Lorsch (Hessen)
Lorsch ist eine Kommune mit derzeit ca. 14.000 Einwohnern auf dem Gebiet des südhessischen Kreises Bergstraße – etwa 15 Kilometer östlich von Worms bzw. unweit südwestlich von Bensheim gelegen (Kartenskizze 'Kreis Bergstraße', aus: kreisgebiet.de/kreis-bergstrasse).
Schon im 13. und 14.Jahrhundert sollen in Lorsch vereinzelt jüdische Familien gelebt haben, wie Berichte über Verfolgungen aus dieser Zeit belegen.
Kloster Lorsch und Ortschaft – colorierter Kupferstich, um 1615 (Abb. aus: wikipedia.org, gemeinfrei)
Zu Beginn des 30jährigen Krieges sollen wieder Juden ins nun kurmainzische Lorsch gekommen sein. Urkundliche Nachweise über dauerhafte jüdische Ansiedlungen stammen allerdings erst aus der zweiten Hälfte des 17.Jahrhunderts; dabei handelte es sich nur um sehr wenige Familien. Die Hintergasse war Siedlungsschwerpunkt der Lorscher Juden. Vor 1833 ist dort ein "Badehaus der Judengemeinde" im Kataster vermerkt, daneben eine "Mehlstube" (später Backhaus) sowie ein Schlachthaus.
In einem Vermerk im Kirchenbuch lässt sich der erste Nachweis einer organisierten jüdischen Gemeinde führen; der damalige Ortspfarrer notierte im Jahre 1725, dass die "hiesige Judenschaft ... drei Gulden für das Synagogicum" nach Mainz abzuliefern habe.
Die jüdischen Bewohner von Lorsch und Kleinhausen, das heutige Einhausen, bildeten zusammen eine Kultusgemeinde und benutzten gemeinsam die Synagoge in Lorsch. Als die Juden Kleinhausens um 1795 einen eigenen Betraum einrichteten, hatte die Lorscher Judenschaft dann Schwierigkeiten, einen Minjan zusammenzubringen.
Die mit dem Beginn der Emanzipation einsetzende Vergrößerung der jüdischen Gemeinde in Lorsch machte in der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts den Neubau einer Synagoge notwendig. Die in der Bahnhofstraße im Jahre 1885 errichtete Synagoge mit ihren Zwillingstürmen verfügte über mehr als 120 Plätze - davon ca. 80 für Männer. Das Eingangsportal lag zurückversetzt hinter anderen gemeindlichen Einrichtungen (Schulhaus und Mikwe) in der Kirchstraße.
Synagoge in Lorsch (Ausschnitt aus einer Bildpostkarte) und Fassade des Synagogengebäudes (Abb. aus: P. Arnsberg)
Die Besetzung der Lehrerstelle war in der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts einem dauernden Wechsel unterworfen. Im folgenden die Ausschreibungen der Stelle des Religionslehrers und Vorbeters in Lorsch in der Zeitschrift „Der Israelit“ vom 21.Aug. 1872, 25. Okt. 1876 und 17.Juli 1878:
Wie sehr eine orthodoxe Grundhaltung der Gemeindeangehörigen sich - auch nach der Jahrhundertwende - sich noch erhalten hatte, kann ein Artikel der Zeitschrift "Der Israelit" vom 21. Mai 1908 belegen:
"Lorsch, 21. Mai. In Anwesenheit fast sämtlicher Gemeindeangehörigen referierte am letzten Sonntag in unserer Synagoge Herr Kaufmann Aron aus Frankfurt a.M. über 'Die Aufgaben des gesetzestreuen Judentums in der Gegenwart.' Redner wies auf die Ursachen des religiösen Niedergangs aller gesetzestreu Gesinnten auf dem flachen Lande hin und empfahl den Zusammenschluß aller gesetzestreu Gesinnten von Stadt und Land. Nachdem Herr Aron über die Ziele und Bestrebungen der 'Freien Vereinigung für die Interessen des orthodoxen Judentums' einiges ausgeführt hatte, erklärten sämtliche Gemeindemitglieder ihren Beitritt zu derselben. Der Verlauf der Versammlung bewies zur Genüge, daß in unserer Gemeinde noch echte Frömmigkeit vorhanden ist, und daß sich der von unserem früheren Lehrer Jaffé, während seiner langjährigen, hiesigen Tätigkeit eingepflanzte religiöse Geist treu erhalten hat."
In Lorsch bestand im 19.Jahrhundert ein sog. Brautausstattungsverein („Chewroh kaddischoh Hachnoßas Kalloh"); der nur wenige Mitglieder zählende Verein sorgte dafür, dass alle zwei Jahre ein aus armen Verhältnissen stammendes Mädchen 600 Gulden zu seiner Aussteuer erhielt.
aus: "Frankfurter Israelitisches Familienblatt" vom 2. Febr.1912
In Lorsch gab es keinen jüdischen Begräbnisplatz; deshalb wurden die Verstorbenen auf dem großen jüdischen Verbandsfriedhof an der Bergstraße in Alsbach-Bickenbach beerdigt.
Die Gemeinde Lorsch unterstand dem orthodoxen Rabbinat Darmstadt.
Juden in Lorsch:
--- 1640 ......................... 2 jüdische Familien,
--- 1728 ......................... 28 Juden,
--- 1806 ......................... 60 “ ,
--- 1831 ..................... ca. 65 “ (in 10 Familien),
--- 1837 ......................... 70 “ ,
--- 1861 ......................... 86 “ ,
--- 1880 ......................... 96 “ ,
--- 1885 ......................... 110 " (in 12 Familien),
--- 1895 ......................... 101 “ ,
--- 1900/05 ...................... 88 “ (in 18 Familien),
--- 1910 ......................... 72 “ ,
--- 1925 ......................... 69 “ ,
--- 1933 ......................... 66 “ ,
--- 1939 ......................... 31 “ ,
--- 1942 ......................... keine.
Angaben aus: H.Degen/P.Schnitzer, Zur Geschichte der jüdischen Gemeinde in Lorsch
Die in Lorsch lebenden Juden verdienten ihren Unterhalt im Vieh- und Fruchthandel, einige waren auch in der Landwirtschaft tätig. Entlang der Bahnhof- und der Nibelungenstraße gab es insgesamt neun Geschäfte, die von jüdischen Händlern/Kaufleuten geführt wurden.
Zu Beginn der NS-Zeit lebten noch knapp 70 Juden in Lorsch. Auch hier wurden die wenigen jüdischen Geschäfte am 1.4.1933 boykottiert, die kleinen Kaufleute und Gewerbetreibenden in ihrer beruflichen Existenz massiv bedroht. Die Kinder der Lorscher Juden durften nun keine Regelschulen mehr besuchen; sie fuhren täglich nach Worms oder besuchten die jüdischen Schulen in Darmstadt bzw. Frankfurt.
Bereits in den Jahren vor dem Novemberpogrom hatte ein Teil der jüdischen Einwohner wegen zunehmender Repressalien Lorsch verlassen und war in grrößere Städte abgewandert bzw. in die Emigration gegangen.
Die Synagoge in der Bahnhofstraße wurde in den frühen Morgenstunden des 10.November 1938 gewaltsam aufgebrochen; nachdem der Innenraum völlig verwüstet worden war, zündeten in Zivil gekleidete SA-Angehörige das Gebäude an. Zahlreiche Schaulustige wohnten der ‚Aktion’ bei; das Synagogengebäude brannte völlig aus und wurde später abgebrochen. Während Wohnungen jüdischer Einwohner demoliert und auch geplündert wurden, hatten sich die meisten Lorscher Juden in die Wohnung eines Gemeindemitgliedes geflüchtet und warteten dort auf das Ende der Ausschreitungen.
J-Kennkarten für die beiden jüdischen Mädchen Liesel (geb. 1926) und Miriam Kahn (geb. 1928)
Bis Kriegsbeginn gelang noch etwa der Hälfte der in Lorsch verbliebenen Juden ihre Emigration, zumeist nach Nordamerika. Der zwangsweisen Vertreibung aus ihren Wohnungen folgte die Einweisung der jüdischen Familien in das „Judenhaus“ in der Karlstr.1; von hier aus wurden dessen Bewohner im August/September 1942 deportiert; sie mussten sich innerhalb von drei Stunden auf dem Marktplatz einfinden, wurden per LKW nach Bensheim gebracht und von dort „in den Osten umgesiedelt”.
Nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem/Jerusalem und des "Gedenkbuches - Opfer der Verfolgung der Juden ..." sind 40 gebürtige bzw. länger am Ort ansässig gewesene Angehörige der jüdischen Gemeinde Lorsch Opfer der „Endlösung“ geworden (namentliche Nennung der betroffenen Personen siehe: alemannia-judaica.de/lorsch_synagoge.htm).
Seit November 1982 erinnert in der Parkanlage an der Schulstraße eine Gedenktafel an die ehemaligen jüdische Gemeinde in Lorsch; im Beisein des Landesrabbiners Dr. Ernst Roth wurde das Mahnmal eingeweiht; es trägt die Worte:
Dem Angedenken der jüdischen Bürger unserer Stadt.
Zur Erinnerung an die Synagoge der jüdischen Gemeinde Lorsch,
die am 10. November 1938 zerstört wurde.
Gedenkstätte, Schulstraße (Aufn. aus: arbeitskreis-zwingenberger-synagoge.de)
Über den Standort des Gedenksteins wurde jahrelang gestritten; er befindet sich nicht an der Stelle, an der einst die Synagoge stand. In jüngster Zeit ist aber auch hier eine Gedenktafel angebracht worden, die den folgenden Text trägt:
Ehemalige Synagoge. Hier stand die Synagoge, die 1885 für die 96 Mitglieder der jüdischen Gemeinde Lorsch erbaut wurde. Im Zuge der nationalsozialistischen Judenverfolgung mussten zahlreiche jüdische Mitbürger ihre Heimat verlassen. In der 'Reichskristallnacht' am 9. November 1938 wurde die Lorscher Synagoge durch Brandstiftung zerstört. 1942 waren noch 14 Juden in Lorsch verblieben. Sie wurden am 10./15. August und am 10./15. September in die Konzentrationslager Auschwitz und Theresienstadt deportiert.
Ende 2013 wurde die verlängerte Rehngartenstraße nach dem jüdischen 'Handelsmann' Abraham Süßkind in "Süßkindgasse" umbenannt, um an das einstige, mitten im Ort bestandene Judenviertel zu erinnern.
Vor ehemaligen Wohnsitzen Lorscher Juden (Nibelungenstraße) wurden 2015 erstmals sog. "Stolpersteine" verlegt, sie sollen an Angehörige der beiden jüdischen Familien Kahn und Mainzer erinnern (siehe Abb.).
"Stolpersteine" für Angehörige der Fam. Kahn, die nach Kanada emigrierten (Aufn. G., 2013, aus: commons.wikimedia.org, gemeinfrei)
Zu den vorhandenen 19 sog. "Stolpersteinen" kamen Ende 2018 weitere sieben hinzu, die an Angehörige der beiden Unternehmerfamilien Abraham (Kirchstr.) und Marx (Bahnhofstr.) erinnern. Nachdem in der Bahnhofstraße im Folgejahr nochmals zwölf Steine in die Gehwegpflasterung und weitere sieben in der Karlstraße eingefügt wurden, sind nach der letztmaligen Verlegung (2023) derzeit nun insgesamt ca. 55 messingfarbene Gedenkquader zu finden.
Aufn. A., 2020, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 4.0
verlegt in der Linden- u. Kirchstraße
Jüngst wurde am Standort der ehemaligen beiden Synagogen in der Bahnhofstraße eine sog. "Stolperschwelle" verlegt (2024).
2023 wurde in Lorsch in Trägerschaft des Heimat- und Kulturvereins eine neue Dokumentationsstätte im Alten Schulhaus eröffnet, die über die Landjudenschaft der Region informiert.
Weitere Informationen:
H.Degen/P.Schnitzer, Zur Geschichte der jüdischen Gemeinde in Lorsch, in: Laurissa jubilans, Festschrift zur 1200-Jahrfeier von Lorsch, Lorsch 1964, S. 182 – 187
Paul Arnberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang - Untergang - Neubeginn, Societäts-Verlag, Frankfurt/M. 1971, Bd. 1, S. 501 - 504
Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Bilder - Dokumente, Eduard Roether Verlag, Darmstadt 1973, S. 135
Paul Schnitzer, Juden im Amt Lorsch zu Beginn des 19.Jahrhunderts, in: "Geschichtsblätter Kreis Bergstraße", No.12/1979, S. 149 - 160
Harold Hammer-Schenk, Synagogen in Deutschland. Geschichte einer Baugattung im 19. u. 20.Jahrhundert, Hans Christians Verlag, Hamburg 1981, Teil 1, S. 337 und Teil 2, Abb. 263
Rudolf Kunz, Statistik der Juden 1774 - 1939 im Gebiet des heutigen Kreises Bergstraße, in: "Geschichtsblätter Kreis Bergstraße", No.15/1982, S. 285/286
Walter Glanzner, Die Lorscher Juden, in: Lorscher Heimatbuch, 2.Aufl. 1986, S. 115 f.
Heimatgeschichtlicher Wegweiser zu Stätten des Widerstandes und der Verfolgung 1933 - 1945, Hessen I: Regierungsbezirk Darmstadt, VAS-Verlag, Frankfurt/M. 1995, S. 24/25
Thilo Figaj, Das Ende einer jüdischen Gemeinde in Südhessen, in: „Echo“ vom 25.4.2012
Thilo Figaj (Red.), Die 9 Generationen der Familie Rohrheimer. Erinnerungen an die älteste jüdische Familie in Lorsch, aus: kulturverein-lorsch.de (längerer Aufsatz von 2012)
Auch Lorsch bekommt Stolpersteine. Heimat- und Kulturverein will ab Herbst auf diese Weise an ehemalige jüdische Mitbürger erinnern, aus: echo-online.de vom 31.5.2014
Die Geschichte der Juden in Lorsch, in: "Bergsträßer Anzeiger" vom 8.11.2014
Viele wollten das Unrecht nicht wahrhaben, in: "Bergsträßer Anzeiger" vom 12.11.2014
Lorsch mit Einhausen, in: alemannia-judaica.de (mit zahlreichen, vor allem personenbezogenen Dokumenten zur jüdischen Gemeindehistorie)
Thilo Figaj, Stolperstein-Verlegungen für die jüdischen Familien Kahn und Mainzer, 2015, in: lorsch.de
Nina Schmelzing (Red.), "Stolpersteine" werden verlegt, in: "Bergsträßer Anzeiger" vom 23.5.2015
Auflistung der in Lorsch verlegten Stolpersteine, online abrufbar unter. wikipedia.org/wiki/Liste_der_Stolpersteine_in_Lorsch (Stand 2023)
Thilo Figaj (Bearb.), Memorbuch Lorsch der jüdischen Gemeinde Lorsch 1758 - 1850, Lorsch 2013/2016
Christian Knatz (Red.), Pogromnacht 1938: Thilo Figaj schildert Lorscher Verstrickungen, in: "Lampertheimer Zeitung" vom 12.3.2017
Bernd Sterzelmaier (Red.), Thilo Figaj berichtet über die Vertreibung der Juden aus Lorsch, in: Lampertheimer Zeitung", Mai 2018
Hans-Jürgen Brunnengräber (Red.), Stolpersteine in Lorsch. Hauseigentümer werden nicht mehr gefragt, in: echo-online.de vom 5.7.2018
Christopher Frank (Red.), Lorscher Unternehmerfamilien Abraham und Marx wird mit sieben Stolpersteinen gedacht, in: „ECHO“ vom Okt. 2018
kel (Red.), Neue Steine gegen das Vergessen, in: „Mannheimer Morgen“ vom 10.10.2018
kel (Red.), Stolpersteine erinnern an jüdische Mitbürger in Lorsch, in: „Mannheimer Morgen“ vom 9.8.2019
sch (Red.), Steine erinnern an eine Familie, in: "Bergsträßer Anzeiger" vom 26.10.2020
Nina Schmelzing (Red.), Neue Dokumentationsstätte in Lorsch eröffnet, in: "Bergsträßer Anzeiger" vom 12.5.2023
Dokumentation Landjudenschaft in Lorsch, Südhessen und östlicher Kurpfalz, Flyer 2023 (online abruibar unter: lorsch.de)
N.N. (Red.), Lorsch verlegt die vorerst letzten Stolpersteine, in: "!Bergsträßer Anzeiger" vom 6.11.2023
Nina Schmelzing (Red.), Jüdische Familie erhält in Lorsch geraubtes Gemälde zurück, in: "Bergsträßer Anzeiger" vom 19.7.2024
Nina Schmelzing (Red.), Stolperschwelle erinnert an die frühere Synagoge in Lorsch, in: "Bergsträßer Anzeiger" vom 14.9.2024
Thilo Figaj, Die Juden in Lorsch (Publikation in Vorbereitung)