Lichtenstadt (Böhmen)
Lichtenstadt ist die kleine tschechische Ortschaft Hroznětín mit derzeit etwa 2.000 Einwohnern - kaum zehn Kilometer nördlich von Karlsbad/Karlovy Vary gelegen (Ausschnitt aus hist. Karte aus: jewgenpedia.com/communities/lichtenstadt und Ausschnitt aus hist. Bildkarte, aus: wikipedia.org, gemeinfrei und Kartenskizze 'Tschechien' mit Hroznětín rot markiert, D.P. 2005, aus: commons.wikimedia.org CC BY-SA 3.0).
Lichtenstadt - Postkarte um 1900 (Abb. aus: wikipedia.org, gemeinfrei)
Im 18. und in der ersten Hälfte des 19.Jahrhunderts besaß Lichtenstadt eine zahlenmäßig recht beachtliche israelitische Gemeinde, deren Angehörige zeitweilig etwa ein Drittel der Ortsbevölkerung stellte.
In Lichtenstadt ist jüdische Ansässigkeit seit der frühen Neuzeit nachweisbar. Da Juden in Karlsbad ein ständiges Wohnrecht lange Zeit verwehrt blieb - sie waren 1499 ausgewiesen worden - und sie bis ins 19.Jahrhundert hinein auch keine Grundstücke dort erwerben konnten, lebten sie in zahlreichen Dörfern des Umlandes, die meisten in Lichtenstadt, wo sie bereits seit dem beginnenden 16.Jahrhundert einen ghettoartigen Bezirk bewohnten. Über den sog. „Judensteg“ kamen sie auch nach Karlsbad, um hier ihren Handelsgeschäften nachzugehen.
1507 ist erstmals ein jüdisches Bethaus erwähnt; der Nachfolgebau stammt aus dem 18.Jahrhundert.
Synagoge in Lichtenstadt, hist. Aufn. (aus: vmuz.cz/typ/zidovske-hrbitovy/byvala-synagoga-v-hroznetine)
Gegen Ende des 15.Jahrhunderts liegen vermutlich die Anfänge des jüdischen Friedhofs – einer der ältesten seiner Art in Böhmen.
ältere Grabmäler des jüdischen Friedhofs in Lichtenstadt
Abraham Aaron (er stammte aus Polen und führte später noch den Beinamen Lichten nach seiner Wirkungsstätte Lichtenstadt/Böhmen) lebte im 17.Jahrhundert und wirkte zunächst als Agent am sächsischen Hof; Bedeutung erlangte er dann als Primator der böhmischen Landjudenschaft. 1672 bis 1693 stand Abraham Aaron Lichten dieser jüdischen Organisation vor; als Fürsprecher der böhmischen Juden war er gleichzeitig auch mitverantwortlich für die Eintreibung der fälligen Steuern seiner Glaubensgenossen.
Juden in Lichtenstadt:
--- um 1570 ............................ 17 jüdische Familien,
--- 1638 ............................... 21 " " ,
--- 1710 ........................... ca. 300 Juden,
--- 1724 ............................... 47 jüdische Familien (mit ca. 240 Pers.),
--- 1750 ........................... ca. 450 Juden (ca. 30% d. Bevölk.),
--- 1793 .............................. 292 “ (in 51 Familien),
--- 1811 .......................... ca. 50 jüdische Familien,
--- 1857 .............................. 457 Juden (ca. 29% d. Bevölk.),
--- 1869 .............................. 77 “ ,
--- 1921 .............................. 44 “ ,
--- 1932 .............................. 7 “ .
Angaben aus: Hroznětín, in: International Jewish Cemetery Projekt
Während des 17./18.Jahrhunderts zählte Lichtenstadt zu einer der bedeutendsten jüdischen Gemeinden Böhmens; so hatte zeitweise der führende Vertreter der böhmischen Judenschaft hier seinen Sitz.
Um 1710 setzte sich die Judenschaft Lichtenstadts aus ca. 300 Personen zusammen; gegen Mitte des Jahrhunderts wurden mehr als 450 (ca. 30% der Bevölkerung) gezählt; damit befand sich damals in Lichtenstadt die größte jüdische Siedlung der Region. Innerhalb nur weniger Jahre – beginnend um 1860 - erfolgte eine Abwanderung der allermeisten Familien, die nun in den größeren Städten für ihre Zukunft bessere wirtschaftliche Perspektiven sahen; mehrheitlich ließen sie sich in Karlsbad nieder. Die Abwanderung der jüdischen Familien in nur relativ kurzer Zeit hatte ein verheerender Großbrand im Jahre 1873 noch beschleunigt. So lebte um 1900 nur noch eine überschaubare Zahl jüdischer Familien im Ort. In den 1930er Jahren löste sich schließlich die Restgemeinde auf.
Heinrich-Reichelt-Straße (Hauptstr.) und Marktplatz in Lichtenstadt - hist. Postkarten, um 1900 (aus: commons.wikimedia.org, gemeinfrei)
Bis heute hat sich das ausgedehnte ehemalige Judenviertel erhalten; die im 18. Jahrhundert erbaute Synagoge - teilzerstört im Jahre 1938 - wurde in den 1950er Jahren abgerissen.
Der vermutlich gegen Ende des 15.Jahrhunderts erstmals belegte Friedhof in Lichtenstadt zählt zu eine der ältesten jüdischen Begräbnisstätten Böhmens überhaupt; unter den etwa 300 vorhandenen Grabsteinen findet man auch noch einige, die aus der Zeit des ausgehenden 17. Jahrhunderts stammen; sie wurden während der NS-Zeit schwer beschädigt. Erst in jüngster Vergangenheit wurde der in Vergessenheit geratene jüdische Friedhof mit seinen umgestürzten und zerstörten Grabsteinen dank mehrerer privater Initiativen teilweise restauriert. In jüngster Vergangenheit hat es hier mehrfach Schändungen von Grabstätten gegeben.
Blick durch das Eingangstor auf das Gelände (Marcus O., 2022, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 4.0)
Friedhofsgelände (Aufn. zed, 2013 und Marcus O., 2022, aus: aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 3.0 bzw. 2.0)
alte Grabsteine (Aufn. Marcus O., 2022)
Weitere Informationen:
Tobias Jacobovits, Wer ist Abraham Aaron Lichtenstadt?, in: "Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums", Jg. 74 (N. F. 38), Heft !/2 S. 35 – 41, Prag 1931
Hugo Gold (Hrg.), Die Juden und Judengemeinden Böhmens in Vergangenheit und Gegenwart I. - Ein Sammelwerk, Jüdischer Buch- und Kunstverlag, Brünn-Prag 1934, S. 378 - 382
Harold Hammer-Schenk, Synagogen in Deutschland. Geschichte einer Baugattung im 19. u. 20.Jahrhundert, Hans Christians Verlag, Hamburg 1981, Teil 1, S. 321 und Teil 2, Abb. 235
The Jewish Community of Hroznetin, Hrg. Beit Hatfutsot – The Museum of the Jewish People (1996), online abrufbar unter: dbs.bh.org.il/place/hroznetin
Lichternstadt (Hroznětín), Entwicklung der jüdischen Gemeinde, online abrufbar unter: jewgenpedia.com/communities/lichtenstadt (mit Personenregister ab Ende des 17.Jahrhunderts)
Rudolf M.Wlaschek, Juden in Böhmen - Beiträge zur Geschichte des europäischen Judentums im 19. u. 20.Jahrhundert, in: "Veröffentlichungen des Collegium Carolinum", Band 66, Verlag R. Oldenbourg, München 1997
Jan Kopeček, Die Juden in Ostrov und Hroznětín, online unter: gymostrov.cz (Anm.: kurzer Aufsatz und zahlreichen Aufnahmen)
Lichtenstadt (Hroznětín), online abrufbar unter: aus: boehmisches-erzgebirge.cz (enthält hist. Aufnahmen der Synagoge)
Jewish Families from Hroznětín, Nejdek and Jachymov (Lichtenstadt/Lichtenstein, Neudek and Sankt Joachimstal) in Bohemia, Czech Republic, online abrufbar unter: geni.com/projects/Jewish-families-from-Hrozn%25C4%259Bt%25C3%25ADn-Nejdek-and-Jachymov-Lichtenstadt-Neudek-and-Sankt-Joachimstal-Bohemia-Czech-Republic/15347
Kateřina Čapková /Hillel J. Kieval (Hrg.), Zwischen Prag und Nikolsburg. Jüdisches Leben in den böhmischen Ländern, in: "Veröffentlichungen des Collegium Carolinum", Band 140, München 2020, u.a. S. 384