Kleinwallstadt/Main (Unterfranken/Bayern)
Kleinwallstadt ist ein Markt mit derzeit ca. 5.700 Einwohnern im nördlichen Teil des unterfränkischen Landkreises Miltenberg - etwa 15 Kilometer südlich von Aschaffenburg gelegen (Kartenskizze 'Landkreis Miltenberg', Hagar 2010, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 3.0).
Im ausgehenden 17.Jahrhundert sollen bereits sechs jüdische Familien in Kleinwallstadt gelebt haben, die damals vermutlich bereits eine kleine Kultusgemeinde bildeten. In der zweiten Hälfte des 18.Jahrhunderts besaßen die Vorsteher der Kleinwallstädter Gemeinde führende Funktionen innerhalb der Landjudenschaft im Erzstift Mainz.
Um 1780 bestritten die im Ort lebenden jüdischen Familien ihren Lebensunterhalt mit dem Verkauf von Landesprodukten (Viehhäute, Wolle, Honig); einige betrieben auch eine kleine Landwirtschaft im Nebenerwerb. Bei der Erstellung der Matrikellisten (1817) sind für Kleinwallstadt zwölf Familien aufgeführt.
Zu den gemeindlichen Einrichtungen zählten eine 1827 eingeweihte Synagoge, die einen bestehenden Betsaal ersetzte, und eine Mikwe im Erdgeschoss des Gebäudes.
Religionsunterricht für die jüdischen Kinder aus Kleinwallstadt und Nachbarorten (Hofstetten, Ober- u. Unterhausen und Sulzbach) wurde von einem angestellten Lehrer erteilt, der gleichzeitig auch als Kantor und Schochet tätig war. Im Jahre 1899 wurde im Ort der Neubau eines Schulhauses fertiggestellt und gleichzeitig dort die neue jüdische Elementarschule eingeweiht.
Über die Einweihung berichtete die Zeitschrift „Der Israelit“ vom 26.9.1899:
" Kleinwallstadt (Unterfranken). Es ist gewiß eine erfreuliche Erscheinung, wenn eine kleine Landgemeinde der Bildungsstätte ihrer Jugend besondere Pflege angedeihen läßt, wie dies bei der Kultusgemeinde Kleinwallstadt der Fall ist. Sie hat im verflossenen Jahre ihre Religionsschule in eine Elementarschule umgewandelt ...
Zur Einweihungsfeier dieses neu erbauten Schulhauses hatten sich ... die gesamte Kultusgemeinde und viele Auswärtige in dem festlich dekorirten Lehrsaale der neu erbauten Schule versammelt, woselbst sich auch auf Einladung der Kultusgemeinde Herr kgl. Bezirksamtmann Fischer aus Obernburg, Herr kgl. Lokalschulinspektor Pfarrer Löffler, Herr Bezirkstechniker Haas, der Herr Bürgermeister, Herren Gemeinderäthe und die Herren Lehrer des Ortes einfanden. ... Dank zollte er (Lehrer Grünfeld) hierauf den Schulbehörden für das Wohlwollen, das sie der Kultusgemeinde bei ihrem Unternehmen entgegenbrachten, der gesamten Kultusgemeinde mit ihrem tatkräftigen Vorstand, für ihre Opferwilligkeit und Hingebung zur Sache. Des Weiteren hob er hervor, dass ein sittlich religiöser Geist das ganze Schulleben durchzieht, daß aber auch die Schule eine Pflanz- und Pflegestätte einer vernünftigen Bildung und der Liebe zu König und Vaterland sein müsse. Mit einem begeistert aufgenommenen Hoch auf den Landesregenten, Seiner königlichen Hoheit Prinz Luitpold von Bayern, schloß der Redner seine Ausführungen. ... Herr Bezirksamtmann gratulierte der Kultusgemeinde, rühmte ihre Opferwilligkeit und äußerte den Wunsch, daß der bisherige gute Stand der Schule auch in das neue Haus übertragen werden möge. Herr Bürgermeister Rohe dankte der Kultusgemeinde für das schöne Haus, das eine Zierde des ganzen Ortes sei, betonte das gute Einvernehmen der politischen mit der Kultusgemeinde. ... Mit Stolz kann die Kultusgemeinde auf ihr vollbrachtes Werk und ihre heutige Feier, die sich einem Kiddusch Haschem (Heiligung Gottes) im wahrsten Sinne des Wortes gestaltete, zurückblicken. ..." (Text stark gekürzt wiedergegeben)
Doch musste bereits 1913 der Unterrichtsbetrieb der Elementarschule wegen zu geringer Schülerzahl eingestellt werden. Die wenigen Kinder erhielten fortan Privatunterricht durch den Religionslehrer aus Schöllkrippen.
Stellenanzeigen aus der Zeitschrift „Der Israelit“ vom 3.7.1872 - 28.3.1889 - 4.3.1920
Ihre verstorbenen Gemeindeangehörigen beerdigte die Judenschaft Kleinwallstadts auf dem Bezirksfriedhof am „Erbig“ in Schweinheim bei Aschaffenburg; bereits 1715 war die Kleinwallstädter Judenschaft Miteigentümer des Begräbnisgeländes und gehörte der dortigen Beerdigungsbruderschaft an.
Seit 1931 gehörten auch die Juden aus Hofstetten zur Kleinwallstadter Kultusgemeinde.
aus: "Bayerische Israelitische Gemeindezeitung" vom 15.4.1931
Zuletzt unterstand die kleine Gemeinde dem Bezirksrabbinat in Aschaffenburg.
Juden in Kleinwallstadt:
--- 1691 ......................... 6 Schutzjuden,
--- 1771 ......................... 3 “ ,
--- 1782 ......................... 6 jüdische Familien,
--- um 1805 ...................... 8 jüdische Familien,
--- 1814 ......................... 52 Juden (ca. 4% d. Bevölk.),
--- 1835 ......................... 12 jüdische Familien,
--- 1855 ......................... 14 “ “ ,
--- um 1865 ...................... 66 Juden (ca. 5% d. Bevölk.),
--- 1880 ......................... 54 “ ,
--- 1900 ......................... 81 “ ,
--- 1924 ......................... 50 “ ,
--- 1933 ......................... 45 “ ,
--- 1938 (Jan.) .................. 17 “ ,
(Nov.) .................. 2 “ ,
--- 1939 ......................... keine.
Angaben aus: Helmuth Lauf, Das Schicksal jüdischer Gemeinden im Main-Spessart-Tauber-Gebiet, S. 14
und Synagogengedenkband Bayern (Unterfranken), Band III/1, Mehr als Steine ..., S. 433
Hauptstraße (aus: kleinwallstadt.de)
Anfang der 1920er Jahre wurden 14 Wohn- u. Geschäftshäuser von jüdischen Bürgern bewohnt bzw. betrieben; sie arbeiteten als Viehhändler und Metzger oder betrieben sonstige Handelsgeschäft.
Da bereits Anfang der 1930er Jahre in der Gemeinde kein Minjan mehr zustandekam, fanden Gottesdienste nur noch sehr selten statt. Immer mehr Juden wanderten ab; dazu trugen die nach der NS-Machtübernahme bald zur Tagesordnung gehörenden antijüdischen Ausschreitungen bei; regelmäßig wurden Fenster der Synagoge und von Juden bewohnter Häuser eingeschlagen. Den meisten jüdischen Bewohnern gelang es noch, ihren Besitz zu verkaufen, ehe sie den Ort verließen.
Aus dem Oktober-Bericht der Stapoleitstelle München I 1 A vom 1.1.1936:
„ ... In der Synagoge zu Kleinwallstadt kam es zu einer Gottesdienststörung, die von jungen Leuten im Anschluß an eine durchzechte Nacht verübt wurde. Die Störer begaben sich in die Synagoge und machten sich durch laute Zurufe über Vorgänge des Gottesdienstes lustig. Nachdem sie sich entfernt hatten, kamen sie mehrmals wieder in die Synagoge zurück, um von neuem die Störungen fortzusetzen. Sie verhinderten durch lautes verächtliches Reden den Gottesdienst, sodaß die zum Beten erschienenen Juden sich entfernten. ...”
Nach Auflösung der Gemeinde schlossen sich die wenigen verbliebenen Juden der Kultusgemeinde von Aschaffenburg an.
Im Frühjahr 1938 wurde das inzwischen ungenutzte Synagogengebäude an Privatleute verkauft; so kam es hier während des Novemberpogroms auch zu keinen Zerstörungen. Bis Ende 1938 sollen bereits alle jüdischen Bewohner Kleinwallstadt verlassen haben; während einige Familien nach Übersee emigrierten, verzogen andere in deutsche Großstädte.
Nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem/Jerusalem und des "Gedenkbuches - Opfer der Verfolgung der Juden ..." wurden 21 aus Kleinwallstadt stammende bzw längere Zeit hier wohnhaft gewesene jüdische Bürger Opfer der „Endlösung“ (namentliche Nennung der betroffenen Personen siehe: alemannia-judaica.de/kleinwallstadt_synagoge.htm).
Sowohl das frühere Synagogengebäude (Rathausgasse) als auch das einstige jüdische Schulhaus (Hauptstraße) sind baulich erhalten geblieben. Die Ritualien, die bei der Auflösung der Gemeinde nach Aschaffenburg (oder München ?) gebracht worden waren, wurden hingegen vernichtet.
Ehemaliges jüdisches Schulhaus (Aufn. J. Hahn, 2008, aus: alemannia-judaica.de)
Mitte der 1980er Jahre ließ die Kommune eine Gedenktafel am Alten Rathaus anbringen, die an die einst hier beheimatete jüdische Kultusgemeinde erinnert.
Aufn. J. Hahn, 2008, aus: alemannia-judaica.de
Auch der Markt Kleinwallstadt beteiligt sich mit zwei Koffer-Objekten am unterfränkischen Projekt „DenkOrt Deportationen 1941-1944“ in Würzburg.
Kofferskulpturen des Marktes Kleinwallstadt (Aufn. aus: csu.de/verbaende/ov/kleinwallstadt)
In Hofstetten - heute ein Ortsteil des Marktes Kleinwallstadt - bildete sich vermutlich im ausgehenden 17. bzw. beginnenden 18.Jahrhundert eine jüdische Gemeinde, deren Angehörige unter der Ortsherrschaft der Grafen von Erbach standen.
Laut der Matrikelliste von 1817 waren acht Familien im Dorf zugelassen. Im Laufe des 19.Jahrhunderts nahm die Zahl der im Dorf lebenden jüdischen Familien zu: 1831 waren es 48 Dorfbewohner mosaischen Glaubens, um 1895 wurde die Höchstzahl von 73 Personen (in zwölf Familien) erreicht.
Die kleine Gemeinde besaß einen Betraum. Zeitweise hatte man einen Lehrer angestellt, der auch als Vorbeter und Schochet tätig war; ansonsten teilte man sich mit mehreren benachbarten Gemeinden einen Religionslehrer.
Kleinanzeige aus der Zeitschrift "Der Israelit" vom 19.10.1903
Verstorbene Gemeindeangehörige wurden auf dem jüdischen Friedhof in Schweinheim begraben.
Nach der Jahrhundertwende war ein deutlicher Rückgang der Gemeindeangehörigen zu verzeichnen. Schließlich erfolgte 1931 die offizielle Auflösung der Gemeinde Hofstetten.
Nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem/Jerusalem und des "Gedenkbuches - Opfer der Verfolgung der Juden ..." sind zehn aus Hofstetten stammende bzw längere Zeit hier ansässig gewesene jüdische Bewohner Opfer der Shoa geworden (namentliche Nennung der betroffenen Personen siehe: alemannia-judaica.de/hofstetten_synagoge.htm).
In Hausen – ebenfalls Ortsteil von Kleinwallstadt – existierte vermutlich seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert eine jüdische Kleinstgemeinde. Bei der Erstellung der Matrikellisten (1817) waren für Hausen sechs jüdische Haushaltsvorstände verzeichnet. Zu den gemeindlichen Einrichtungen gehörten ein Betraum in einem Privathaus, vermutlich auch eine Mikwe und ein (älteres) Friedhofsgelände, von dem aber heute keine Grabsteine mehr vorhanden sind.
ehem. Friedhofsgelände
Später wurden Verstorbene auf dem jüdischen Friedhof in Schweinheim beerdigt.
1885/1890 hatten die letzten jüdischen Bewohner ihr Heimatdorf verlassen.
In Sulzbach am Main - nur wenige Kilometer südlich von Aschaffenburg - war vermutlich im 18./19.Jahrhundert eine winzige jüdische Gemeinde existent; sie setzte sich maximal aus fünf Familien (ca. 35 Personen) zusammen. In einem Privathaus befand sich vermutlich ein Betraum. Ab den 1870er Jahren waren die wenigen Sulzbacher Juden der Kultusgemeinde Kleinwallstadt angeschlossen. Bis 1910 hatten dann alle jüdischen Familien den Ort verlassen.
Weitere Informationen:
Baruch Z. Ophir/Falk Wiesemann, Die jüdischen Gemeinden in Bayern 1918 - 1945. Geschichte und Zerstörung, Oldenbourg-Verlag, München/Wien 1979, S. 342/343
Günther Brand, Liebes altes Dorf. Bilder und Erinnerungen aus Kleinwallstadt und Hofstetten, Kleinwallstadt 1983
Helmuth Lauf, Das Schicksal jüdischer Gemeinden im Main-Spessart-Tauber-Gebiet, in: "Monatszeitschrift ‘Spessart’", No.11/1992, S. 14
Israel Schwierz, Steinerne Zeugnisse jüdischen Lebens in Bayern, Hrg. Bayrische Landeszentrale für politische Bildungsarbeit, München 1992, S. 88
Dirk Rosenstock, Die unterfränkischen Judenmatrikeln von 1817. Eine namenkundliche und sozialgeschichtliche Quelle, in: "Veröffentlichungen des Stadtarchivs Würzburg", Band 13, Würzburg 2008, S. 181
Kleinwallstadt, in: alemannia-judaica.de (mit diversen Dokumenten zur jüdischen Ortshistorie)
Universität Würzburg (Bearb.), Jüdische Bevölkerung in Kleinwallstadt, online abrufbar unter: historisches-unterfranken.uni-wuerzburg.de/juf/quellen/1115/1115.pdf?page (Namensliste mit allen jüdischen Familien)
Markt Kleinwallstadt (Hrg.), Geschichte von Kleinwallstadt, online abrufbar unter: kleinwallstadt.de/kleinwallstadt/geschichte/kleinwallstadt/
Hofstetten, in: alemannia-judaica.de
Hausen, in: alemannia-judaica.de
Axel Töllner/Cornelia Berger-Dittscheid (Bearb.), Kleinwallstadt, in: W.Kraus/H.-Chr.Dittscheid/G.Schneider-Ludorff (Hrg.), Mehr als Steine ... Synagogen-Gedenkband Bayern, Band III/1 (Unterfranken), Kunstverlag Josef Fink, Lindenberg/Allgäu 2015, S. 424 - 435
Christel Ney (Red.), Spurensuche ibis n die USA. Achim Albert erforscht jüdische Geschichte in Kleinwallstadt, in: “Main-Echo” vom 24.3.2017
CSU-Ortsverband Kleinwallstadt (Red.), Beteiligung am Projekt „DenkOrt Deportationen“ in Würzburg, vom 18.2.2021