Linnich (Nordrhein-Westfalen)

Datei:Linnich in DN.svg Linnich ist mit derzeit etwa 13.000 Einwohnern drittgrößte Stadt im Kreis Düren - zwischen den Städten Mönchengladbach (im Nordosten) und Aachen (im Südwesten) gelegen (Kreis Jülich: Ausschnitt aus hist. Landkarte von 1905, aus: wikipedia.org, gemeinfrei  und  Kartenskizze 'Landkreis Düren', TUBS 2008, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 3.0).

 

Vermutlich siedelten sich die ersten Juden in Linnich im Gefolge der Pestpogrome von 1348/1349 an. Sie waren wohl Angehörige der vertriebenen Kölner Gemeinde. Ob es schon damals zur Gründung einer Gemeinde in Linnich kam, kann nicht belegt werden. In den folgenden Jahrhunderten lebten nur wenige vergleitete Juden am Ort, die Schutzgelder in die herzogliche Kasse zahlten; erst in den ersten Jahrzehnten des 19.Jahrhunderts war eine deutliche Zunahme der jüdischen Bevölkerung in Linnich zu verzeichnen.

Lange Zeit wurden Gottesdienste in einem Betraum eines Hinterhauses abgehalten. Ende 1913 konnte eine im Jugendstil gestaltete Synagoge an der Nordpromenade von dem Kölner Rabbiner Dr. Abraham Frank eingeweiht werden.

                    Synagoge in Linnich um 1920 (hist. Aufn.)

                 Über die festliche Einweihung des Synagogenbaus berichtete das „Jülicher Kreisblatt” am 12.November 1913 wie folgt (Text gekürzt):

„ ... Der heutige Tag war ein Festtag für unsere jüdische Gemeinde. Mit vielen Opfern ist es der Gemeinde gelungen, ein der hohen Würde entsprechendes Haus, eine neue Synagoge, ihr eigen nennen zu dürfen. Im Äußeren stellt sich der Rundbau auf luftiger Höhe dar, in das März- und Rurtal hinunterblickend. Im Innern wirkt er durch einen sehr schönen Schmuck. ... zog der Festzug mit der Militärmusik von Jülich aus der alten Synagoge aus. Die Ältesten der Gemeinde trugen die Thorarollen. ... Alle Bewohner unseres Städtchens, besonders die vom Zug berührten Straßen, hatten durch Beflaggen ihrer Häuser ihre Teilnahme kundgetan. ... Nach der gottesdienstlichen Handlung fand eine Festversammlung statt, die Hunderte und Aberhunderte von Glaubensgenossen aus nah und fern herbeigeeilt waren, um den schönen Einzug mitzufeiern. ...”

Bei den Planungen des Synagogenneubaus war es innerhalb der Linnicher Judenschaft zu Streitigkeiten gekommen: Die orthodox eingestellten Linnicher Juden wollten den Thoraschrein nach Osten ausgerichtet sehen, dagegen legten die liberal gesinnten Juden mehr Wert auf die optische Wirkung des Neubaus; letztere setzten sich schließlich durch.

In Linnich gab es ab 1927 auch eine einklassige jüdische Schule, die aus der hiesigen Religionsschule hervorgegangen war.

Der Linnicher jüdische Friedhof zwischen Schützengasse und Mahrstraße war vermutlich bereits seit Ansiedlung der ersten Juden in der Stadt genutzt worden; urkundlich ist er jedoch erstmals 1821 erwähnt.

Die Linnicher Synagogengemeinde war nicht autonom, sondern Teil der Synagogengemeinde Jülich.

  Juden in Linnich:

         --- um 1760 .......................   6 jüdische Familien,

    --- 1806 ..........................  46 Juden,

    --- 1857 .......................... 122   “  ,

    --- 1872 .......................... 136   “  ,

    --- 1895 .......................... 139   “  ,

    --- 1905 .......................... 122   “  ,

    --- 1911 .......................... 118   “  ,

    --- 1933 .......................... 153   “   (in ca. 30 Familien),

    --- 1938 (April) ..................  67   “  ,

    --- 1940 (April) ..................  41   “  .

Angaben aus: Elfi Pracht, Jüdisches Kulturerbe in Nordrhein-Westfalen, Teil I: Reg.bez. Köln, S. 110

       Linnich. Kirchplatz mit Katholische KircheKirchplatz in Linnich (Abb. aus: nailizakon.com)

 

Ab Mitte des 19.Jahrhunderts blieb der jüdische Bevölkerungsanteil in Linnich relativ konstant. Die hiesigen Juden waren hauptsächlich im Vieh- und Pferde- sowie im Manufakturwarenhandel tätig. Neben einigen wohlsituierten jüdischen Familien gehörte um 1930 die Mehrheit der unteren Einkommensklasse an; die Pferdehändler stellten unter den erwerbstätigen Juden die Mehrzahl.

Auch in Linnich begann mit dem Boykott jüdischer Geschäfte vom 1.4.1933 die staatlich organisierte Ausgrenzungs- und Verfolgungspolitik der Nationalsozialisten. Um „arische“ Kaufwillige auch weiterhin vom Betreten jüdischer Geschäfte abzuschrecken, ließ die NSDAP-Ortsgruppe auf dem Kirchplatz einen Pranger aufstellen, der die Namen derjenigen trug, die weiterhin in jüdischen Geschäften kauften.

Während des Novemberpogroms von 1938 wurde die Linnicher Synagoge mitsamt ihrer Inneneinrichtung in Brand gesetzt und vernichtet; die Täter waren SA-Angehörige aus Hückelhoven. Die ausgebrannte Synagoge wurde im Krieg dann vollkommen zerstört; wenige Jahre nach Kriegsende wurde das Gelände eingeebnet. Auch Privat- und Geschäftshäuser von Juden wurden verwüstet; einige Männer wurden verhaftet, im Rathaus eingesperrt und von hier nach Aachen überstellt; die älteren setzten die Behörden nach einigen Tagen wieder auf freien Fuß, die jüngeren verschleppte man ins KZ Sachsenhausen. Die in Linnich verbliebenen Juden wurden im Frühjahr 1941 nach Kirchberg in die Villa Buth „umgesiedelt“ und von dort Ende Juli 1942 ins besetzte Osteuropa deportiert.

Der NS-Vernichtungspolitik fielen insgesamt 49 Linnicher Juden zum Opfer.

                File:Linnich Jüdischer Friedhof764.JPG

 Teilansicht des jüdischen Friedhofs in Linnich  -  Doppel-Grabstein (Aufn. R. Hauke, 2010, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 3.0)

Auf dem ca. 1.300 m² großen jüdischen Friedhofsgelände in Linnich (an der Schützengasse) – nur 29 Grabsteine aus den Jahren 1821 bis 1952 sind erhalten - wurde im Herbst 1971 ein Gedenkstein für die Opfer der NS-Zeit aufgestellt; er trägt die Inschrift:

Zum Gedenken unserer jüdischen Mitbürger, die hier ihre Ruhestätte fanden.

Und derer, die in den Jahren 1933−1945 umgekommen sind.

Seit 1988 erinnert ein massiger Gedenkblock am ehemaligen Standort der Synagoge (an der Nordpromenade) an das von den Nationalsozialisten zerstörte Gotteshaus. Auf einer Seite des Gedenksteins ist die Inschrift zu lesen: "Wir müssen uns erinnern, sonst wird sich alles wiederholen."

 Gedenkstein mit Relief der Synagoge (Aufn. B., 2008, aus wikipedia.rog, CC BY-SA 3.0)

Nach Beschluss des Rates der Stadt sollen nun auch in Linnich sog. „Stolpersteine“ verlegt werden. Angestoßen wurde die für 2023 geplante Verlegung – die erste im Nordkreis Dürens überhaupt – von privater Seite: So wird in der Brachelener Straße an Angehörige der Familie Gottschalk und in der Rurstraße an Familie Coopmann mit insgesamt sieben messingfarbenen Steinquadern erinnert; sie wurden 'in den Osten'  deportiert und ermordet.

Stolpersteine NRW – Stolperstein Erna Gottschalk | WDRStolpersteine NRW – Stolperstein Selma Coopmann | WDRStolpersteine NRW – Stolperstein Hans Coopmann | WDR drei der sieben Steine (Abb. aus: stolpersteine.WDR)

22 weitere Stolpersteine sollen 2024 folgen.

Das bis heute erhaltengebliebene Mohel-Buch der Kultusgemeinde Linnich wird im Jüdischen Museum in Frankfurt/M. aufbewahrt; es ist vermutlich die einzige hebräische Schrift, die in Linnich verfasst worden ist.

      Blick ins Mohel-Buch 1825-1865 (Sammlung B. Brilling)

 

 

Im Dorfe Tetz - heute zweitgrößter Ortsteil von Linnich - existierte auch eine kleine israelitische Gemeinde, die aber nie mehr als 60 Angehörige zählte. Zu den gemeindlichen Einrichtungen gehörten neben zwei kleinen Friedhöfen auch eine Synagoge, die gegen Mitte des 19.Jahrhunderts einen Betraum im Obergeschoss eines Wohnhauses ablöste.

Die bis in die 1870er Jahre genutzte Begräbnisstätte in Tetz – sie war auch von den Juden aus dem benachbarten Boslar belegt worden – musste wegen des steigenden Grundwasserspiegels aufgegeben werden; danach wurde ein neues Friedhofsgelände an einem Berghang in Boslar angelegt. 

 

In der Flur „Am Mühlenbruch“ - zwischen Boslar und Tetz - erinnert der 1874 angelegte jüdische Friedhof an die israelitische Spezialgemeinde Boslar-Tetz; diese entstand zu Beginn des 19.Jahrhunderts und war als „Filialgemeinde“ der Synagogengemeinde Müntz angegliedert. Im Jahre 1811 besaß die winzige jüdische Gemeinde in Boslar einen Betsaal, musste ihre Toten aber derzeit noch auf dem jüdischen Friedhof im Nachbarort Tetz begraben. Als das Begräbnisgelände wegen steigenden Grundwassers nicht mehr genutzt werden konnte, wurde in den 1870er Jahren in der Flur „Am Mühlenbach“ – zwischen Boslar und Tetz gelegen – ein neuer Friedhof angelegt, der damit der jüngste Kreis Düren. Nur sechs Grabsteine haben die Zeiten überdauert.

                 Datei:Linnich-Boslar Denkmal-Nr. 11, Am Mühlenbach (6537).jpg Aufn. Käthe u. Bernd Limburg, 2010, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0)

 

 

 

In Setterich - ca. zehn Kilometer südlich Linnichs gelegen - sind jüdische Bewohner seit Beginn des 18.Jahrhunderts namentlich nachgewiesen. Um 1850 erreichte die Gemeinde mit ca. 90 Angehörigen ihren Zenit; danach war ein deutlicher Rückgang zu verzeichnen. Obwohl die schrumpfende Gemeinde nur unter Schwierigkeiten einen Minjan zustande bringen konnte, weigerten sich ihre Angehörigen vehement, an die Linnicher Gemeinde angeschlossen zu werden. Das Bethaus der Settericher Juden, ein zweigeschossiges Backsteingebäude, stammte aus den ersten Jahrzehnten des 19.Jahrhunderts. Während des Novemberpogroms von 1938 wurde die Inneneinrichtung geplündert; ein Jahr später wurde das Haus abgebrochen. Auf dem jüdischen Friedhof, dessen Anlage in den 1830er Jahren erfolgt war, befindet sich neben zehn Grabsteinen auch ein Gedenkstein, der an die ermordeten Juden der Settericher Gemeinde erinnert.

Friedhof in Setterich (Aufn. L., 2011, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0)  Setterich Jüdischer Friedhof (2).jpg

 

 

 

Weitere Informationen:

Helmut Schulte, Linnich - Geschichte einer niederrheinischen Stadt, Troisdorf 1967

Klaus H.S. Schulte, Dokumentation zur Geschichte der Juden am linken Niederrhein seit dem 17.Jahrhundert, in: "Veröffentlichungen des Historischen Vereins für den Niederrhein ...", Band 12, Verlag L.Schwann, Düsseldorf 1972, S. 146 - 148

N.Thiel/G.Bers (Hrg.), Aspekte jüdischer Geschichte in Jülich und Linnich im 19. und 20.Jahrhundert, in: "Veröffentlichungen des Jülicher Geschichtsvereins", III (1984)

Fred S. Heumann, Die jüdische Gemeinde in Linnich - Geschichtliche Betrachtung, in: N.Thiel/G.Bers (Hrg.), Aspekte jüdischer Geschichte in Jülich und Linnich im 19. und 20.Jahrhundert, in: "Veröffentlichungen des Jülicher Geschichtsvereins", III (1984), S. 125 ff.

Hermann Josef Paulissen, Die Israelische Volksschule in Linnich 1926 - 1938, in: "Neue Beiträge zur Jülicher Geschichte", Band 1/1990

Manfred Backhausen/Fred Heumann, Jüdische Friedhöfe in ... Linnich, Linnich-Boslar, Linnich-Müntz ....´, in: "Veröffentlichungen der Westdeutschen Gesellschaft für Familienkunde", No. 62, Köln 1992, S. 9 - 30

Irmgard Loosen, Erinnerungen an die jüdische Gemeinde in Linnich, Hrg. Linnicher Geschichtsverein, Jülich/Linnich 1994, S. 35 - 42

Elfi Pracht, Jüdisches Kulturerbe in Nordrhein-Westfalen, Teil I: Regierungsbezirk Köln, J.P.Bachem Verlag, Köln 1997, S. 110 - 116

Michael Brocke (Hrg.), Feuer an dein Heiligtum gelegt - Zerstörte Synagogen 1938 Nordrhein-Westfalen, Ludwig Steinheim-Institut, Kamp Verlag, Bochum 1999, S. 341/342 und S. 492

Gerd Friedt (Bearb.), Das Beschneidungsbuch des Salomon Franck aus Linnich, hrg. Wlli Dovern, "Jüdische genealogische Blätter", Heft 17, Jülich 2002

Suzanne Zittartz-Weber, Zwischen Religion und Staat. Die jüdischen Gemeinden in der preußischen Rheinprovinz 1815 - 1871, in: "Düsseldorfer Schriften zur Neueren Landesgeschichte und zur Geschichte Nordrhein-Westfalen", Band 64, Klartext-Verlag, Essen 2003, S. 290 ff.

Else Gotzen, Die Linnicher Begräbnisstätten, Linnich 2009

Jüdischer Friedhof in Linnich, in: commons.wikipedia.org/wiki/Category:Jüdischer_Friedhof_(Linnich)?uselang=de (mit Aufn. aller Grabsteine)

Guido von Büren, Synagogen im Kreis Düren – Zum Gedenken an die Reichspogromnacht vor 75 Jahren, hrg. von der Arbeitsgemeinschaft der Geschichtsvereine im Kreis Düren, 2013

N.N. (Red.), Erinnerung an jüdische Mitbürger. Ein Stolperstein für Liselotte und ihre Eltern, in: „Aachener Zeitung“ vom 21.6.2022

bugi (Red.), Opfergedenken in Linnich – Termin für die Stolpersteine steht, in: „Aachener Zeitung“ vom 30.7.2022

N.N. (Red.), Erinnerung an jüdische Mitbürger – 22 neue Stolpersteine für Linnich, in: „Aachener Zeitung“ vom 29.7.2023