Lich (Hessen)
Lich ist eine Kleinstadt im mittelhessischen Landkreis Gießen mit derzeit ca. 13.500 Einwohnern - ca. 15 Kilometer südöstlich von Gießen gelegen (topografische Kartenskizze der Wetterau, aus: wikipedia.org GFDL und Kartenskizze 'Landkreis Gießen', Andreas Trepte 2006, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 2.5).
Ansicht von "Licha" (Lich), Merian-Stich um 1655 (Abb. aus: wikipedia.org, gemeinfrei)
In Lich wurden Juden erstmals in der Zeit des Dreißigjährigen Krieges erwähnt. Ihre Ansiedlung hatten die Ortsherren von Lich, die Grafen von Solms, zugelassen. Gegen Mitte des 18.Jahrhunderts lebten im Ort neun jüdische Familien.
Ihre ersten Synagogenbau weihte die Licher jüdische Gemeinde im Jahre 1810 ein; dieser wurde bis gegen Ende des 19.Jahrhunderts genutzt. Danach wurde die neue Synagoge in der Amtsgerichtsstraße Mittelpunkt von der jüdischen Gemeinde benutzt. Doch bereits um 1920 war das Synagogengebäude baufällig, sodass man zu einer Grunderneuerung gezwungen war; im Herbst 1922 wurde es der Gemeinde erneut zur Nutzung übergeben. Die Finanzierung des neuen Gebäudes konnte auch durch Spenden gesichert werden.
aus der Zeitschrift „Der Israelit“ vom 22.Dez. 1921
Die Erledigung religiöser Aufgaben wurde zeitweise von einem seitens der Gemeinde angestellten Lehrer wahrgenommen; ansonsten übernahm die religiöse Unterweisung der Kinder ein von auswärts kommender Lehrer.
aus: "Allgemeine Zeitung des Judentums" vom 28.März 1865
Ein eigenes kleines Friedhofsgelände bestand am Hardtberg, das vermutlich zu Beginn des 19.Jahrhunderts als solches angelegt wurde.
Zur jüdischen Gemeinde Lich zählten um 1875 auch die Juden von Kolnhausen, Hof Albach und Mühlsachsen.
Juden in Lich:
--- 1628 .......................... 26 Juden,
--- um 1740 ....................... 9 jüdische Familien,
--- 1818 .......................... 15 “ “ ,
--- um 1830 ....................... 71 Juden (ca. 3% d. Bevölk.),
--- 1861 .......................... 57 “ ,
--- 1871 .......................... 35 “ ,
--- 1880 .......................... 63 “ ,
--- um 1900 ................... ca. 45 “ ,* * andere Angabe: 69 Pers.
--- 1910 .......................... 69 “ (ca. 2% d. Bevölk.),
--- 1925 .......................... 78 “ ,
--- um 1930 ................... ca. 85 “ (ca. 20 Familien),
--- 1933 (März) ................... 77 “ ,
--- 1938 (Aug.) ................... 23 “ ,
--- 1942 (Frühjahr) ............... 5 " ,
(Sept.) .................. keine.
Angaben aus: Paul Arnsberg, Die Jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang - Untergang - Neubeginn, Bd. 1, S. 486
Textilgeschäft Goldschmidt, Braugasse (Aufn. 1927, aus: Jüdisches Leben in Hessen)
Zumeist verdienten die Licher Juden vor 1930 ihren Lebensunterhalt als Vieh- und Getreidehändler und als Kleinkaufleute im Einzelhandel. Anfang des Jahres 1933 lebten in Lich knapp 80 Juden. Bereits wenige Wochen nach der NS-Machtübernahme 1933 hatte lokale SA-Angehörige die in der Unter- und Oberstadt wohnenden jüdischen Familien in ihren Wohnungen überfallen; die Männer wurden ins SA-Lokal geschleppt und dort misshandelt. - In den folgenden Jahren verließen die meisten jüdischen Gemeindeglieder auf Grund dieser Vorkommnisse und der weiter zunehmenden Entrechtung ihren Heimatort; während ein Teil in größere Städte wie Frankfurt/M. und Gießen verzog, emigrierte der andere (in die USA und nach Südafrika).
Während der „Kristallnacht“ verwüstete ein SA-Trupp die Inneneinrichtung der Synagoge in der Amtsgerichtsstraße; anschließend schleppte man die zerstörte Einrichtung aus dem völlig verwüsteten Gebäude und errichtete ganz in der Nähe einen Scheiterhaufen; unter den Augen vieler Licher Einwohner setzte man diesen in Brand.
Das Synagogengebäude ging alsbald in den Besitz der Kommune über und diente zeitweilig als Sitz der örtlichen NSDAP-Leitung. Während des Krieges war hier zeitweilig eine Wehrmachtseinheit untergebracht, danach diente es als Unterkunft für Kriegsgefangene. Ab den 1980er Jahren beherbergt das umgebaute Gebäude eine Altentagesstätte.
Nach der Synagogenschändung zogen SA-Männer vor jüdische Wohnungen und Geschäfte, drangen in diese ein, demolierten und plünderten das Inventar. Mehrere Juden aus Linn verschleppten die NS-Behörden ins KZ Buchenwald. Anfang August 1942 wurden die fünf letzten jüdischen Bewohner Lichs deportiert.
Nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem/Jerusalem und des "Gedenkbuches - Opfer der Verfolgung der Juden ..." wurden 34 aus Lich stammende bzw. längere Zeit hier ansässig gewesene Bewohner mosaischen Glaubens Opfer der NS-Gewaltherrschaft (namentliche Nennung der betroffenen Personen siehe: alemannia-judaica.de/lich_synagoge.htm).
Auf dem ca. 650 m² großen Gelände des jüdischen Friedhofs in Lich sind heute noch mehr als 40 Grabsteine vorhanden.
Teilansicht des Friedhofs in Lich (Aufn. Ch., 2014, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0)
Vor der Marienstiftskirche wurde im November 1988 ein Mahnmal errichtet, das größtenteils durch Spenden aus der Bevölkerung finanziert wurde. Der Gedenkstein trägt die folgende Inschrift:
Wir trauern um die jüdischen Familien aus Lich,
die während der nationalsozialistischen Herrschaft
vertrieben, verfolgt und ermordet wurden.
Mahnmal mit Inschriften am Fuße der Stele (Aufn. J. Hahn, 2008)
Die ehemalige Bezalel-Synagoge in Lich wurde von der Stadt Lich und der am Ort ansässigen „Ernst-Ludwig Chambré-Stiftung“ restauriert und in ein Kulturzentrum umgewandelt, das 2006 eröffnet wurde.
Bezalel-Synagoge in Lich (Aufn. aus: kultur-lich.de, 2008)
Die seit 1997 bestehende Stiftung wurde von Ernst-Ludwig Chambré, einem aus Lich stammenden Shoa-Überlebenden gegründet. Dessen sephardische Familie war seit dem 18. Jahrhundert in Lich ansässig und betrieb hier ein Manufakturwarengeschäft und eine kleine Privatbank. Bei dem Ende März 1933 in Lich zu stattgefundenen Pogrom wurde auch ein Familienmitglied schwer. Ernst-Ludwig Chambré überlebte als einziger den Holocaust; seine gesamte Familie Eltern, Schwestern und zwei Nichten wurden in Auschwitz ermordet. 1997 verstarb Chambré in den USA.
Auf Betreiben der AG „Stolpersteine für Lich“ wurden Ende 2019 vor vier Häusern in der Licher Oberstadt 14 sog. "Stolpersteine" verlegt, die an Angehörige der jüdischen Familien Bamberger, Isaak und Windecker erinnern. Ein Jahr später waren es weitere 16 Steine, die in die Gehwegpflasterung vor vier Häusern an Angehörige der Familien Ludwig Sommer, Bing, Chambré und Mayer Sommer eingefügt wurden. 2022 kamen nochmals weitere 18 messingfarbene Gedenktäfelchen hinzu, die an die Familien Joseph Oppenheimer, Julius Katz, Max Chambré und Siegmund Chambré erinnern. für Fam. Isaak (Aufn. U.Sommerlad)
Die derzeit letztmalige Verlegung von Steinen erfolgte im Sept. 2023; an drei Standorten wird seitdem an Angehörige der jüdischen Familien Goldschmidt (Braugasse), Bamberger (Kolnhäuser Str.) und Katz (Gießener Str.) erinnert.
In Langsdorf - heute ein Ortsteil von Lich - ist jüdische Ansässigkeit seit Beginn des 18.Jahrhunderts nachweisbar; das bis 1806 unter der Herrschaft von Solms-Braunfeld stehende Dorf besaß eine jüdische Gemeinde, die in den 1830er Jahren mit ca. 50 Angehörigen ihren Höchststand erreichte. Zu gottesdienstlichen Treffen in der Synagoge von Langsdorf kamen auch Juden aus Muschenheim und Birklar. Ihre Verstorbenen begrub die kleine Gemeinde auf dem Friedhof in Muschenheim.
Die Langsdorfer Gemeinde gehörte zum orthodoxen Provinzialrabbinat Oberhessen mit Sitz in Gießen.
Juden in Langsdorf:
--- 1860 ...................... ca. 50 Juden,
--- 1880 .......................... 65 “ (ca. 7% d. Bevölk.),
--- 1900/1910 ..................... 36 “ ,
--- 1924 ...................... ca. 30 “ ,
--- 1933 .......................... 21 “ ,
--- 1939 .......................... keine.
Angaben aus: Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang - Untergang - Neubeginn, Bd. 1, S. 477
Nach 1848 kam es in Langsdorf zum sog. „Langsdorfer Judenkrawall“. Die Kommunalbehörde hatte sich geweigert, den hiesigen jüdischen Bewohner die gleichen Rechte einzuräumen wie den christlichen. Gegen Ende des 19.Jahrhunderts hatten einige jüdische Familien Langsdorf verlassen - eine Folge der hier erstarkenden antisemitischen „Böckel-Bewegung“; ein populärer Mitstreiter Otto Böckels war der aus Langsdorf stammende Ph. Köhler.
Ende der 1930er Jahre sollen in Langsdorf keine Juden mehr gelebt haben. Bereits wenige Jahre zuvor war das Synagogengebäude veräußert worden; es diente während der Kriegsjahre als Unterkunft für französische Kriegsgefangene. An dem zu einem Wohnhaus umgebauten Gebäude ist seit 1984 eine Gedenktafel angebracht.
2019 wurden in Langsdorf die ersten sog. „Stolpersteine“ in der Straße "Im Himmerich" verlegt; es sind sechs Steine, die an Angehörige der Familie Moritz Oppenheimer erinnern, denen es zumeist gelang, in die USA zu emigrieren. 2022 wurden weitere acht messingfarbene Gedenkquader in die Pflasterung eingelassen; sie sollen die Erinnerung an die beiden jüdischen Familien Goldstein und Nelkenstock wach halten.
vgl. Langsdorf (Hessen)
In Muschenheim (heute ein Ortsteil von Lich) sind südlich der Ortschaft zwei kleinflächige jüdische Friedhöfe vorhanden: Der ältere zu Beginn des 18.Jahrhunderts angelegte (Flurstück „Bei der Leimenkaute“) weist derzeit noch acht Grabsteine auf; der jüngere (Flurstück „Gänseweid“) wurde seit den 1880er Jahren belegt und besitzt noch 13 Grabsteine.
einer der Friedhöfe (Aufn. J. Hahn, 2008, aus: alemannia-judaica.de)
In Muschenheim wurden 2024 acht „Stolpersteine“ verlegt, die am Alten Rathausplatz bzw. in der Brückgasse an das Schicksal der Familien Bamberger und Hammerschlag erinnern.
Weitere Informationen:
Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang - Untergang - Neubeginn, Societäts-Verlag, Frankfurt, 1971, Bd. 1, S. 477/478 (Langsdorf) und S. 486 – 489 (Lich)
Thea Altaras, Synagogen in Hessen. Was geschah seit 1945?, Königstein i. Ts.1988, S. 84 - 86
Klaus Konrad-Tromsdorf, Der Langsdorfer Judenpogrom, Eigenverlag, Lich 1989
Heimatgeschichtlicher Wegweiser zu Stätten des Widerstandes und der Verfolgung 1933 - 1945, Hessen II: Reg.bezirke Gießen und Kassel, VAS-Verlag, Frankfurt/M. 1996, S. 43/44
Thea Altaras, Synagogen und jüdische Rituelle Tauchbäder in Hessen – Was geschah seit 1945?, Königstein im Taunus 2007, S. 203 - 205
Lich, in: alemannia-judaica.de (mit Text- und Bilddokumenten zur jüdischen Ortshistorie)
Langsdorf mit Birklar und Muschenheim, in: alemannia-judaica.de
Muschenhein (Stadt Lich) - Jüdischer Friedhof, in: alemannia-judaica.de
H. Müller/F. Damrath/M. Kingreen/K. Konrad-Leder, Juden in Lich, Birklar, Langsdorf, Muschenheim und Ettingshausen, im Auftrag der Ernst-Ludwig-Chambré-Stiftung, 2 Bände, Lich 2010
Arbeitsgemeinschaft Dorfgeschichte (Hrg.), Juden in Langsdorf in der NS-Zeit, Langsdorf 2013
hek (Red.), Antrag für „Stolperstein“-Verlegung in Lich, in: „Gießener Anzeiger“ vom 24.10.2018
Ines Jachmann (Red.), „Ein Stein. Ein Name. Ein Mensch“ - Gunter Demnig verlegt 14 „Stolpersteine“ in Lich, in: „Gießener Anzeiger“ vom 19.12.2019
Ursula Sommerlad (Red.), Die Menschen hinter den Namen, in: „Gießener Allgemeine“ vom 9.1.2020
Nastasja Akchour-Becker (Red.), Konzerte, Lesungen, Stolpersteine, in: „Gießener Allgemeine“ vom 27.10.2020
pm (Red.), 18 neue Stolpersteine für Lich, in: „Gießener Allgemeine“ vom 12.12.2022
Klaus Kächler (Red.), Lebendige Erinnerungskultur, in: „Gießener Anzeiger“ vom 19.3.2023
N.N. (Red.), Stolpersteine werden verlegt, in: „Gießener Allgemeine“ vom 22.9.2023
Christina Jung (Red.), Acht neue Stolpersteine, in: „Gießener Allgemeine“ vom 13.11.2024 (betr. Muschenheim)
akn (Red.), Erinnerung wachhalten, in: „Gießener Anzeiger“ vom 20.11.2024 (betr. Stolpersteine in Muschenheim)