Königgrätz (Böhmen)

 Königgrätz (tsch. Hradec Králové) war seit 1225 im Besitz von Stadtrechten und Hauptort des Kreises Ostböhmen. Die im Vorland des Riesengebirges, am Oberlauf der Elbe liegende Stadt weist derzeit ca. 93.000 Einwohner auf (Kartenskizze 'Tschechien', K. 2005, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 3.0  und  Kartenskizze 'Region um Königgrätz', Tschuby 2021, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0).

 

Erste Hinweise auf die Existenz von Juden in Königgrätz stammen aus dem ausgehenden 14.Jahrhundert; der Überlieferung nach sollen sich bereits im 11.Jahrhunderts jüdische Familien in der Region aufgehalten haben.

Im 15.Jahrhundert waren stets nie mehr als zehn jüdische Familien in Königgrätz ansässig - mehrfach von Ausweisung aus der Stadt betroffen. Nach der Ansiedlungsverbot für Juden in Böhmen (1542) gab es in der Stadt (fast) keine Juden mehr. Dass sich jüdische Familien in Königgrätz weiterhin aufgehalten haben müssen, belegen weitere Verbote aus den Jahren 1628, 1652 und 1766. Vorübergehende Duldung und Vertreibung wechselten einander ab; erst gegen Ende des 18.Jahrhunderts wurde eine dauerhafte Ansiedlung von Juden möglich, allerdings waren es zunächst nur sehr wenige Familien.

1860 wurde in Königgrätz die Israelitische Gemeinde gegründet. Knapp drei Jahrzehnte später erfolgte die Grundsteinlegung der ersten Synagoge. Diese wurde von einem 1905 eingeweihten Synagogenbau ersetzt, der mit orientalischen Elementen versehen, besonders repräsentativ war.

   

Synagogengebäude (hist. Postkarten, um 1910; rechts aus Sammlung Rosenthal)

Seit 1820 bestand eine jüdische Privatschule, die um 1900 aufgelöst wurde. Zahlreiche bestehende jüdische Vereine zeugen von einem aktiven Gemeindeleben bis in die 1930er Jahre hinein.

Ein eigener Friedhof wurde 1877 im nahen Pouchov eröffnet; bis dahin waren die Verstorbenen der Königgrätzer Judenschaft in Horitz und Neustadt/Mettau beerdigt worden. 

Zur Kultusgemeinde Königgrätz zählten die jüdischen Bewohner des Gerichtsbezirk Königgrätz und Teile des Gerichtsbezirks von Nechanitz.

Juden in Königgrätz:

         --- 1651 ............................  37 Juden,

    --- 1793 ............................   8 jüdische Familien,

    --- 1849 ............................   2     “       “    ,

    --- 1872 ............................  81 Juden,

    --- 1880 ............................ 216   “  (ca. 2% d. Bevölk.),

    --- 1890 ............................ 292   “  ,

    --- 1900 ............................ 309   “  ,

    --- 1910 ............................ 315   “  ,

    --- 1921 ............................ 314   “  ,                     

    --- 1930 ............................ 425   “  ,

    --- 1943 ............................   ?   “  .

Angaben aus: Rudolf M. Wlaschek, Juden in Böhmen - Beiträge zur Geschichte des europäischen Judentums .., S. 25

Blick auf Königgrätz, um 1890 (Abb. aus: wikipedia.org, gemeinfrei)

 

Mit dem deutschem Einmarsch ins Sudetenland zogen vor allem Juden aus ostböhmischen Gebieten nach Königgrätz, was bei einem Teil der Geschäftsleute antisemitische Aktionen hervorrief; so wurden die Synagogenwände mit gehässigen Parolen beschmiert und antijüdische Flugblätter in Umlauf gebracht. Der zahlenmäßige Höchststand der Kultusgemeinde wurde um 1930 erreicht.

Nach dem deutschen Einmarsch in die „Resttschechei” und der Errichtung des „Protektorats Böhmen und Mähren“ begann auch in Königgrätz die staatlich angeordnete systematische Verfolgung der jüdischen Einwohner; neben den behördlichen Maßnahmen initiierten tschechische Antisemiten und aufgehetzte Jugendliche eigene „Aktionen“, so z.B. mit dem „gelben Flugblatt“, in dem gegen hiesige niedergelassene Ärzte Stimmung gemacht wurde. Auch Austritte Königgrätzer Juden aus ihrer Religionsgemeinschaft konnten sie nicht vor der NS-Verfolgung retten. Gegen Ende 1942 waren alle jüdischen Geschäfte und Unternehmen nicht mehr in den Händen ihrer Eigentümer. Zwei große Deportationstransporte - die betroffenen Menschen stammten zumeist aus Ortschaften des Umlandes - verließen Königgrätz Mitte Dezember 1942; die Repräsentanten der Kultusgemeinde mussten die zu Deportierenden auf Listen erfassen; später wurden auch sie in Lager überstellt. Nur sehr wenige Juden aus Königgrätz haben das Kriegsende erlebt.

 

Unmittelbar nach Kriegsende bildete sich hier eine neue Gemeinde, die allerdings schon bald wieder wegen fehlender Mitglieder wieder erlosch. Der die NS-Besatzungszeit ohne größere Schäden überstandene Synagogenbau diente nach 1945 nur noch selten gottesdienstlichen Zwecken; in seinen Räumen befindet sich heute die Staatliche Wissenschaftliche Bibliothek.

Ehem. Synagoge, heute Bibliothek (Aufn. E. Dyan, 2004, aus: wikipedia.org, CC BY 2.0)

Auf dem gegen Ende der 1870er Jahre eingeweihten jüdischen Friedhof (im Stadtteil Pouchov) - er besitzt eine Fläche von nahezu 3.000 m² - fanden bis in die jüngste Vergangenheit noch einzelne Begräbnisse statt.

Hradec Králové, židovský hřbitov 4.jpg

Jüdischer Friedhof und Trauerhalle von Königgrätz (Aufn. E. Dyan, 2004, aus: wikipedia.org, CC BYA 2.0)

Auf dem Begräbnisgelände wurde nach Kriegsende ein Ehrenmal aufgerichtet, das namentlich an die 376 jüdischen Opfer aus Königgrätz und den Nachbargemeinden erinnert.

 

 

In Chlumetz an der Cidlina (tsch. Chlumec nad Cidlinou, derzeit ca. 5.500 Einw.) – einer Kleinstadt ca. 25 Kilometer westlich von Königgrätz (Hradec Králové) – gründete sich eine jüdische Gemeinde erst in der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts. Vor 1848 war es nur drei jüdischen Familien erlaubt, hier ansässig zu sein.

Um 1880 ließ die Gemeinde ein Synagogengebäude errichten.

1930 zählte die hiesige Judenschaft kaum noch 50 Personen, so dass die Gemeinde alsbald in Auflösung begriffen war.

 Ehem. Synagogengebäude (Aufn. Petr, 2015, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 4.0)

 

 

In Senftenberg (tsch. Žamberk, derzeit ca. 6.000 Einw.) - ca. 50 Kilometer östlich von Königgrätz gelegen - bildete sich vermutlich im frühen 17.Jahrhundert eine jüdische Gemeinde, deren Angehörige ghettoartig in der „unteren Stadt“ zusammenlebten. Deren Ansiedlung hatte die gräfliche Herrschaft forciert, um hier den Handel zu beleben. Zwei Großfeuer zerstörten in den Jahren 1810 und 1833 das „Judenviertel“. Der Friedhof datiert aus der Zeit frühester jüdischer Ansässigkeit. Das 1810/1811 errichtete Synagogengebäude wurde im Laufe des 19.Jahrhunderts mehrfach umgebaut. Um 1840/1850 setzte sich die Gemeinde aus ca. 30 Familien zusammen; danach wanderten viele ab; um 1930 lebten in Senftenberg nur noch ca. 30 Juden. Sie wurden 1942 ins Ghetto Theresienstadt deportiert; fünf von ihnen überlebten die Shoa.

Das Synagogengebäude dient heute mehreren christlichen Kirchen als Versammlungsort.

Auf dem jüdischen Friedhof, der in der NS-Zeit stark in Mitleidenschaft gezogen wurde, befinden sich heute noch ca. 230 originale Grabsteine aus der Zeit zwischen 1731 und 1941. Die Zeremonienhalle auf dem in den 1990er Jahren sanierten Friedhof beherbergt eine Dauerausstellung zur Geschichte der ehemaligen jüdischen Gemeinde.

  Obřadní síň židovského hřbitova, Žamberk, okres Ústí nad Orlicí.jpg

 alte Grabmale und Zeremonienhalle Žamberk (Aufn. eaglemountains.cz/zamberk und J. Komárek, 2016, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 4.0)

 

 

 

Im ca. 25 Kilometer südlich von Königgrätz entfernten Chrudim (auch Crudim, derzeit ca. 23.000 Einw.) - eine der ältesten Städte in Böhmen - gab es seit dem späten 18.Jahrhundert eine jüdische Minderheit, die jedoch zu keiner Zeit eine autonome Gemeinde bildete. Neben einem Betraum war hier auch ein eigenes Begräbnisareal vorhanden, dessen Anlage um 1890 erfolgte. Um 1920/1930 lebten hier ca. 130 bis 150 Juden, die ihren Lebensunterhalt zumeist als Kaufleute verdienten. Nach der deutschen Okkupation wurden die Juden aus Chrudim nach Theresienstadt deportiert.

Auf dem Gelände des jüdischen Friedhofs – seit 2008 als „geschütztes Kulturdenkmal“ eingestuft - sind etwa 100 Grabsteine vorhanden.

Jewish cemetery - panoramio (4).jpg

Eingangsportal zum jüdischen Friedhof (Aufn. M. Putns, aus: wikimedia.org, CC BY-SA 3.0) und Gräber (Aufn. B. Skála, 2007, aus: wikipedia.org, CC BY 2.5)

Seit 2012 erinnern hier namentlich drei Gedenktafeln an die Opfer der Shoa.

Aufn. Ben Skála, 2012, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 3.0 File:Chrudim-odhalení-památníku-na-židovském-hřbitově2012ze.jpg

2017 wurden im Ort die ersten sog. "Stolpersteine” verlegt.

File:Stolperstein für Olga Rihova (Chrudim).jpgFile:Stolperstein für Irma Vtipilova (Chrudim).jpgFile:Stolperstein für Gabriela Pachnerova (Chrudim).jpgAbb. Francisco Peralta Torrejón, 2019, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 4.0)

Jüngst wurde im Regionalmuseum von Chrudim eine Ausstellung eröffnet, die neben der Präsentation von Judaica (aus versch. Genisen) dem Besucher gezielt zu vermitteln versucht, dass in dieser Region jüdische und christliche Bewohner ehemals einträchtig zusammengelebt hatten.

 

 

 

Ca. 20 Kilometer westlich von Königgrätz liegt die kleine Ortschaft Neu-Bidschow (tsch. Novy Bydzov), in der bereits im 15.Jahrhundert Juden gelebt haben. In der Stadt entstand eine große jüdische Gemeinde, die ihren zahlenmäßigen Höchststand um 1855/1870 mit mehr als 1.000 Angehörigen erreichte.

[vgl. Neu-Bidschow (Böhmen)]

 

 

 

Weitere Informationen:

Hugo Gold, Die Juden und Judengemeinden Böhmens in Vergangenheit und Gegenwart, Brünn/Prag 1934

Ferdinand Seibt (Hrg.), Die Juden in den böhmischen Ländern - Vorträge der Tagung des Collegium Carolinum in Bad Wiessee Nov. 1981, München/Wien 1983

Germania Judaica, Band III/1, Tübingen 1987, S. 650

Rudolf M.Wlaschek, Zur Geschichte der Juden in Nordostböhmen unter besonderer Berücksichtigung des südlichen Riesengebirgsvorlandes, in: "Historische und landeskundliche Ostmitteleuropa-Studien", Band 2, Marburg/Lahn 1987, S. 3 f. und S. 39 ff.

Jiri Fiedler, Jewish sights of Bohemia and Moravia, Prag 1991, S. 78 – 80 (Königgrätz) und S. 204/205 (Senftenberg)

Rudolf M. Wlaschek, Juden in Böhmen - Beiträge zur Geschichte des europäischen Judentums im 19. und 20.Jahrhundert, in: "Veröffentlichungen des Collegium Carolinum", Band 66, R.Oldenbourg-Verlag, München 1997

František Pírko/Vlasta Pírková, Židovský hrbitov v Žamberku. Sezman a popis náhrobních kamenu, Žamberk 1997

The Encyclopedia of Jewish Life before and during the Holocaust New York University Press, Washington Square, New York 2001, Vol. 1, S. 257 und Vol. 3, S. 1487

The Jewish Community of Hradec Králové (Königgrätz), Hrg. Beit Hatfutsot - The Museum of the Jewish People, online abrufbar unter: dbs.bh.org.il/place/hradec-kralove

Jewish Families from Hradec Králové (Königgrätz), Bohemia, Czech republic, online abrufbar unter: geni.com/projects/Jewish-families-from-Hradec-Kr%25C3%25A1lov%25C3%25A9-K%25C3%25B6niggr%25C3%25A4tz-Bohemia-Czech-Republic/15276

Kilian Kirchgeßner (Red.), Tschechien. Das Geheimnis der Genisa – In alten Landsynagogen untersuchen Forscher Lagerstätten ausgedienter Kultgegenstände, in: „Jüdische Allgemeine“ vom 1.6.2022