Kirtorf (Hessen)
Kirtorf ist eine kleine Kommune mit derzeit ca. 3.300 Einwohnern im äußersten Nordwesten des hessischen Vogelsbergkreises - ca. 35 Kilometer östlich von Marburg gelegen (Ausschnitt aus hist. Karte von 1905, aus: wikipedia.org, gemeinfrei und Kartenskizze 'Vogelsbergkreis', Andreas Trepte 2006, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 2.5).
In der zweiten Hälfte des 17.Jahrhunderts lassen sich jüdische Ansiedlungen in Kirtorf urkundlich nachweisen, erstmalig im Jahre 1661. Die anfangs nur wenigen Familien standen unter dem Schutz der Freiherren von Schenck. Im Dorf waren die jüdischen Familien nicht immer gut gelitten: So wurde z.B. seitens christlicher Gottesdienstbesucher beklagt, dass „am heiligen Tag der Christen“ die Juden „durch ihr lautes Getön“ die Andacht störten. Es wurde sogar die Forderung an den Kirtorfer Gemeinderat herangetragen, die jüdischen Familien aus dem Dorfe zu verweisen.
Seit ca. 1800 soll offiziell eine jüdische Gemeinde existiert haben, die im Laufe der Jahre auch über eigene gemeindliche Einrichtungen wie Betraum/Synagoge, Schule, Mikwe und Friedhof verfügte.
Ehem. Mikwe am Mühlengraben (aus: juedische-geschichte-vogelsberg.de)
An Stelle eines maroden Gebäudes ließen die Kirtorfer Juden 1901 eine neue Synagoge am Alsfelder Tor errichten.
Synagoge hinten rechts im Bild (aus: juedische-geschichte-vogelsberg.de)
Kurzzeitig bestand auch eine israelitische Elementarschule am Ort (1840/1842). Die jüdischen Kinder aus Kirtorf und Ober-Gleen wurden später gemeinsam unterrichtet.
aus: „Der Israelit“ vom 2.5.1904 und 8.2.1900
Bis in die 1830er Jahre begruben die Kirtorfer Juden ihre Verstorbenen auf dem jüdischen Friedhof in Homberg (Kreis Alsfeld). Ab 1832 stand ihnen dann ein eigenes Beerdigungsgelände an einem Hang außerhalb des Dorfes zur Verfügung.
Die Gemeinde Kirtorf gehörte zum orthodoxen Provinzialrabbinat Gießen.
Juden in Kirtorf:
--- um 1700 ........................ 3 jüdische Familien,
--- um 1770 ........................ 6 “ “ ,
--- 1830 ........................... 49 Juden,
--- 1861 ........................... 57 " (ca. 5% d. Bevölk.),
--- 1880 ........................... 66 “ (ca. 7% d. Bevölk.),
--- 1895 ........................... 64 “ ,
--- 1905 ........................... 55 “ ,
--- 1919 ........................... 67 “ ,
--- 1925 ........................... 45 “ ,
--- 1932/33 .................... ca. 35 “ ,
--- 1939 ........................... 10 “ ,
--- 1942 (Aug.) .................... 7 “ ,
(Okt.) .................... keine.
Angaben aus: Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang - Untergang - Neubeginn, Bd. 1, S. 447/448
Die Kirtorfer Juden verdienten ihren Lebenserwerb im Vieh- und Pferdehandel, waren aber auch im Kleinhandel tätig; im Nebenerwerb wurde oft noch Landwirtschaft betrieben.
Kleinanzeige aus: "Frankfurter Israelitisches Familienblatt" vom 20.12.1912
Zu Beginn der NS-Herrschaft lebten in Kirtorf noch ca. 35 Juden; Abwanderung in die Städte und Emigration führten bald zum Ende der Kirtorfer Gemeinde.
Während des Novemberpogroms war der Synagogenraum demoliert worden; die Ritualien und die Inneneinrichtung wurden zerstört und auf dem Marktplatz verbrannt. Das Grundstück wurde alsbald an einen hiesigen Landwirt verkauft, der das inzwischen baufällige Gebäude Anfang der 1950er Jahre abreißen ließ. Die letzten sieben noch verbliebenen jüdischen Bewohner Kirtorfs wurden im September 1942 deportiert. Nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem/Jerusalem und des "Gedenkbuches - Opfer der Verfolgung der Juden ..." sind insgesamt zehn aus Kirtorf stammende Opfer der „Endlösung“ geworden (namentliche Nennung der betroffenen Personen siehe: alemannia-judaica.de/kirtorf_synagoge.htm).
Seit 1983 erinnert ein unscheinbarer Gedenkstein an die einstige Synagoge Kirtorfs.
2019 erfolgte - im Rahmen des 1.100jährigen Dorfjubiläums - die erstmalige Verlegung von elf sog. "Stolpersteinen" an drei Stellen im Ort; die Initiative dafür war vom Kirtorfer Heimatverein und dem Aktionsbündnis gegen Rechtsextremismus ausgegangen.
Der an einem Hanggelände liegende ca. 1.100 m² große jüdische Friedhof, der während der NS-Zeit unangetastet blieb, weist heute 57 Grabsteine auf, die in drei Reihen aufgestellt sind; die ältesten stammen aus den 1840er Jahren.
Grabmale - Kirtorfer Friedhof (Aufn. aus: hiveminer.com)
Das Dorf Ober-Gleen, ca. zehn Kilometer westlich von Alsfeld gelegen, gehörte früher zum Herrschaftsbereich der Freiherren Schenck zu Schweinsberg. Die hiesige jüdische Kultusgemeinde bestand aus nur wenigen Familien. Um 1830 waren es nahezu 50 Personen, ein halbes Jahrhundert später ca. 60. Eine Synagoge – ein zweigeschossiger Fachwerbau - wurde im Jahre 1874 in der Obergasse gebaut.
Ehemaliges Synagogengebäude (aus: Th. Altaras)
Ihre Verstorbenen begrub die kleine Gemeinde auf dem Friedhof in Angenrod. Anfang der 1930er Jahre lebten im Dorf noch ca. 25 jüdische Bewohner in sechs Familien. Während des Pogroms von 1938 wurde das Inventar der Synagoge (vermutlich) zerstört. Ein Jahr später lebten keine jüdischen Bewohner mehr am Ort; sie waren zumeist nach Frankfurt/M. abgewandert; von hier wurden sie vermutlich deportiert.
Nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem/Jerusalem und des "Gedenkbuches - Opfer der Verfolgung der Juden ..." sollen 16 gebürtige bzw. längere Zeit am Ort ansässig gewesene jüdische Bewohner Ober-Gleens der "Endlösung" zum Opfer gefallen sein (namentliche Nennung der betroffenen Personen siehe: alemannia-judaica.de/ober-gleen_synagoge.htm).
Gedenktafeln an der restaurierten Friedhofmauer erinnern seit 2010 an die hiesigen Opfer der NS-Gewaltherrschaft.
Im Rahmen der Dorferneuerung wurde 2015/2016 auch das ehemalige jüdische Bethaus saniert. vgl. Ober-Gleen (Hessen)
Anmerkungen: "Judenpfade" waren im 18. und 19. Jahrhundert Wege, auf denen jüdische Händler als Hausierer, Vieh- oder Kleinhändler zu den lokalen Märkten gelangten. Der seit 2012 bestehende Wanderweg „Judenpfad" (vom 1999 gegründeten Förderverein zur Geschichte des Judentums im Vogelsberg ins Leben gerufen) erinnert an die Bedeutung der jüdischen Minderheit "als Händler und Mittler" zwischen den Bauern im Vogelsberg-Gebiet. Der Wanderweg führt dabei an ehemaligen Synagogen (Kestrich, Romrod), alten Friedhöfen (Ulrichstein, Angenrod, Storndorf) und Museen mit jüdischen Abteilungen (Alsfeld, Kirtorf) vorbei. Auf am Wegesrand aufgestellten Tafeln wird über die Geschichte der "Landjuden" der Region informiert. Ein Teilstück des sog. "Judenpfades" befindet sich zwischen Kirtorf und Ober-Gleen.
Weitere Informationen:
Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang - Untergang - Neubeginn, Societäts-Verlag, Frankfurt/M. 1971, Bd. 1, S. 447/448 (Kirtorf) und Bd. 2, S. 150 (Ober-Gleen)
Thea Altaras, Synagogen in Hessen (betr. Ober-Gleen). Was geschah seit 1945?, Königstein i. Ts. 1988, S. 111 (Neubearbeitung 2007, S. 262/263)
Annette Weber-Möckl, Die Judengemeinde in Kirtorf und Oberkleen, in: Magistrat der Stadt Kirtorf (Hrg.), Kirtorf und das Eußergericht, 1989
Thea Altaras, Das jüdische Rituelle Tauchbad und Synagogen in Hessen. Was geschah seit 1945? Teil II, Königstein i.Ts. 1994, S. 99 - 101 (sowie in Neubearbeitung der beiden Bände 2007, S. 258 - 260)
A. Wiesemüller/M. Krauss, Jüdische Friedhöfe im Vogelsbergkreis, in: Kulturverein Lauterbach e.V. (Hrg.), Fragmente ... jüdischen Lebens im Vogelsberg, Lauterbach 1994, S. 82
Katharina Jakob, Juden in Kirtorf, hrg. vom Verein Landjudentum Vogelsberg, 2011 (als PDF-Datei abrufbar)
Kirtorf und Ober-Gleen, in: alemannia-judaica.de (mit diversen Text- u. Bilddokumenten zur jüdischen Ortshistorie)
Einweihung eines ungewöhnlichen Wanderweges (Aufsatz vom April 2012), online abrufbar unter: kulturverein-storndorf.de
Jüdische Geschichte hautnah begreifen – Judenpfad wird eröffnet, in: "Osthessen News" vom 20.4.2012
Der jüdische Friedhof und ein beharrlicher Bürgermeister, in: Jüdische Geschichte Vogelsberg, online abrufbar unter: daten2.verwaltungsportal.de/dateien/seitengenerator/11_jgv.schautafeln2011_31.pdf
Jüdische Geschichte Vogelsberg (Hrg.), 1661: Erste Juden in Kirtorf, online abrufbar unter: dropbox.com/,,,/juden-in-kirtorf.pdf
Nicole Frank (Red.), Elf Steine gegen das Vergessen, in: "Oberhessische Zeitung“ vom 2.3.2018
Rolf Schwickert (Red.), Stolpersteine mahnen, in: „Gießener Allgemeine“ vom 27.3.2019