Lichenroth (Hessen)
Das seit 1816/1817 kurhessische Lichenroth - heute mit ca. 350 Einwohnern ein Ortsteil von Birstein (Main-Kinzig-Kreis) am Südhang des Vogelsberges - besaß in der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts einen beträchtlichen jüdischen Bevölkerungsanteil (Ausschnitt aus hist. Karte von 1905 ohne Eintrag von Lichenroth, aus: wikipedia.org, gemeinfrei und Kartenskizze 'Main-Kinzig-Kreis', aus: ortsdienst.de/hessen/main-kinzig-kreis).
Der erste urkundliche Beleg für Ansiedlungen von Juden im Dorfe Lichenroth stammt aus dem Jahre 1666. Anfänglich gehörten sie zur jüdischen gemeinde von Crainfeld in der benachbarten Landgrafschaft Hessen-Darmstadt (Lichenroth hingegen lag auf dem Gebiet der Grafschaft Isenburg-Büdingen). Im Jahr 1733 gestattete dann Graf Wolfgang Ernst I. zu Isenburg und Büdingen den jüdischen Bewohnern Lichenroths die Einrichtung einer eigenen Synagoge im Dorf; so gründete sich nun hier eine selbstständige kleine Gemeinde.
[vgl. Crainfeld (Hessen)]
Seit 1837 besaß die Gemeinde eine neue Synagoge an der Bermuthshainer Straße; an das zweistöckige Fachwerkgebäude, das äußerlich nicht als Sakralbau zu erkennen war, wurden kurz danach eine Lehrerwohnung und eine Mikwe angebaut.
Ehem. Synagogengebäude (Aufn. um 1970, aus: P. Arnsberg)
Das Amt des Synagogenvorstehers lag fast ununterbrochen in den Händen der Familien Rosenberg. Die Erlaubnis, eine eigene Schule betreiben zu dürfen, erteilte Wolfgang Ernst Graf zu Ysenburg und Büdingen im Jahre 1733. Die hiesige jüdische Religionsschule (in einem Nebengebäude) wurde 1853 in eine öffentliche Elementarschule umgewandelt; diese bestand bis in die 1920er Jahre.
Stellenausschreibung aus der Zeitschrift „Der Israelit" vom 21.Juni 1876
letztmaliges Stellengesuch für einen Lehrer vom Dez. 1924
Die Lichenrother Juden fanden auf dem relativ großen, um 1680 angelegten Friedhofsareal in Birstein ihre letzte Ruhe; auf diesem jüdischen Sammelfriedhof wurden auch Verstorbenen aus umliegenden Ortschaften bestattet.
Die wenigen in Wüstwillenroth lebenden Juden waren der Lichenrother Gemeinde angeschlossen, die dem Provinzial-Rabbinat Hanau unterstand.
Juden in Lichenroth:
--- 1666 ........................ eine jüdische Familie,
--- um 1680 ..................... 3 “ n,
--- 1835 ........................ 50 Juden,
--- 1853 ........................ 95 “ ,
--- 1861 ........................ 106 “ (ca. 20% d. Bevölk.),
--- 1885 ........................ 114 “ ,
--- 1905 ........................ 95 “ ,
--- 1925 ........................ 67 “ ,
--- 1930/33 ..................... 14 jüdische Familien,
--- 1936 ........................ keine.
Angaben aus: Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang - Untergang - Neubeginn, Bd. 1, S. 489
und R.Winter/J. Ackermann, Die Juden in Lichenroth, in: ‘Birsteiner Heimatbote’ 1983/1984
Die Juden Lichenroths lebten vornehmlich vom Viehhandel; in den 1840er Jahren waren von 14 männlichen Gemeindeangehörigen allein elf als Viehhändler tätig - im Jahre 1933 waren es immerhin noch sechs.
Eine erste Abwanderungswelle hatte die jüdische Gemeinde Lichenroth zwischen 1850 und 1870 erfasst; eine Reihe jüdischer Familien emigrierte vor allem in die USA; danach stabilisierte bzw. vergrößerte sich die Zahl ihrer Angehörigen wieder, um dann nach der Jahrhundertwende wieder abzusinken; vor allem jüngerer Gemeindeangehörige verzogen nun in städtische Zentren, so nach Frankfurt/M. und Fulda.
Zu Beginn der 1930er Jahre verdienten die jüdischen Familien ihren Lebensunterhalt im Viehhandel, Textil- und Eisenwarenhandel und im Handwerk. Innerhalb weniger Jahre löste sich die jüdische Gemeinde auf; bis Ende 1936 hatten alle Lichenrother Juden das Dorf verlassen; einige gingen in die Emigration, andere verzogen in deutsche Großstädte. Gewalttätige judenfeindliche Ausschreitungen soll es in Lichenroth zwar nicht gegeben haben, doch hatten Ausgrenzung und Diffamierung schließlich dazu geführt, dass alle jüdischen Familien den Ort verließen. Der letzte Synagogenvorsteher, Sally Rosenberg, verkaufte vor seinem Wegzug (Ende 1935) das Synagogen- und Schulgebäude.
Nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem/Jerusalem und des "Gedenkbuches - Opfer der Verfolgung der Juden ..." wurden 22 aus Lichenroth stammende bzw. längere Zeit hier ansässig gewesene Bewohner mosaischen Glaubens Opfer der NS-Gewaltherrschaft (namentliche Nennung der betroffenen Personen siehe: alemannia-judaica.de/lichenroth_synagoge.htm).
Heute erinnern auf einer Fläche von ca. 4.500 m² des Birsteiner Sammelfriedhofs noch etwa 420 Grabsteine an frühere jüdische Ansässigkeit in der Region (Aufn. J. Hahn, 2010, aus: alemannia-judaica.de und Teilansicht des Friedhofs, Aufn. B. 2021, aus:wikipedia.org CC BY-SA 4.0)
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1999 wurde am ehemaligen Synagogengebäude in der Bermuthshainer Straße - es dient nach jahrzehntelanger Nutzung als Gasthaus heute nun Wohnzwecken - eine Gedenktafel angebracht.
ehem. Synagogengebäude heute (Aufn. Stephan Jäger)
vgl. Birstein (Hessen)
Weitere Informationen:
Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang - Untergang - Neubeginn, Societäts-Verlag, Frankfurt/M. 1971, Bd. 1, S. 489/490
Reinhold Winter/Jürgen Ackermann, Die Juden in Lichenroth, hrg. Geschichtsverein Birstein, o.O. o.J.
Jürgen Ackermann, Die Juden in Lichenroth, in: Geschichte der Großgemeinde Birstein, 1989
Jürgen Ackermann/Reinhold Winter, Die Juden in Lichenroth, in: Geschichtsverein Birstein (Hrg.), 750 Jahre Lichenroth 1241 -1991 - Festschrift, Lauterbach 1991, S. 40 - 45
Christa Wiesner, Der jüdische Friedhof in Birstein, in: "Birsteiner Heimatbote" (o.J.)
Lichenroth mit Wüstwillenroth, in: alemannia-judaica.de (mit zahlreichen Dokumenten zur jüdischen Ortshistorie)
Mathilda Wertheim Stein, The Way it Was: The Jewish World of Rural Hesse, Chapter4 ‚The Jewish Community of Lichenroth‘, o.O. 2000
Nathan M. Reiss, Some Jewish Families of Hesse and Galicia – History of Families, 2.Aufl., 2005 (darin: 'The Baum Family od Lichenroth', S. 125 - 142)