Kittsee/Burgenland (Österreich)

http://bglv1.orf.at/static/vietnam2/images/site/oesv1/201008/sieben_big.jpgKittsee ist heute eine Marktgemeinde mit derzeit ca. 3.500 Einwohnern im Bezirk Neusiedl am See; der slowakische Ortsname ist Kopčany, der ungarische Köpcsény, der kroatische Gijeca (Kartenskizze des Burgenlandes, aus: ORF).

 

Die jüdische Gemeinde von Kittsee (Köpcsény) entstand im 17.Jahrhundert und gehörte ab 1716 zu den sog. „Sieben-Gemeinden” auf dem Gebiet des Fürsten v. Esterházy; zu ihnen zählten auch Deutschkreutz (Németkeresztur), Eisenstadt (Kismarton), Frauenkirchen (Boldogasszony), Kobersdorf (Kabold), Lackenbach (Lakompak) und Mattersdorf/Matterburg (Nagymarton).

Regelmäßig erneuerte Schutzbriefe und -privilegien sicherten der Kittseer Gemeinde ihren Bestand. Ein 1690 in Eisenstadt herausgegebenes „Privilegium“ sicherte auch den Juden in Kittsee gewisse Rechte zu; so hieß es u.a.: „ ... dass er den Juden allerlei Handel bewilligt und Gewerbe, wie Fleischhauerei, die Gewerbe eines Schneiders, Schusters, Kürschners, Friseurs, Goldschmieds, die Beschäftigung als Arzt. Sie können auch Branntwein brennen, Mauten übernehmen, ... Sie müssen sich bei der Herrschaft Heiratserlaubnisse holen, für ihren Schutz eine laufende Gebühr zahlen, können aber ihre Angelegenheiten durch eine eigene Gemeindeverwaltung unter Aufsicht der Herrschaft selbst erledigen. ... (aus: Hugo Gold (Hrg.), Gedenkbuch der untergegangenen Judengemeinden des Burgenlandes)

Berühmt geworden ist die um 1770 von dem jüdischen Lehrer Hayyim ben Asher Anshel verfasste Kittseer Haggada, ein aus 42 Pergamentseiten bestehendes Buch mit farbenprächtigen Illustrationen. Außer der Titelseite zeigen alle Blätter nur Blumenmotive.

                                         Titelseite der Kittseer Haggada von 1770  

Die Synagoge der Kittseer Judenschaft - vermutlich bereits im 17.Jahrhundert erbaut - war in einem ehemaligen Nonnenkloster untergebracht; dieses Gebäude war der Gemeinde von ihrem "Schutzherrn" überlassen worden; 1826 ging es in den Besitz der Gemeinde über. Neben der „Schul“ waren auch eine Reihe von Wohnungen hier untergebracht.

        Synagoge Kittsee (Bildmitte) um 1925 (Jüd. Museum Eisenstadt)

Ein von einer Mauer umgebener Friedhof - in unmittelbarer Nähe des Schlosses gelegen - gehörte ebenfalls zu den Einrichtungen der Kittseer Judengemeinde; dessen Anlage soll im 18.Jahrhundert erfolgt sein. 

Seit 1885 gehörten auch die wenigen jüdischen Familien aus dem benachbarten Gattendorf zur Kittseer Gemeinde.

Juden in Kittsee:

         --- 1648 ...................   3 jüdische Familien,

    --- 1735 ................... 266 Juden,

    --- 1780 ................... 363   “  ,

    --- 1821 ............... ca. 790   “  ,

    --- 1842 ................... 625   “  ,

    --- 1867 ................... 179   “  ,

    --- 1873 ................... 132   “  ,

    --- 1880 ................... 111   “  ,

    --- 1900 ................... 101   “  ,

    --- 1910 ...................  92   “  ,

    --- 1934 ...................  62   “  ,

    --- 1938 (Mai) .............  keine.

Angaben aus: Johannes Reiss, Aus den sieben Gemeinden - Ein Lesebuch über Juden im Burgenland

 

Als die Juden den christlichen Bürgern gleichgestellt wurden, verzogen viele von Kittsee - wie auch von den anderen sechs jüdischen Gemeinden - nach Wien.

In der Zwischenkriegszeit befand sich der Großteil der Geschäfte jüdischer Kaufleute entlang der Hauptstraße und am Hauptplatz.

Kurz vor dem sog. „Anschluss” an das Deutsche Reich 1938 lebten nur noch sehr wenige Juden im Ort. In der Nacht vom 17./18.April 1938 wurden die noch verbliebenen Juden von Kittsee und der Nachbargemeinde Pama aus ihren Häusern geschleppt und zur Donau getrieben. Mehrere Tage lang mussten sie im österreichisch-tschechisch-ungarischen Grenzgebiet verbringen, ehe es jüdischen Hilfsorganisationen gelang, den jüdischen Flüchtlingen auf einem Schleppkahn Unterkunft zu geben; vier Monate lang mussten sie dort ausharren. Die meisten erhielten dann eine Aufenthaltserlaubnis für die Tschechoslowakei.

Anm.: Der jüdische Schriftsteller Friedrich Wolf hat über das Schicksal der aus Kittsee vertriebenen Juden ein Theaterstück verfasst, das den Titel „Das Schiff auf der Donau“ trägt.

 

Der jüdische Friedhof, in unmittelbarer Nachbarschaft des Schlosses Kittsee gelegen, ist derzeit der einzige in Österreich, der unter Denkmalschutz steht. Unter den mehr als 200 Gräbern befindet sich auch das von Chajim Ascher Anschel, der durch seine illustrierte Pessach-Haggadah (von 1770) Berühmtheit erlangte.

 

jüdischer Friedhof in Kittsee (Aufn. Peter Lauppert, 2012, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0 at)

Das ehemalige Synagogengebäude in der Herrengasse - es diente nach 1945 als Unterkunft für vertriebene Deutsche - wurde im Jahre 1950 abgerissen. Am Standort der ehemaligen Synagoge wurde im Juni 2008 eine Gedenktafel enthüllt, die den Angehörigen der jüdischen Gemeinde Kittsee gewidmet ist, die Opfer des Nationalsozialismus wurden.

 

  Das berühmteste Mitglied der jüdischen Gemeinde Kittsee war der 1831 geborene Joseph Joachim. Er machte sich als Komponist und Geiger einen Namen. In den 1850/60er Jahren war er als Konzertmeister in Hannover tätig und gehörte zu den herausragendsten Persönlichkeiten in der Musikgeschichte Hannovers. Ab 1868 fungierte Joseph Joachim als Direktor der neu gegründeten Kgl. Akademischen Hochschule für Musik in Berlin. Er verstarb 1907 an seinem Wirkungsort. In Berlin-Charlottenburg wurde 1967 am Joseph-Joachim-Platz eine Gedenktafel aufgestellt, die an den Namensgeber des Platzes erinnert.  

 

 

Im nur wenige Kilometer südlich von Kittsee entfernten Gattendorf war bis in die 1880er Jahre eine kleine jüdische Gemeinde existent.

[vgl. Gattendorf (Österreich]

 

 

 

Weitere Informationen:

Otto Abeles, Altes und neues Judentum im Burgenland - Intermezzo in Kittsee, in: "Wiener Morgenzeitung" vom 20.2. 1927

Hans Gasser (Red.), Der Judentempel in Kittsee. Eine geschichtliche Studie, in: „Burgenländisches Volksblatt“ vom 25.3.1950

Josef Loibersbeck, Beiträge zur Geschichte des Burgenlandes, in: “Volk und Heimat”, No. 14/1958

Friedrich Wolf, Das Schiff auf der Donau - Ein Drama aus der Zeit der Okkupation durch die Nazis, in: Gesammelte Werke in 16 Bänden, IV, Berlin 1960, S. 319 ff.

Hugo Gold (Hrg.), Gedenkbuch der untergegangenen Judengemeinden des Burgenlandes, Tel Aviv 1970

Herbert Rosenkranz, Verfolgung und Selbstbehauptung. Die Juden in Österreich 1938 - 1945, Herold-Verlag Wien 1978

Widerstand und Verfolgung im Burgenland 1934 bis 1945 - eine Dokumentation, Hrg. Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes, Wien 1979, S. 294 ff.

Marion Degwerth, Die jüdische Gemeinde Kittsee, Seminararbeit am Institut für Volkskunde, Universität Wien 1991

Shalom Fried, Auf den Spuren jüdischen Lebens im Burgenland. Das Erbe der Schewa Kehiloth, in: Mahnmale. Jüdische Friedhöfe in Wien, Niederösterreich und Burgenland, Wien 1992, S. 116 ff.

Rudolf Kropf (Hrg.), Juden im Grenzraum. Geschichte, Kultur und Lebenswelt der Juden im Burgenländisch-Westungarischen Raum und in den angrenzenden Regionen vom Mittelalter bis zur Gegenwart, in: "Wissenschaftliche Arbeiten aus dem Burgenland", Heft 92, Eisenstadt 1993

Johannes Reiss, Aus den sieben Gemeinden - Ein Lesebuch über Juden im Burgenland, hrg. aus Anlaß des Jubiläums 25 Jahre Österreichisches Jüdisches Museum Eisenstadt, Eisenstadt 1997, 107 ff.

Burgenländische Volkshochschulen (Hrg.), Zerstörte Gemeinden im Burgenland - Eine Spurensuche 2002, in: www.vhs.a-business.co.at

Veronika Plöckinger (Red.), Zerstörte jüdische Gemeinden im Burgenland - eine Spurensicherung am Beispiel Kittsee, Hrg. Österreichisches Museum für Volkskunde/Ethnographisches Museum Schloss Kittsee, Wien 2005

Peter F.N. Hörz, Jüdische Kultur im Burgenland. Historische Fragmente – volkskundliche Analysen, in: "Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Ethnologie der Universität Wien", Band 26, Wien 2005, S. 227 – 237

Die jüdische Gemeinde Kittsee, in: Jüdische Kulturwege im Burgenland, online abrufbar unter: forschungsgesellschaft.at/routes/kittsee

Johannes Scholem Graf (Red.), Destroyed jewish community: Kittsee, online abrufbar unter: scholemandfriends.com

Naama G. Magnus, Auf verwehten Spuren – Das jüdische Erbe im Burgenland, Teil 1: Nord- und Mittelburgenland, hrg. vom Verein zur Erhaltung und kulturellen Nutzung der Synagoge Kobersdorf, 2013

Theresa Waltenberger, Virtuelle Rekonstruktion der Synagoge in Kittsee, Diplomarbeit an der TU Wien, 2015

Burgenländische Forschungsgesellschaft (Hrg.), Jüdische Kulturwege im Burgenland – Rundgänge durch die „Sieben Gemeinden“ (Schewa Kehillot) und die Gemeinden des Südburgenlandes, Broschüre, 1. Aufl., Eisenstadt 2016, S. 14/15 (auch online abrufbar unter: forschungsgesellschaft.at)

burgenland/ORF.at (Red.), Esterhazy zeigt Schau über „Siebengemeinden“, online abrufbar unter: burgenland.orf.at/stories/3159463/ (vom 6.6.2022)