Kleinerdlingen/Ries (Schwaben/Bayern)
Kleinerdlingen - ein Pfarrdorf mit derzeit ca. 650 Einwohnern - gehört heute zur Stadt Nördlingen im schwäbischen Landkreis Donau-Ries in Bayern (Kartenskizze 'Landkreis Donau-Ries', Hagar 2010, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 3.0).
Die Wurzeln einer jüdischen Gemeinde in Kleinerdlingen reichen bis Ende des 15.Jahrhunderts zurück. Eine vorübergehende Ausweisung der jüdischen Familien durch den herrschenden Johanniterorden (1507) machte Graf Joachim von Oettingen-Wallerstein zwei Jahre später rückgängig und ließ erneut Juden im Dorf ansiedeln. Bereits 1514 mussten sie Kleinerdlingen aber wieder verlassen. Etwa ca. 140 Jahre später durften Juden wieder im Dorfe ansässig werden. Ihre größte Zahl erreichte die jüdische Gemeinschaft in der zweiten Hälfte des 18.Jahrhunderts mit ca. 35 Familien; ihr Wohngebiet lag im Bereich des „Judenhofes“. Die von ihnen abverlangten Schutzgelder gingen dabei zum einen an den Johanniter-Orden und zum anderen an die Oettinger Grafen, die sich z.T. mit recht hohen Beträgen die jüdische Ansiedlung entgelten ließen.
Seit 1786 besaßen die Kleinerdlinger Juden ein Synagogengebäude in der Erninger Straße; zuvor waren Gottesdienste in privaten Räumen abgehalten worden.
Grundriss-Skizze und Innenansicht der Synagoge (hist. Aufn. um 1925, aus: Th. Harburger)
Zur Verrichtung religiöser gemeindlicher Aufgaben war ein Lehrer angestellt, der zugleich als Vorbeter angestellt war. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte dieses Amt fast vier Jahrzehnte lang Elias Eldod inne. (Anm.: Vermutlich war er aber nicht – wie es sonst in den kleinen Landgemeinden üblich war – auch gleichzeitig Schächter der Gemeinde tätig.)
Von 1860 bis 1876 gehörte Kleinerdlingen zum Rabbinatsbezirk Wallerstein. In den Jahren danach war Kleinerdlingen sogar kurzzeitig Sitz des Rabbinats Wallerstein. Nach dem Tode des hier amtierenden Rabbiners David Weiskopf (1882) leitete Marx Michael Kohn (geb. 1826 in Kleinerdlingen) als letzter Bezirksrabbiner das hiesige Rabbinat . Nach seinem Tode (1888) wurde es aber nicht wieder besetzt und anschließend die Gemeinde dem Bezirksrabbinat Ichenhausen angegliedert.
aus der Zeitschrift „Der Israelit“ vom 23. Aug. 1876
Der Friedhof in Wallerstein diente verstorbenen Juden aus Kleinerdlingen sowie aus anderen Ries-Dörfern als letzte Ruhestätte.
Juden in Kleinerdlingen:
--- um 1510 .......................... 8 jüdische Familien,
--- 1515 - 1658 ...................... keine
--- 1684 ............................. 8 “ “ ,
--- 1728 ............................. 49 " " (Angabe fraglich)
--- 1735 ............................. 26 “ “ ,
--- 1769 ............................. 34 “ “ ,
--- 1850 ............................. ? “ “ ,
--- 1892 ............................. 12 " " ,
--- um 1900 .......................... 18 Juden,
--- 1928 ............................. 5 “ .
Angaben aus: Ludwig Müller, Aus fünf Jahrhunderten. Beiträge zur Geschichte der jüdischen Gemeinden im Ries
Als das nahegelegene Nördlingen nach 1860 den Zuzug und die Ansiedlung jüdischer Familien gestattete, verließen auch Kleinerdlinger Juden ihr Heimatdorf; sie sahen in der Stadt bessere wirtschaftliche Perspektiven.
Um 1900/1905 war die jüdische Gemeinde Kleinerdlingen in Auflösung begriffen, offiziell erfolgte diese aber erst im Jahre 1934/1935.
aus: "Bayerische Israelitische Gemeindezeitung" vom 1.Jan. 1935
Nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem/Jerusalem und des "Gedenkbuches - Opfer der Verfolgung der Juden ..." wurden fünf aus Kleinerdlingen stammende jüdische Bewohner Opfer der „Endlösung“ (namentliche Nennung der betroffenen Personen siehe: alemannia-judaica.de/kleinerdlingen_synagoge.htm).
Das Synagogengebäude ging Anfang der 1930er Jahre in Form einer öffentlichen Versteigerung in Privathand über und wurde fortan als Scheune genutzt; in den 1990er Jahren wurde das Gebäude abgerissen.
Namentlich an die jüdische Gemeinde erinnert am Ort die heute noch erhaltene Bezeichnung “Judenhof”.
Der aus Kleinerdlingen stammende Pinchas Kohn (geb. 1867), Sohn des Rabbiners Marx Michael Kohn, erhielt neben einer religiösen Unterrichtung innerhalb der Familie auch Privatunterricht in den allgemeinbildenden Fächern. Dem Schulbesuch in Halberstadt schloss sich eine theologische Ausbildung in der dortigen Jeschiwa an. Danach besuchte er das Rabbinerseminar in Berlin und begann gleichzeitig ein Studium in Philologie und Philosophie. Nach dreijähriger Tätigkeit als Stiftsrabbiner und Lehrer in Mannheim wechselte er 1893 nach Ansbach, wo er kurzzeitig als letzter Bezirksrabbiner amtierte, ehe er kurz vor Beginn des Zweiten Weltkrieges via Schweiz u. London nach Palästina emigrierte; er starb zwei Jahre später in Jerusalem.
Weitere Informationen:
Ludwig Müller, Aus fünf Jahrhunderten. Beiträge zur Geschichte der jüdischen Gemeinden im Ries, in: "Zeitschrift des Historischen Vereins für Schwaben und Neuburg", No.26/1899, S. 81 - 183
Gerhard Wilhelm Daniel Mühlinghaus, Der Synagogenbau des 17. u. 18.Jahrhunderts im aschkenasischen Raum, Dissertation, Philosophische Fakultät Marburg/Lahn, 1986, Band 2, S. 218 - 220
Israel Schwierz, Steinerne Zeugnisse jüdischen Lebens in Bayern - Eine Dokumentation, Hrg. Bayrische Landeszentrale für politische Bildungsarbeit, 2.Aufl., München 1992, S. 263
Rolf Hofmann, Der jüdische Friedhof in Wallerstein. Historischer Hintergrund und neueste Forschungsergebnisse, in: Rieser Kulturtage, Dokumentation Band XII/1998, S. 139 - 152
Rolf Hofmann, Dokumentation zum jüdischen Friedhof in Wallerstein – Projekt in Kooperation mir R. Dror/D. Birnbaum, M.Jacoby und R. Litai-Jacoby (Israel), 2007
A. Hager/C. Berger-Dittscheid (Bearb.), Wallerstein, in: Mehr als Steine ... Synagogengedenkband Bayern, Band 1, Kunstverlag Josef Fink, Lindenberg/Allgäu 2007, S. 530 - 539
Kleinerdlingen (Stadt Nördlingen), in: alemannia-judaica.de (mit zumeist personenbezogenen Dokumenten zur jüdischen Ortshistorie)
Am Judenhof in Kleinerdlingen – Kurzaufsatz, aus: Jüdisch Historischer Verein Augsburg, 2015 (online abrufbar unter: jhva.wordpress.com)