Königsberg (Ostpreußen)
Die im Schutze einer 1255 angelegten Burg entstandene Stadt Königsberg hat ihre Wurzeln in der Kolonisierung von Nordosteuropa durch den Deutschen Orden; ihre spätere wirtschaftliche Blüte verdankte die Stadt ihrer Lage am Schnittpunkt zweier Handelsstraßen. Königsberg mit derzeit ca. 470.000 Einwohnern ist die Hauptstadt der heutigen gleichnamigen russische Exklave Kaliningrad (Ausschnitt aus hist. Karte, aus: wikipedia.org, Bild-PD-alt und Kaliningrad und Region heute, A. 2015, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0).
Die jüdische Gemeinde in Königsberg war - nach der Berliner und der Breslauer Kultusgemeinde - die drittgrößte in Deutschland.
Seit der Zugehörigkeit zur Hanse war der Ostseehafen Königsberg zu einem wichtigen Umschlagplatz zwischen Ost- und Westeuropa geworden. Mit dem Aufblühen der Stadt hielten sich auch jüdische Kaufleute zeitweilig in Königsberg auf. Sich dauerhaft niederzulassen, war ihnen aber vom Deutschen Orden mehrfach verboten worden. Erstmalig im Jahre 1508 ist die Ansiedlung zweier jüdischer Ärzte namens Michel Abraham und Isaak May nachweisbar.
Ansicht der Stadt Königsberg - Stich um 1730 (aus: commons.wikimedia.org, gemeinfrei)
Erst im 17. und 18.Jahrhundert durften sich - gegen den Widerstand einheimischer Kaufleute - jüdische Händler (zumeist aus Polen u. Litauen) hier ansässig machen; in ihrer Handels- und Gewerbetätigkeit mussten sie sich gegen ein in Gilden fest organisiertes Bürgertum behaupten; sie deckten nur bestimmte Handelsbereiche ab: den Handel mit holländischen Waren, mit schlesischer Leinwand und russischen Rauchwaren. Die Masse der jüdischen Kleinhändler und Trödler gelangte aber nicht in den Genuss von Schutzbriefen; deshalb war ihre Anwesenheit in der Stadt immer nur sehr kurzzeitig, z.B. bei Jahrmärkten. Um nicht zuletzt die Königsberger Kaufmannschaft zufrieden zu stellen, verordnete die Obrigkeit Ausweisungen; betroffen waren dabei vor allem mittellose Juden.
Erste Ansätze eines jüdischen Gemeindelebens zeigten sich Ende des 17.Jahrhunderts; 1680 wurde die Einrichtung einer Betstube gestattet; 1703 durfte die aus etwa 30 bis 50 Familien sich zusammensetzende Judenschaft - mit Erlaubnis des preußischen Königs Friedrich I. - einen eigenen Begräbnisplatz neben der Tragheimer Pulvermühle, der späteren Wrangelstraße, anlegen und eine Beerdigungsbruderschaft gründen. Weitere jüdische Friedhöfe entstanden dann 1875 und 1929.
1756 wurde eine Synagoge in der Vorstadt (am Schnürlingsdamm) eingeweiht; diese wurde 1811 bei dem großen Stadtbrand zerstört und 1815 durch einen Neubau in der Synagogenstraße ersetzt. Drei Bethäuser standen den osteuropäischen religiös-orthodoxen Juden - ihr Anteil machte zeitweilig mehr als ein Drittel aus - zur Verfügung: die Polnische Schule, das Chassidim-Stüble und die Sabolowitz-Schule. Religiöse Differenzen innerhalb der Königsberger Judenschaft ließen die einzelnen Gruppierungen langsam auseinanderdriften; ein Beleg für diese Spaltung ist die Tatsache, dass 1893 Anhänger der religiös-konservativen Richtung im Besitz einer eigenen, bereits 1815 errichteten Synagoge waren.
Nicht zur Gemeinde gehörte die 1893 erbaute orthodoxe Synagoge „Adass Isroel” in der Synagogenstraße; in unmittelbarer Nähe unterhielt die Gemeinschaft ein rituelles Bad, eine Religionsschule und Schächtstätte.
Ende August 1896 wurde die Neue Synagoge am Pregel gegenüber der Universität (Ecke Lindenstraße/Lindenmarkt) eingeweiht, deren repräsentativer Bau mehr als 1.300 Personen Platz bot. Der Bau entstand nach Entwürfen des Berliner Architekturbüros Cremer & Wolffenstein.
Synagoge - hist. Postkarte (aus: wikipedia.org, CCO)
Neue Synagoge Königsberg, um 1900 (Abb. Kazimierz, aus: wikipedia.org, gemeinfrei) - Postkarte, um 1925 (Abb. aus: wikipedia.org, gemeinfrei)
Innenraum (hist. Postkarte, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0) Thoraschild (Synagoge Königsberg, um 1790)
Aus der Rede von Karl Brinkmann, dem Zweiten Bürgermeister Königsbergs, anlässlich der Synagogeneinweihung:
„ Es ist gewissermaßen eine wilde Zeit, in welcher wir heute leben. Längst verrottete, aber tief eingewurzelte Anschauungen wagen sich wieder ans Tageslicht. Falsche Begriffe von Ehre und Ehrgefühl werden wieder wach und trotzen besseren und aufgeklärteren Meinungen. Ja, ganze Stände und ganze Bevölkerungsklassen werden aufgerufen zum Kampf des einen Standes gegen den anderen, der einen Klasse gegen die andere. Vergessen sind die Lehren und Erfahrungen früherer Zeiten. Der große Preußenkönig Friedrich II. scheint umsonst gelebt und Lessing seinen Nathan umsonst geschrieben zu haben. Man glaubt zu träumen, wenn man sich daran erinnert, daß wir an der Schwelle des 20. Jahrhunderts stehen. Da will mir der heutige Tag wie das Aufleuchten einer besseren Zeit erscheinen. Wenn es nämlich richtig, daß wahre Religiosität nichts anderes ist als das Streben nach lauterer Wahrheit, dann hat die hiesige Synagogengemeinde nach lauterer Wahrheit gestrebt, als sie den Bau ihres neuen Tempels in Angriff nahm. Denn sie hat die Religiosität ihrer Mitglieder fördern wollen, und dann ist mit der heutigen Einweihung von ihr ein Sieg errungen, der die Mitglieder der Synagogengemeinde die Unbill der Zeiten und der Menschen wohl vergessen lassen kann. Deshalb gereicht es mir zur ganz besonderen Freude, als Vertreter der städtischen Behörden dazu berufen zu sein, der Synagogengemeinde zu dem wohlgelungenen Werk von Herzen Glück zu wünschen. Mit noch mehr Stolz aber möchte ich behaupten, daß an Ihrem Feste die gesamte Königsberger Bürgerschaft freudigen Anteil nimmt. Denn gehobenen Hauptes und Ihrer Zustimmung sicher, darf ich es wohl aussprechen: Hier in Königsberg leben die Bekenner aller Religionen und Konfessionen in Frieden und Eintracht neben- und miteinander. Daß dem aber so ist, daran hat auch die hiesige jüdische Bevölkerung selbst kein ganz geringes Verdienst. Nur einiges sei mir in dieser Beziehung auszuführen gestattet. Darf ich beginnen, was mir zunächst liegt, so muß ich rühmend und dankend anerkennen die tätige und aufopfernde Mitarbeit unserer israelitischen Mitbürger, nicht bloß in der städtischen Verwaltung, sondern überhaupt in allen öffentlichen Angelegenheiten. ... Und so manches gute und schöne Werk wäre unterblieben oder doch nur halb gediehen, wenn nicht unsere jüdischen Mitbürger mit Rat und Tat mitgeholfen hätten und noch mithelfen würden. ... Und wenn einmal dereinst, vielleicht erst nach Jahrhunderten, die Gegensätze der Religionen und Konfessionen sich derart angeglichen haben werden, dass der Mensch nur nach seinem inneren Werte geschätzt und beurteilt wird, alle anderen Unterschiede dagegen bedeutungslos geworden sein werden, wenn das Menschentum diesen Triumph erleben wird, dann wird, so hoffe ich, bei der Feier dieses Triumphes die Königsberger Synagogengemeinde nicht unbeteiligt beiseite stehen wollen.“
(veröffentlicht in der Festschrift zur 25.Wiederkehr der Einweihung, 1921)
Der religiös-liberal eingestellte Rabbiner Hermann Vogelstein, Sohn des Rabbiners Heinemann Vogelstein, stand in den Jahren 1897 bis 1920 dem Rabbinat in Königsberg vor. Nach dem Studium an den Universitäten Berlin und Breslau und am Jüdisch-Theologischen Seminar in Breslau bzw. an der Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums in Berlin amtierte ab 1895 zunächst als Prediger und Rabbinatsverweser in Oppeln, ehe er 1897 nach Königsberg wechselte. Nach dort mehr als 20jähriger Tätigkeit wurde er dann Rabbiner in Breslau. 1938 emigrierte er nach England, von dort in die USA. Wenige Jahre später verstarb er in New York (1942).
Baruch Ascher Felix Perles (geb. 1874 in München) war ab 1899 als Lehrer und zweiter Rabbiner der jüdischen Gemeinde in Königsberg angestellt. Nach dem Studium der Orientalistik/Semitische Sprachen in München und seiner Ausbildung am Jüdisch-Theologischen Seminar in Breslau setzte der inzwischen promovierte Perles seine Studien in Wien und Paris fort, wo er 1898 die Rabbinerprüfung ablegte; danach ging er nach Königsberg. Als Gelehrter (Honorar-Professor an der Albertus-Universität) veröffentlichte er zahlreiche Arbeiten. Der auch als überzeugter Zionist agierende Dr. Felix Perles starb 1933 in Königsberg.
Reinhold Lewin (geb. 1888 in Magdeburg), der seine Rabbinerausbildung am Jüdisch-Theologischen Seminar in Breslau und sein Philosophie- u. Geschichtsstudium an der dortigen Universität (mit Promotion) absolvierte, war danach zunächst an der Religionsschule in Breslau beschäftigt. Während des Ersten Weltkrieges war er an der Westfront Feldrabbiner. Von 1920 bis 1938 amtierte Dr. Reinhold Lewin als Rabbiner in Königsberg. In den Jahren nach 1938 hatte er das Rabbineramt in Breslau inne. Eine beabsichtigte Emigration in die USA scheiterte. Er und seine Familie wurden 1943 ins KZ Auschwitz deportiert und dort ermordet.
Andere namentlich bekannte Rabbiner in Königsberg waren im 18./19.Jahrhundert: Solomon Fürst (1707-1722), Löb Epstein ben Mordechai (1745-1775), Samuel Wigdor (1777-1784), Samson ben Mordechai (1784-1794), Joshua Bär Herzfeld ((1800-1814), Jacob Hitsch Mecklenburg (1831-1865) u.a.
Juden in Königsberg:
--- um 1700 ...................... ca. 30 jüdische Familien,
--- 1725 ............................. 75 Juden,
--- 1756 ......................... ca. 300 " ,
--- 1800 ............................. 846 “ ,
--- 1816 ............................. 956 “ ,
--- 1821 ............................. 1.167 “ ,
--- 1831 ............................. 1.267 " (ca. 2% d. Bevölk.),
--- 1846 ............................. 1.782 “ ,
--- 1861 ............................. 2.572 “ (ca. 3% d. Bevölk.),
--- 1871 ............................. 3.836 “ (ca. 3,5% d. Bevölk.),
--- 1880 ............................. 5.324 “ ,
--- 1890 ............................. 4.008 “ ,
--- 1900 ............................. 3.975 “ ,
--- 1910 ............................. 4.565 “ (ca. 2% d. Bevölk.),
--- 1925 ............................. 4.049 “ ,
--- 1930 ............................. 3.619 “ ,
--- 1933 (Juni) ...................... 3.170 “ (ca. 1% d. Bevölk.),
--- 1936 (Jan.) ...................... 2.840 “ ,
--- 1937 (April) ..................... 2.597 “ ,
--- 1938 (Okt.) ...................... 2.086 “ ,
--- 1939 (Mai) ....................... 1.586 “ ,
--- 1941 (Dez.) ...................... 1.183 " ,
--- 1944 ......................... ca. 60 jüdische Familien.
Angaben aus: Yoram K.Jacoby, Jüdisches Leben in Königsberg/Pr. im 20.Jahrhundert, S. 141
und Stefanie Schüler-Springorum, Die jüdische Minderheit in Königsberg/Preußen 1871-1945, S. 367
Die Familie Friedländer galt als die bedeutendste jüdische Familie in Königsberg. Ihre Geschichte begann hier mit Moses Levin, der seit 1718 als Schutzjude in der Stadt ansässig war. Dessen Sohn nahm 1738 den Namen Friedländer an. Er erwarb ein Haus auf dem Kneiphof, das später das Geburtshaus von Eduard v. Simson wurde. Viele nachfolgende Familienmitglieder waren erfolgreiche und allgemein geachtete Kaufleute. David Friedländer (1750–1834) begründete eine renommierte Seidenmanufaktur in Berlin und setzte sich erfolgreich für die Emanzipation der Juden in Preußen ein. [vgl. Berlin]
Der aus einer jüdischen Kaufmannsfamilie stammende Arzt Johann Jacoby (geb. 1805 in Königsberg) machte sich als vehementer Verfechter der Judenemanzipation in Preußen einen Namen. Als Radikaldemokrat „wegen Hochverrats“ in Preußen verurteilt, gehörte Jacoby später dem Vorparlament der Paulskirche an. Seine politische Arbeit führte er anschließend im preußischen Abgeordnetenhaus bzw. Norddeutschen Reichstag fort. Jacoby, der zunächst für das Reformjudentum eintrat, wandte sich später den „Freireligiösen“ zu; so sah er nun Religion als ein auf niedriger Kulturstufe stehendes Scheinwissen an, das die Herrschenden als „Zwangsmittel“ für das Volk benutzten. In seinen letzten Lebensjahren wandte sich Jacoby der Sozialdemokratie zu. 1877 starb Johann Jacoby; an seiner Beerdigungsfeier sollen 5.000 Teilnehmer anwesend gewesen sein.
Zu den bedeutendsten Vertretern der Königsberger Finanzwelt gehörten die Bankiers Marcus Warschauer (1777–1835), Samuel und Moritz Simon; letztere stellten erhebliche Finanzmittel für soziale und kulturelle Zwecke ihrer Heimatstadt zur Verfügung.
Im Laufe des 19.Jahrhunderts wuchs die jüdische Gemeinde in Königsberg stark an; Juden aus wirtschaftlich gehobenen Verhältnissen wanderten zwar ab, aber es zogen mehr, meist ärmere jüdische Familien aus der Provinz, aus Posen und Russland zu. So gab es innerhalb des Judentums der Stadt eine große russisch-jüdische „Kolonie“, bei der es sich vorwiegend um Immigranten aus Litauen und Weißrussland handelte. Wegen der enormen Zuwanderung ausländischer Juden in den 1880er Jahren erfolgten Ausweisungen bzw. ergingen restriktive Einwanderungsbestimmungen; so mussten auf Anweisung des Preuß. Innenministeriums mehr als 1.000 „Ostjuden“ Königsberg verlassen. Erst um 1914 hatte die jüdische Bevölkerung fast wieder die ursprüngliche zahlenmäßige Stärke erreicht.
Berufliche Struktur der Juden in Königsberg:
JAHR 1898 1907 1927 1933
---------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------
Landwirtschaft - 0,4% - 0,9%
Industrie/Handwerk 5,6% 11,6% 4,5% 9,0%
Handel/Verkehr 68,7% 26,8% 56,6% 44,6%
Öffentl. Dienste/
Freie Berufe 9,9% 11,5% 15,1% 16,4%
Berufslose 15,7% 48,7% 23,7% 27,9%
Paradeplatz und Münzplatz/Junkernstraße (hist. Postkarten, um 1910)
In der Zeit um und nach der Jahrhundertwende ging die Mitgliederzahl der jüdischen Gemeinde stark zurück; neben dem hohem Altersdurchschnitt lag das auch an der Vielzahl von „Mischehen“. Zu Beginn der NS-Zeit lebten in Königsberg nur noch ca. 3.200 Juden. Mit dem Erstarken der „Völkischen Bewegung“ änderte sich das Zusammenleben von Juden und Nichtjuden in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens.
Anm.: Besonders auf dem Lande und in den Kleinstädten Südostpreußens erstarkte die facettenreiche „Völkische Bewegung“; es entwickelten sich hier reaktionäre und antisemitische Gruppierungen - unterstützt von Teilen des hiesigen Adels. Es kam hier zu einzelnen pogromartigen Ausschreitungen in Provinzstädten.
Allmählich fanden diese rechtsextremen Gruppen auch in Königsberg Gehör; Ende der 1920er Jahre war die antijüdische Hetze bei öffentlichen Auftritten von NSDAP-Politikern an der Tagesordnung. Im November 1927 war nach einer NSDAP-Veranstaltung erstmalig eine Synagoge in Königsberg Ziel eines Anschlages. Als 1928 Erich Koch als NSDAP-Gauleiter in die Stadt kam, nahmen die antisemitischen Aktivitäten deutlich zu, die bis zu Gewalttätigkeiten gegen jüdische Bürger reichten.
NSDAP-Aufmarsch (Aufn. von 1928, aus: sczech-stiftung.de)
Friedhofsschändungen, Boykottkampagnen und Störungen von Veranstaltungen jüdischer Organisationen durch NSDAP- und SA-Angehörige sollten die jüdische Minderheit in der Stadt einschüchtern. In der Nacht vom 31.7. auf den 1.8.1932 kam es in Königsberg zu einer ersten SA-Terrorkampagne, die vor allem von Studenten getragen wurde; Ziele waren besonders Funktionäre der linken Reichstagsparteien; die SPD-Zentrale wurde zerstört, Tankstellen in Brand gesetzt und Schaufensterscheiben jüdischer Geschäfte zertrümmert; ein Toter und mehrere Schwerverletzte waren zu beklagen. In den darauffolgenden Tagen breiteten sich die Gewalttätigkeiten über die gesamte Provinz aus.
Nach der NS-Machtübernahme wurde der in Königsberg in den vergangenen Jahren bereits offen gezeigte Antisemitismus der Rechtsparteien offizielle Regierungspolitik. Der verordnete „Kampf gegen die Juden” begann in Königsberg Anfang März 1933 mit Brandanschlägen auf die Alte Synagoge und einige jüdische Geschäfte. Erstes jüdisches Mordopfer in Königsberg wurde der ehemalige Kinoverwalter Max Neumann, der nach brutalen Misshandlungen durch SA-Angehörige seinen schweren Verletzungen erlag. In den Wochen nach dem 1.April 1933 waren die meisten jüdischen Angestellten „arischer“ Firmen entlassen worden; Anwälten wurde die Gerichtszulassung entzogen, Beamte wurden aus dem Staatsdienst entfernt und die Existenzmöglichkeiten vieler Juden mehr und mehr eingeengt; systematisch wurde ihnen die ökonomische Basis genommen. Unter dem Zwang der Verhältnisse liquidierten viele jüdische Geschäftsleute ihre Unternehmen bzw. verkauften sie weit unter Wert. Im Februar 1938 gab es in Königsberg nur noch 201 jüdische Firmen, 38 Ärzte und 22 Rechtsanwälte.
Aus einem Bericht der Stapostelle des Regierungsbezirks Königsberg vom November 1935:
„... Im Monat November entwickelten die jüdischen Organisationen und Verbände eine lebhafte Tätigkeit. Es fanden täglich Schulungsabende aller Art, englische und hebräische Sprachkurse ...., Veranstaltungen des jüdischen Kulturbundes statt, so daß das einzige den jüdischen Organisationen für ihre Veranstaltungen zur Verfügung stehende eigene Gemeindehaus tagsüber bis in die späten Abendstunden in Anspruch genommen war. Die Veranstaltungen konnten infolge ihrer großen Zahl nur stichprobenhaft überwacht werden. Sämtliche führende Persönlichkeiten der Juden warnten ihre Rassegenossen vor einem übereilten Verkauf ihrer Unternehmungen, Grundstücke pp. ... Die jüdischen Organisationen, die sich früher stark bekämpft hatten, bringen ihre Meinungsverschiedenheiten über weltanschauliche Fragen nunmehr in sachlicher Form zum Ausdruck und tun alles, um nach außen hin den Anschein einer Geschlossenheit zu erwecken. ...”
Zwischen Sommer 1933 und Oktober 1938 verringerte sich die Zahl der in Königsberg lebenden Juden um ein Drittel. 1935 wurde die jüdische Schule in Königsberg mit vier Grundschulklassen eröffnet; bis 1937 stieg deren Schülerzahl an und nahm infolge Abwanderung dann wieder ab.
In der Pogromnacht von November 1938 war die Neue Synagoge das erste Ziel der Zerstörung: Nationalsozialisten drangen ins Gotteshaus ein, zertrümmerten die Bänke, zerrten die Thorarollen aus dem Schrein und schichteten in der Mitte des Raumes einen Scheiterhaufen auf. Unter den Klängen des Horst-Wessel-Liedes wurde nun Feuer gelegt; die Synagoge ging in Flammen auf. Die angrenzenden Gebäude wurden durch SS-Trupps demoliert. Auch die Betstuben in der Stadt wurden verwüstet. Die Kinder des jüdischen Waisenhauses wurden aus ihrem Heim gejagt, anschließend die Inneneinrichtung der jüdischen Schule zerstört. Das Jüdische Altersheim entging zunächst der Gewalt; doch schon am folgenden Tage wurden die Heimbewohner vertrieben. Auch die Halle auf dem Jüdischen Friedhof in der Steffeckstraße wurde tags darauf in Schutt und Asche gelegt; ein paar Monate später schändete man die beiden Friedhöfe. In Privatwohnungen jüdischer Familien drangen in den Morgenstunden des 10.Novembers marodierende Trupps ein, demolierten und plünderten die Inneneinrichtungen und verhafteten die jüdischen Männer; insgesamt 450 Personen wurden ins Polizeipräsidium geschleppt, von dort ins Stadtgefängnis in Methgethen verbracht.
Über das Geschehen berichtete die „Königsberger Allgemeine Zeitung” am 11.11.1938:
Antijüdische Kundgebungen
Empörung über den feigen Mord in Paris
In den frühen Nachtstunden traf gestern auch in Königsberg die Meldung von dem Hinscheiden des Gesandtschaftsrates Erster Klasse vom Rath in Paris ein. Als man hörte, daß der schwerverwundete Gesandtschaftsrat an den Folgen des feigen jüdischen Ueberfalls gestorben war, bemächtigte sich aller eine große Erregung. In einzelnen Trupps zog man vor die in Königsberg noch vorhandenen jüdischen Geschäfte, die in erster Linie in der Innenstadt, aber auch in der Vorstadt gelegen sind. Hier kam es zu Ansammlungen, wobei die Auslagen der jüdischen Geschäfte zerstört wurden. Ueberall konnte man aus den Bemerkungen der Menschen, die sich vor den jüdischen Geschäften angesammelt hatten, feststellen, wie groß die Abscheu und die Empörung darüber waren, daß ein feiger Mörder in Paris auf einen amtlichen deutschen Vertreter geschossen hatte und daß trotzdem in Königsberg noch Juden ihren Handel betreiben. Ein erregter Haufen zog schließlich auch vor die Synagoge, deren Fenster in Trümmer gingen. In der Synagoge entstand ein Brand.
Bis Mai 1939 verringerte sich die Zahl der Angehörigen der jüdischen Gemeinde in Königsberg um weitere 500 Personen; damit hatte seit 1933 mehr als die Hälfte der jüdischen Minderheit die Stadt verlassen; sie war ins nahegelegene Ausland und in westeuropäische Länder wie Frankreich, Belgien und die Niederlande emigriert. Ab Januar 1939 trieben die NS-Behörden die Zusammenlegung der jüdischen Bevölkerung in „Judenhäusern“ voran; die allermeisten wurden im alten jüdischen Wohnbezirk in der Vorstadt konzentriert, u.a. in der Seilerstraße, der vorherigen Synagogenstraße. Nach Kriegsbeginn zog man die jüdischen Männer - ab 1941 auch die Frauen - zur Zwangsarbeit heran.
Im Oktober 1941 gelang Prof. Dr. Hugo Falkenheim (1856–1945) als letztem Königsberger Juden die Flucht über Spanien und Kuba in die USA; Falkenheim war bis 1928 Vorsitzender der jüdischen Gemeinde und bis 1933 leitender Kinderarzt an den Kliniken in Königsberg gewesen. 1942/1943 wurden etwa 1.100 Juden - es waren vor allem ältere Menschen - aus Königsberg deportiert. Sammelpunkt war die Reithalle in der Wrangelstraße; von dort mussten sie zum Nordbahnhof laufen, wo sie auf Züge verladen wurden.
Aus einem Augenzeugenbericht: „ ... Den ganzen Morgen zogen die bepackten Juden zu Fuß durch die Stadt. Manche mußten nach wenigen Schritten pausieren, andere behalfen sich mit kleinen Leiterwagen ... Als schuldlos Verfemte gingen sie durch die Straßen, in denen ... die ehemaligen Mitbürger, ... Freunde oder Nachbarn untätig daneben standen, zusahen oder wegsahen. Einige ganz gewiß mit bitteren Gefühlen und dem Wissen um das schlimme Unrecht und die eigene Ohnmacht. Aber an den zurückgelassenen Gütern ... profitierte in der Regel bedenkenlos, wer Gelegenheit dazu hatte. ...” (aus: M.Wieck, Zeugnis vom Untergang Königsbergs. Ein Geltungsjude berichtet, S. 30 f.)
Die Deportationstransporte gingen, meist vom Sammelpunkt Allenstein, nach Minsk, Riga und Theresienstadt; der letzte Transport aus Ostpreußen verließ Allenstein am 15.März 1943. Nach den Massendeportationen lebten in Königsberg 1943 nur noch knapp 50 Familien, in denen ein Elternteil „jüdisch“ war.
Um die Spuren der deutschen Vernichtungspolitik zu vertuschen, wurden in den letzten Kriegsmonaten in Königsberg zahlreiche polnische Juden umgebracht; diese waren seit 1943 aus den KZ Stutthof und AK Soldau zur Zwangsarbeit nach Königsberg und Umgebung geschickt worden. Am Strand der damaligen ostpreußischen Siedlung Palmnicken (heute Jantarnyj) erschoss Ende Januar 1945 ein SS-Kommando ca. 3.000 KZ-Häftlinge, meist junge jüdische Frauen aus Polen und Ungarn; das Massaker haben nur 21 Menschen überlebt. Die wiedergegründete jüdische Gemeinde im einstigen Königsberg erinnert seit Ende der 1990er Jahre an das Massaker, das bis heute ungesühnt blieb.
Die genaue Zahl der von der Roten Armee befreiten Juden in Königsberg ist nicht bekannt, vermutlich waren es nicht mehr als 50 bis 60 Familien. Bis 1948 wurden diese - zusammen mit nicht-jüdischen deutschen Bewohnern - aus der Stadt vertrieben.
An baulichen Relikten ist heute nur noch das ehemalige jüdische Gemeindehaus in der Lindenstraße erhalten.
Einer der letzten bedeutenden Persönlichkeiten der Jüdischen Gemeinde Königsberg war Immanuel Jakobovits (1921–1999), der von 1967 bis 1991 als Oberrabbiner in Großbritannien amtierte.
Heute leben wieder ca. russische 2.000 Juden in der Stadt, die sich in einer neu gegründeten Gemeinde zusammengefunden haben. An die Tradition der einstigen deutsch-jüdischen Gemeinde anknüpfend, wollen ihre Angehörigen am einstigen Standort der Neuen Synagoge in der Lindenstraße ein eigenes Gotteshaus zu errichten.
Mehr als ein halbes Jahrhundert nach Ende des Zweiten Weltkrieges wurde nahe des einstigen Standorts der Königsberger Synagoge - gegenüber der Dominsel - eine Gedenktafel in russischer und hebräischer Sprache zur Erinnerung an die Opfer der Shoa enthüllt; das Haus, an dem die Tafel angebracht wurde, beherbergte früher das 1861 gegründete jüdische Waisenhaus.
2011 wurde auf Initiative der Stadtgemeinschaft Königsberg, der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas und der jüdischen Gemeinde in Kaliningrad am früheren Nordbahnhof eine deutschsprachige Gedenktafel enthüllt, die an die 465 jüdischen Kinder, Frauen und Männer aus Königsberg und der Provinz erinnert, die 1942 von dort nach Minsk in den Tod verschleppt wurden.
In unmittelbarer Nähe des Doms wurde im Herbst 2011 der Grundstein zum Neubau der Synagoge gelegt, der sich am ursprünglichen Entwurf des deutsch-jüdischen Architekturbüros Cremer & Wolffenstein (um 1890/1895) orientieren soll. Das Gebetshaus wird an der gleichen Stelle der 1938 zerstörten Synagoge stehen; die Fassade des Gebäudes wird genau wie die des vorherigen Gotteshauses aussehen. Möglich gemacht werden soll der Synagogenbau durch eine größere finanzielle Zuwendung des Multimillionärs Wladimir Kazman in den „Fonds zur Errichtung der Königsberger Synagoge in Kaliningrad“.
Tafel zur Grundsteinlegung (Aufn. Rustam Vasiliev, 2012)
neue Synagoge (Aufn. Zairon, 2019, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 4.0)
Eröffnet wurde die wiederaufgebaute Synagoge von Königsberg anlässlich des 80.Jahrestages der Novemberpogrome vom russischen Oberrabbiner Berl Lasar in Anwesenheit hochrangiger Vertreter der Föderations- und Regionsregierung, ausländischer Diplomaten und prominenter Persönlichkeiten. Allerdings waren die Bauarbeiten zu diesem Zeitpunkt noch nicht völlig abgeschlossen. Seit 2022 wird in der neueröffneten Synagoge eine Dauerausstellung zur Geschichte der Juden in Königsberg gezeigt.
Nach Angaben der Jüdischen Gemeinde leben derzeit etwa 5.000 Juden in der russischen Ostsee-Exklave Kaliningrad.
Hinweise:
Im gleichnamigen Königsberg in der Neumark (poln. Chojna) gab es auch eine israelitische Gemeinde, die um 1880 mit ca. 160 Angehörigen ihre Blüte erreichte. [vgl. Schwedt/Oder (Brandenburg)]
Im böhmischen Königsberg/Eger (tsch. Kynšperk nad Ohří) war ebenfalls eine kleine jüdische Gemeinde beheimatet gewesen. [vgl. Königsberg/Eger (Böhmen)]
Im ostpreußischen Friedland (russ. Pravdinsk, derzeit ca. 4.300 Einw.) – der Ort wurde 1312 durch den Deutschen Orden gegründet und erhielt 1335 Stadtrechte - existierte eine sehr kleine jüdische Gemeinde, die um 1880 ca. 50 Angehörige zählte. Sie verfügte über eine Synagoge und einen eigenen Friedhof. Zu Beginn der NS-Zeit lebten ca. 35 jüdische Bewohner in Friedland; ihr weiteres Schicksal ist unbekannt.
In Gerdauen (poln. Gierdawy, russ. Zeleznodrozhniy, derzeit ca. 2.700 Einw. ) – wenige Kilometer südöstlich von Friedland – ließen sich die ersten jüdischen Familien nach 1812 nieder. In den 1840er Jahren lebten in der Stadt etwa 140 jüdische Bewohner; in den Folgejahrzehnten nahm deren Anzahl wieder deutlich ab. Während ein jüdischer Friedhof vorhanden war, gab es hier kein eigenes Synagogengebäude, sondern nur einen Betraum in einem Privathause. Nach vor der NS-Machtübernahme führte die antisemitische Stimmung im Ort dazu, dass Juden von hier verzogen. 1932 sollen nur noch 15 Personen mosaischen Glaubens in Gerdauen gelebt haben.
vgl. Gerdauen (Ostpreußen)
Etwa 40 Kilometer nordöstlich Königsbergs liegt die Stadt Labiau (russ. Polessk, derzeit ca. 7.500 Einw.), in der sich erst in nachnapoleonischer Zeit einige jüdische Familien ansässig machten. Um 1880 zählte die dortige israelitische Gemeinde – sie umfasste auch die jüdischen Familien des nahen Umlandes - etwa 130 Mitglieder; 15 Jahre später wurde mit 150 Angehörigen der Höchststand erreicht. Doch innerhalb nur eines Jahrzehnts ging deren Zahl auf 40 Personen zurück. Bei der Volkszählung von 1925 ergaben sich für die Stadt Labiau eine Anzahl von 36 jüdischen Personen und in den Dörfern des Landkreises lebten ca. 75 Juden. Erst seit Anfang der 1870er Jahre gab es in Labiau eine Synagoge; bereits Jahrzehnte zuvor war ein Begräbnisgelände angelegt worden, ein zweites folgte 1863 (an den Blankensteinstr.).
Bis Kriegsbeginn hatten fast alle jüdischen Familien den Ort verlassen.
vgl. Labiau (Ostpreußen)
Im ehemaligen ostpreußischen Seebad Cranz (russ. Zelenogradsk, derzeit ca. 13.000 Einw.) - einer Kleinstadt ca. 25 Kilometer nördlich von Königsberg - lebten zu Beginn des 20.Jahrhunderts nur relativ wenige jüdische Familien. Trotzdem verfügte der Ort in der Königsberger Straßeseit 1911 über eine stattliche Synagoge, die auf Betreiben des „Synagogenvereins Cranz e.V.“ errichtet worden war, um den zahlreichen Badegästen mosaischen Glaubens einen ansprechenden Ort für die Abhaltung von Gottesdiensten zur Verfügung zu stellen; denn zuvor hatte es nur angemietete beengte Räumlichkeiten dafür gegeben. Hauptinitiator des Synagogenneubaus war Kommerzienrat George Marx, der durch eigene finanzielle Zuwendungen und durch Werbung weiterer Spender (auch aus Russland) die Realisierung des Baues ermöglichte. Im Sommer 1911 wurde die Synagoge in Anwesenheit von Kirchen- und Kommunalvertretern feierlich eingeweiht; die Weiherede hielt Dr. Wohlgemuth, der damalige Rabbiner der orthodoxen Königsberger Gemeinde Addas Israel. Das Gebäude, das nach 1938 als HJ-Heim genutzt wurde, überstand den Krieg unversehrt. In den 1990er Jahren wurde das nun inzwischen verfallene Gebäude abgerissen.
vgl. Cranz (Ostpreußen)
In Zinten im Kreis Heiligenbeil (russ. Kornevo, derzeit ca. 1.900 Einw.) – ca. 35 Kilometer südwestlich von Königsberg gelegen – ist jüdische Ansässigkeit erstmals 1810 nachweisbar; zehn Jahre später lebten im Ort ca. 70 Personen mosaischen Glaubens. Eine eigene Begräbnisstätte stammt aus der Zeit um 1810/1820; der Bau einer Synagoge ist im Jahre 1869 erfolgt.
Synagoge in Zinten im Bild Mitte (hist. Luftaufnahme)
In den 1920er Jahren zählte die jüdische Gemeinde ca. 80 Angehörige. Mitte der 1930er Jahre war die Gemeinde in Auflösung begriffen, das Synagogengebäude 1937 verkauft worden. Das Schicksal der vier in Zinten verbliebenen jüdischen Familien liegt im Dunkeln.
vgl. Zinten (Ostpreußen)
Weitere Informationen:
Joseph Levin Saalschütz, Zur Geschichte der Synagogengemeinde in Königsberg, in: "Monatszeitschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums", verschiedene Ausgaben der Jahre 1857/1862
Heimann Jolowicz, Geschichte der Juden in Königsberg i. Pr. - Ein Beitrag zur Sittengeschichte des preußischen Staates, Posen 1867
Joseph Rosenthal, Die gottesdienstlichen Einrichtungen in der Jüdischen Gemeinde zu Königsberg i Pr. - Festschrift zur 25.Wiederkehr des Tages der Einweihung der Neuen Gemeindesynagoge, Königsberg 1921
Jacob Bähr, Die ostjüdische Kolonie in Königsberg, in: "Königsberger Jüdisches Gemeindeblatt", 4/1927
Hans-Jürgen Krüger, Die Judenschaft von Königsberg in Preußen 1700 bis 1812, in: "Wissenschaftliche Beiträge zur Geschichte und Landeskunde Ost-Mitteleuropas", Band 76, Marburg 1966
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