freiburg, Breisach, Ihringen und Eichstetten im Spiegel des Prozesses von 1949, in: "ZGO - Zeitschrift für Geschichte des Oberrheins", No.149/2001, S. 437 - 469

Manfred Bosch (Hrg.), Alemannisches Judentum - Spuren einer verlorenen Kultur, Edition Isele, Eggingen 2001

Peter Künzel (Bearb.), Emigration oder Deportation? Zum Schicksal der jüdischen Familie Judas aus Ihringen, in: "Badische Heimat – mein Heimatland. Zeitschrift für Landes- und Volkskunde", Freiburg 2005

Joachim Hahn/Jürgen Krüger, “Hier ist nichts anderes als Gottes Haus ...” Synagogen in Baden-Württemberg, Teilband 2: Orte und Einrichtungen, Konrad Theiss Verlag GmbH, Stuttgart 2007, S. 223 - 225

Ihringen, in: alemannia-judaica.de (mit zahlreichen Text- u. Bilddokumenten zur jüdischen Ortshistorie)

N.N. (Red.), 79 Grabsteine, zerstört oder beschädigt – vor zwei Jahren haben drei Jugendliche den jüdischen Friedhof in Ihringen geschändet. Jetzt sind die Steine restauriert. Mit einer Feierstunde wurde der Abschluss der Arbeiten und der Holocaust-Gedenktag begangen, in: "Badische Zeitung" vom 21.4. 2009

Kai Kricheldorff (Red.), Dokumentation über die Geschichte der Juden in Ihringen, in: „Badische Zeitung“ vom 23.11.2009

Kai Kricheldorff (Red.), Auf Spurensuche in Ihringen, in: „Badische Zeitung“ vom 12.6.2014

Wulf Rüskamp (Red.), Ihringer Ahnenforscher: „Elf Prozent der Ihringer Bevölkerung waren jüdisch“, in: „Badische Zeitung“ vom 21.10.2023

Wulf Rüskamp (Red.), Der Jüdische Friedhof in Ihringen: Von den Nazis verschont, aber noch Jahrzehnte später attackiert, in: „Badische Zeitung“ vom 22.10.2023