Marburg/Lahn (Hessen)
Die Universitätsstadt Marburg a.d. Lahn - Kreisstadt des hessischen Landkreises Marburg-Biedenkopf - ist mit derzeit ca. 78.000 Einwohnern die achtgrößte Stadt im Bundesland Hessen (Ausschnitte aus hist. Karte 'Landgrafschaft Hessen' und aus hist. Karte von 1905, aus: wikipedia.org, gemeinfrei und Kartenskizze 'Landkreis Marburg-Biedenkopf', A. Trepte 2006, aus: commons.wikimedia.org CC BY-SA 3.0).
Erstmals wird jüdisches Leben in Marburg 1317 urkundlich erwähnt: In einem Kaufvertrag wurde von einer Synagoge gesprochen, die in der „Judengasse“, dem heutigen Schlosssteig gestanden haben soll; damit kann von Ansiedlungen von Juden bereits in der zweiten Hälfte des 13.Jahrhunderts ausgegangen werden. Vermutlich muss es sich um ein eher bescheidenes Bethaus gehandelt haben, das auch von den „Landjuden“ der Umgebung mitgenutzt wurde. Ein Friedhof außerhalb der Stadtmauer ist aus dem 14. Jahrhundert nachgewiesen. Das als „juden kirchob“ bzw. als „juddenkirchoff“ genannte Begräbnisgelände befand sich bei der Vorstadt Weidenhausen bei der "Männersieche" (heutige Bezeichnung "An den Siechengärten"). Dieser Friedhof wurde vermutlich schon 1375 nicht mehr benutzt und das Gelände später als Ackerland verwendet.
Von der Vertreibung in den Pestjahren blieben die wenigen Juden Marburgs zunächst wohl verschont; doch bereits in der zweiten Hälfte des 14.Jahrhunderts schien es kaum noch jüdische Bewohner in der Stadt gegeben zu haben; so wurde der „Judenkirchhof“ aufgelassen und die Synagoge aufgegeben, die vermutlich erst um 1450 abgebrochen wurde. Nur zeitweilig hielten sich danach noch wenige jüdische Familien hier auf. Nach ihrer 1524 verordneten Vertreibung aus Hessen wurden wenige Jahre später nochmals vorübergehend Juden zugelassen. Nach Gründung der Marburger Universität 1527 hatten sich allerdings deren Professoren gegen einen Aufenthalt von Juden in der Stadt ausgesprochen; diese antijüdische Haltung wurde dadurch noch gestärkt, dass alle Juden Marburgs mehrere Jahre lang regelmäßig christliche Predigten anhören mussten.
Marburg - Stich M.Merian, um 1655 (Abb. aus: wikipedia.org, gemeinfrei)
Nach einer wechselvollen Geschichte - geprägt von Vertreibung und kurzzeitiger Duldung - nahm als Folge der einsetzenden Landflucht während des Dreißigjährigen Krieges die Zahl der Juden in Marburg allmählich zu. Ende des 18.Jahrhunderts lebten in Marburg acht jüdische Familien; sie wohnten in der Juden- und benachbarten Wettergasse. 1818 zählte die jüdische Gemeinde 13 Familien; fünf Jahre später wurde Marburg Sitz eines Provinzialrabbinats; dazu gehörten die Ortschaften Frankenberg, Kirchhain und Ziegenhain.
Die um 1720 eingerichtete Betstube in einem Hinterhaus in der Barfüßergasse wurde 1818 durch eine kleine Synagoge in der Ritterstraße ersetzt; das Gebäude wurde kurzzeitig wegen finanzieller Schwierigkeiten verkauft, kam aber bald wieder in die Hände der Marburger Judenschaft. Im September des Jahres 1897 wurde nach zweijähriger Bauzeit am Fuße der Oberstadt in der Universitätsstraße eine größere Synagoge eingeweiht; der aus rotem Sandstein gefertigte Bau – verantwortlich für das Bauwerk zeichnete der Architekt Wilhelm Spahr - verfügte über 230 Männer- und 175 Frauenplätze; dort gab es auch eine Mikwe.
Synagoge in Marburg (hist. Aufn., Stadtarchiv)
Über die Einweihung der neuen Synagoge berichtete „Der Israelit” am 23.Sept.1897:
Marburg. Der 18. Elul (Anm.: 15. September 1897) bildet einen Wendepunkt in der Geschichte der jüdischen Gemeinde Marburg. Es ist der Tag, an dem die Tag Synagoge eingeweiht wurde. Wenn schon für jede jüdische Gemeinde ein solcher Tag von Bedeutung ist, so muss dies für die unsrige ganz besonders der Fall sein. Marburg, die Stadt im herrlichen Lahnthale, darf nicht nach ihrer numerischen Einwohnerzahl gemessen werden. Durch die Universität gewinnt sie eine Wichtigkeit, die nicht unterschätzt werden darf. Junge Leute, die hier ihren Studien obliegen, lernen auch hier zum ersten Mal das Leben kennen, die Eindrücke, die sie empfangen, tragen sie mit sich für alle Zeit fort. ... In unserer Zeit gewinnt ja wieder das religiöse Leben an Boden und wird demselben mannigfaches Interesse entgegengebracht. Der nichtjüdische Student sehnt sich oft danach auch unsere Kultusstätte und unsern Kultus kennen zu lernen. Die irrigsten Vorstellungen herrschen ja über denselben selbst in den Kreisen, von denen man es nicht erwarten sollte.
... Doch bevor ich die Einweihungsfeier des imposanten Baues vorführe, will ich den Abschied von dem schlichten alten Gebethause schildern. Die ganze Gemeinde hatte sich zum Morgengottesdienst in diesem vereinigt. Das Gebet ging in üblicher Weise vor sich, da ertönt plötzlich beim Tachanun (Bittgebet "Tachanun") aus dem Munde unseres Rabbiners das Schomer Jisrael ("Hüter Israels" = Gott). Wer die antisemitischen Irrungen und Wirrungen der letzten Jahre kennt, wird begreifen, welchen Eindruck dieses Bekenntnisgebet auf Hörer Marburgs machte. Nach Beendigung des Gottesdienstes sprach Herr Provinzial-Rabbiner Dr. Munk der Gemeinde die ... vor, worauf dieser in einer kurzen, aber ergreifenden Ansprache an die Gemeinde sich wandte. Fast niemand blieb thränenleer, als er das Gotteshaus selbst apostrophierte, dasselbe um Mechila (Verzeihung) bat und seiner Würde und Weise dann gleichsam entkleidete. Hierauf erschallten zum letzten Male die Schofartöne an dieser Stelle.
Um 1/2 12 Uhr begann die Einweihungsfeier der neuen Synagoge. Im Vorgarten hatte sich die gesamte Gemeinde mit ihren Gästen versammelt. ... Nachdem in feierlicher Weise von dem Gemeindeältesten Herrn Koppel Strauß der Landrat den Schlüssel erhalten hatte, übergab ihn dieser mit einer kurzen Ansprache dem Provinzial-Rabbiner Dr. Munk. Mit dem Schlüssel stieg nun dieser die Stufen zum Hauptportale empor. Die Worte, die über demselben eingemeißelt sind Pitechu li schaarei zädäk usw. ("Öffnet mir die Tore der Gerechtigkeit" usw.) und die folgenden Verse des Psalms paraphrasierte der Redner in kurzer, markiger Sprache und öffnete das Tor. ... Den Mittelpunkt der Feier bildete die Predigt des Herrn Provinzial-Rabbiner Dr. Munk. ... Mit jesaianischen Worten warf er die Frage auf, wozu dem Allumfasser, dessen Tempel die Natur ist, ein Gotteshaus. Die Antwort gab er in der geistvollen Deutung der Bezeichnungen, die ein jüdisches Gotteshaus führt. Beit HaTefilla ("Haus des Gebetes"), Mischkan HaEdut ("Haus des Gesetzes"), Beit HaKnesset ("Haus der Versammlung"). Meisterhaft war inhaltlich und formell die Ausführung. Begeistert begeisterte der Redner, ergriffen waren die Hörer. Gewaltig wirkten auch die musikalischen Theile der Feier, um die sich Herr Lehrer Strauß ungetheiltes Lob und Verdienst erworben hat. Mit Verständnis für den Geist der hebräischen Poesie wusste er die Compositionen dem von ihm geschulten Chore und Orchester beizubringen, dass es eine vollendete Leistung war. Auf den Gesichtern aller Theilnehmer der Einweihung las man die Begeisterung. Ein Kiddusch haSchem (Heiligung des Namens) war es und bleibt es, wie die obengenannten Vertretern Vertreter der Behörden, zum Theil Männer mit glänzenden Namen, alle in hervorragenden Stellungen, die wärmste Anerkennung und den innigsten Dank unserem hoch- und allverehrten Provinzial-Rabbiner Dr. Munk aussprachen. Man sah und hörte, dass es nicht konventionelle Formen waren. Noch heute bildet in diesen Kreisen die erhebende Feier das Gespräch.
Ungefähr eine Stunde nach dieser Feier fand ein feierlicher Mincha-Gottesdienst statt. Am späten Nachmittage versammelte sich die gesammte Gemeinde zu einem Festdiner. Thränen traten mir in die Augen, als ich beim Betreten des Saales einen der ältesten Männer, der aus einem alten Marburger Geschlechte stammt, vor Freuden tanzen sah. In diesem Momente ging mir fast ein Jahrhundert der jüdischen Geschichte Marburg's durch den Kopf. Den Kaiser-Toast brachte der Herr Provinzial-Rabbiner aus, indem er den Kaiser als Friedensfürsten, dem die Religion wahre Herzenssache ist, feierte. ... Die Feier war freudig und würdig, eine Feier, wie sie dem jüdischen Geiste und Herzen entspricht. Der Tag aber bleibt ein Ehrentag für die jüdische Gemeinde Marburgs.
An der neuen Synagoge wirkten die Rabbiner Dr. Leo Munk und sein Nachfolger Dr. Naphtali Cohn, der 1936 nach Palästina auswanderte; der letzte Marburger Rabbiner hieß Curt Peritz.
Ausschreibung einer Lehrerstelle an der Religionsschule vom 30.1.1902
Eine israelitische Elementarschule ist seit 1867 nachweisbar; sie beschulte im Durchschnitt 30 bis 40 Schüler.
Anm.: Im Frühjahr 1933 wurde diese Schule vorübergehend geschlossen, aber bereits 1934 im Synagogengebäude wieder eröffnet, ab 1939 als Privatschule weiterbetrieben, nachdem sie in ein „Judenhaus“ in der Schwanallee verlegt worden war. Am 1.10.1940 wurde die jüdische Volksschule endgültig geschlossen; die Kinder wurden nun in Frankfurt beschult.
Der langjährige jüdische Lehrer Salomon Pfifferling wurde 1941 nach Riga deportiert, wo er Monate später umkam.
Stellenangebot der Gemeinde aus: "Der Israelit" vom 20.Nov. 1924
Der (neuzeitliche) jüdische Friedhof wurde zu Beginn des 18.Jahrhunderts angelegt; die ältesten noch vorhandenen Grabsteine datieren von 1715 und danach.
Erst unter preußischer Herrschaft wuchs die jüdische Gemeinde nennenswert an; ihre höchste Zahl erreichte sie um 1900/1910 mit mehr als 500 Angehörigen. Der Marburger Kultusgemeinde angeschlossen waren Elnhausen, Ockershausen und Wehrda.
Juden in Marburg:
--- 1744 ........................... 6 jüdische Familien,
--- 1776 ........................... 8 “ “ ,
--- 1818 ........................... 13 “ “ ,
--- 1827 ........................... 80 Juden,
--- 1835 ........................... 98 “ ,
--- um 1850 .................... ca. 85 “ ,
--- 1861 ........................... 74 “ ,
--- 1880 ........................... 295 “ (2,6% d. Bevölk.),
--- 1905 ........................... 512 “ ,
--- 1925 ........................... 354 “ (1,8% d. Bevölk.),
--- 1933 ........................... 341 “ ,
--- 1935 ........................... 193 “ ,
--- 1936 ........................... 170 “ ,
--- 1938 ........................... 149 “ ,
--- 1945 (Jan.) .................... 7 “ .
Angaben aus: Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang - Untergang - Neubeginn, Bd. 2, S. 49
und B.Händler-Lachmann/Th.Werther, Vergessene Geschäfte - verlorene Geschichte
Marburg um 1910 – Blick auf Schloss und Synagoge und Gruß-Postkarte (aus: wikipedia.org, gemeinfrei bzw. das-marburger.de)
Gegen Ende des 19.Jahrhunderts ging von Marburg eine starke antisemitische Strömung aus, an deren Spitze der Kustos in der Marburger Universitätsbibliothek, Dr. Otto Böckel, stand. Böckel, der unter dem Pseudonym „Dr. Capistrano“ seine Aufsätze verbreiten ließ, gründete u.a. die „Deutsche Reformpartei“; später war er Führer der „Deutschen Antisemiten-Partei“.
Die Juden Marburgs gehörten größtenteils dem Mittelstand an; sie waren vor allem Geschäftsleute, aber auch Rechtsanwälte oder Hochschullehrer. Die im Landkreis Marburg wohnenden Juden lebten dagegen in eher ärmlichen Verhältnissen; sie verdienten ihren Lebensunterhalt meist im Vieh- und Getreidehandel.
Einige gewerbliche Anzeigen aus Marburg aus den Jahren 1889 - 1897 - 1915 - 1922:
Vor der NS-Machtübernahme 1933 lebten in Marburg mehr als 350 Juden, 1935 weniger als 200; sie emigrierten meist in überseeische Länder oder verzogen in andere deutsche Städte. Bereits im Vorfeld des reichsweit angeordneten Boykotttages vom 1.April 1933 kam es in Marburg zu gezielten Aktionen gegen jüdische Geschäftsleute.
Aus „Oberhessische Zeitung” vom 29.3.1933:
Gegenmaßnahmen
Anläßlich der deutschfeindlichen Auslandspropaganda ist man, wie allerorts, auch in unserer Stadt zu Gegenmaßnahmen geschritten. Im Laufe des gestrigen Nachmittags durchfuhren Autos mit SS-Leuten die Straßen der Stadt und klebten an die Schaufenster der jüdischen Geschäfte Plakate, auch die Büros der jüdischen Rechtsanwälte und die Häuser der jüdischen Viehhändler und Gütermakler wurden mit solchen Plakaten versehen. Die Plakate weisen darauf hin, daß es sich hier um jüdische Unternehmen handelt, bei dem ein Deutscher nichts mehr kaufen solle. Die meisten jüdischen Geschäftsinhaber schlossen darauf ihre Läden. In den Straßen der Stadt herrschte bis in die Abendstunden starker Verkehr; zu Zwischenfällen ist es nicht gekommen. Vor den Häusern hatten SA-Posten Aufstellung genommen, die dafür Sorge trugen, daß die Plakate nicht entfernt wurden. ...
In die Boykottmaßnahmen wurden auch diejenigen „arischen“ Geschäftsleute eingeschlossen, von denen man überzeugt war, dass diese Kontakte zu Juden unterhielten. Um die jüdische Konkurrenz auszuschalten, wurde in Marburg schon Ende 1933 die „Arisierungs“-Phase eingeleitet; 1933 waren bereits elf von insgesamt 64 Geschäften betroffen, Ende 1938 war die „Arisierung“ dann vollständig abgeschlossen.
Beispiele für „Geschäftsübernahmen“ von 1933 und 1934:
aus: „Kurhessische Landeszeitung” vom 7.9.1933:
Vom jüdischen Geschäftsmann Elias Goldschmidt übernahm Ernst Weber im Frühjahr 1934 das „Frankfurter Schuhlager“ (Steinweg). Im November des gleichen Jahres schloss das Privatbankhaus von Karl Haas.
aus: "Oberhessische Zeitung" vom 3.März 1934
Im Februar 1936 vermeldete die „Oberhessische Zeitung”:
Mit der Umbenennung der ‘Judengasse’ in ‘Schloßsteig’ verschwand aus unserer Stadt ein Straßenname, der besonders von den Anwohnern der ehemaligen Judengasse als unangenehm empfunden wurde. Da heute in dieser Straße keine Juden mehr wohnen, der nationalsozialistische Staat auch zu anständig und menschlich ist, der Aufforderung Dingelstedts Folge zu leisten, der gesagt hat: ‘Geht, sperrt sie wieder in die alten Gassen, eh sie euch in die Christenviertel sperren’, war es an der Zeit, daß dieser Name der Vergangenheit angehört.
Höhepunkt antisemitischer Gewalt war auch in Marburg die „Kristallnacht“ vom November 1938. Die Synagoge in der Universitätsstraße wurde in der Nacht des 9.November 1938 von SA-Leuten in Brand gesetzt und zerstört, die stehengebliebenen Mauern gesprengt und abgetragen.
Brennende Synagoge/Brandruine Nov. 1938 (Stadtarchiv)
Die "Oberhessische Zeitung" berichtete in ihrer Ausgabe vom 11.Nov. 1938: "Als gestern in den Abendstunden die Nachricht von dem Ableben des Gesandtschaftsrats 1. Klasse vom Rath infolge des Anschlages des jüdischen Meuchelmörders Grünspan bekannt wurde, bemächtigte sich in unserer Stadt aller Volksgenossen eine gewaltige Erregung. Wo man hinhörte, war eine ungeheure Empörung über den Mord festzustellen. ... Da kann man verstehen, daß die erregten Volksgenossen ihrer Wut in irgend einer Form Ausdruck geben mußten. Die Synagoge war das Opfer. Dieser Bau, der den Mittelpunkt des jüdischen Ungeistes vorstellt, ging heute in den frühen Morgenstunden in Flammen auf. Die Feuerwehr war in eifriger Pflichterfüllung bemüht, das Feuer von den umliegenden Häusern fernzuhalten, was ihr auch vollkommen gelang. Die SA, die schnell alarmiert wurde, sorgte in Gemeinschaft mit Polizeibeamten für die Sicherheit der die Universitätsstraße benutzenden Bevölkerung durch Absperrung der Brandstätte. Auch bemühte sie sich, das Eigentum des in dem Kellergeschoß des Judentempels wohnenden Volksgenossen in der gegenüberliegenden Schule in Sicherheit zu bringen. Selbstverständlich hatte sich an der Brandstelle eine größere Menschenmasse eingefunden, die ihrer Entrüstung über den feigen jüdischen Mord und ihre Befriedigung über diese – verhältnismäßig geringfügige – Vergeltungsmaßnahme zum Ausdruck brachte, sich dabei aber vorbildlich diszipliniert verhielt. Der Bau ist vollkommen ausgebrannt, so daß nur noch die Umfassungsmauern stehen. Damit ist gleichzeitig ein Gebäude verschwunden, das infolgeseines asiatischen Stils und seiner klobigen Gestalt unser schönes Stadtbild empfindlich verschandelte."
Etwa 30 Männer wurden verhaftet und über Kassel ins KZ Buchenwald verschleppt.
Die „Abwicklung“ ("Arisierung") der noch bestehenden jüdischen Geschäfte Marburgs wurde mit der Ende November 1938 erschienenen amtlichen Bekanntmachung eingeleitet:
In der Folgezeit wurden die noch in Marburg lebenden jüdischen Bürger in sog. „Judenhäusern“ untergebracht; von dort wurden 79 Personen auf Anweisung der NS-Behörden 1941/1942 deportiert. Die letzte Deportation von Juden aus dem Marburger Raume fand am 6.September 1942 statt; am Marburger Hauptbahnhof mussten insgesamt etwa 270 Personen mosaischen Glaubens die Züge nach Riga, Lublin und Theresienstadt besteigen. Anfang 1945 sollen sich nur noch sieben „in privilegierter Mischehe“ verheiratete Juden in Marburg aufgehalten haben.
Unmittelbar nach dem Kriege befanden sich relativ viele Juden (zeitweilig bis zu 300 Personen) wieder in der Stadt; sie kamen vor allem aus den NS-Lagern der Umgebung. Die Jüdische Gemeinde zählte Anfang 1946 etwa 250 Angehörige; Gottesdienstführte sie in einem Synagogenraum in der Landgraf-Philipp-Straße durch, der auch von Angehörigen der US-Army genutzt wurde.
Synagogeneinweihung mit Rabbiner Yizchak Blumenfeld (Aufn. aus: alemannia-judaica.de)
Als praktische Vorbereitung für die Siedlungstätigkeit in Palästina wurde im nahegelegenen Schlosse Holzhausen eine Landwirtschaftsschule eröffnet. Ab 1947 wanderten zahlreiche Juden von hier aus. Ende 1949 bestand die Gemeinde Marburgs nur noch aus 58 Erwachsenen und elf Kindern/Jugendlichen.
Auf dem ca. 5.000 m² großen Areal des jüdischen Friedhofs am Kirchhainer Weg findet man heute noch mehr als 300 Grabstätten.
Alter jüdischer Friedhof (Aufn. H., 2015, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0)
Winterliche Impressionen vom jüdischen Friedhof in Marburg (Aufn. J. Hahn, 2008)
Nach dem Zustrom jüdischer Immigranten aus den GUS-Staaten wurde der Friedhof nun wieder belegt; doch aufgrund des Platzmangels gibt es inzwischen eine neue Beerdigungsstätte neben dem kommunalen Friedhof am Rotenberg.
1963 errichtete man am ehemaligen Standort der Synagoge (in der Universitätsstraße 11) einen Gedenkstein, der von der Universität gestiftet worden war; er trägt die Worte:
Zum Gedenken an die am 10.November 1938 frevlerisch zerstörte Synagoge
und an unsere ermordeten jüdischen Mitbürger.
Gedenkstätte (Aufn. H., 2016, aus: commons.wikimedia.org CC BY-SA 3.0)
1978 wurde - nach 30jähriger Unterbrechung - erstmals wieder ein jüdischer Gottesdienst in Marburg abgehalten. Ein neuer Betraum wurde aber erst elf Jahre später „Am Pilgrimstein“ eingeweiht; die geretteten Thorarollen hielten am 1.September 1989 feierlich Einzug in der neuen Synagoge. Seit den 1990er Jahren erhielt auch die jüdische Gemeinde in Marburg starken Zuwachs durch jüdische Immigranten aus der ehemaligen Sowjetunion; 2015 zählte die Kultusgemeinde ca. 330 Angehörige.
Bei Bauarbeiten wurden 1993 zufällig die Reste der 1317 erstmals erwähnten mittelalterlichen Synagoge Marburgs entdeckt. Ein gläserner Kubus schützt diese Überreste heute und macht sie gleichzeitig für den Besucher sichtbar. Der hier befindliche und 2009 benannte „Willi-Sage Platz“ erinnert an den Mitbegründer und langjährigen Vorsitzenden der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit Marburg.
Die Stadt Marburg hat den Platz der ehemaligen Synagoge in der Universitätsstraße zu einer Gedenkstätte umgestaltet: Mit der Realisierung des Projektes „Garten des Gedenkens“ wurde 2011 begonnen; am 9. November 2012 konnte die Gedenkstätte eingeweiht werden. Über den Grundmauern der freigelegten Synagoge ist als Terrassenanlage ein gemauertes Parallelogramm entstanden, in dessen Mitte eine quadratische Rasenfläche den Umriss des zentralen Versammlungsraums der 1897 fertiggestellten Synagoge nachzeichnet. Zudem ist hier ein kupfernes Modell der ehemaligen Marburger Synagoge aufgestellt.
Kupfermodell der Synagoge (Aufn. Heinrich Stürzl, 2012, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0) und virtuelle Darstellung (Abb. Inosoft, aus: hessenschau.de)
Die neue Synagoge in der Liebigstraße - im Marburger Südviertel - wurde Ende November 2005 feierlich eingeweiht.
Jüdisches Gemeindezentrum in der Liebigstraße, rechts: Synagogenraum (Aufn. Jüd. Gemeinde Marburg, um 2008)
Die alte aus Wolfhagen stammende Thorarolle, die die NS-Zeit in der Religionskundlichen Sammlung der Universität Marburg unversehrt überstand und später in den Besitz der hiesigen jüdischen Gemeinde überging, wurde jüngst durch eine neue ersetzt. Die ca. 170 Jahre alte kostbare Wolfhagener Thora wird nun als „Museumsstück“ weiter aufbewahrt.
Einbringen der neuen Thora (Aufn. Gesa Coordes, 2015, aus: juedische-allgemeine.de)
Etwa 95 sog. „Stolpersteine“ sind bisher in den Gehwegen Marburger Straßen verlegt worden (Stand 2023); sie erinnern an Opfer der NS-Herrschaft, die deportiert, vertrieben, ermordet oder in den Suizid getrieben worden sind.
Aufn. Susanne Kauz, 2014, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 4.0
verlegt in der Universitätsstraße und in der Wettergasse (Aufn. H., 2013/2016, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 4.0)
Auch in Marburg-Wehrda wurden zur Erinnerung an vertriebene, verschleppte und ermordete jüdische Wehrdaer Bürger vor deren letzten Wohnsitzen acht sog. „Stolpersteine“ verlegt, die Angehörigen der jüdischen Familien Hess (Mengelsgasse) und Buxbaum (Goßfeldener Str.) gedenken; initiiert wurde die Verlegeaktion von der Geschichtswerkstatt Marburg und dem Geschichts- und Kulturverein Wehrda.
vier "Stolpersteine" in Wehrda (Aufn. aus: das-marburger.de)
Bereits 2007 war eine Gedenktafel enthüllt worden, die dem Angedenken der ehemaligen jüdischen Bewohner gewidmet ist.
Weitere Informationen:
L. Munk, Zur Erinnerung an die Einweihung der neuen Synagoge in Marburg, Marburg 1897
Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang - Untergang - Neubeginn, Societäts-Verlag, Frankfurt/M. 1971, Bd. 2, S. 48 - 60
Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Bilder - Dokumente, Eduard Roether Verlag, Darmstadt 1973, S. 146/147
Gabriel E. Moeller, Die “Endlösung der Judenfrage” im Stadt- und Landkreis Marburg. Eine Dokumentenauswahl, Marburg 1978
Harold Hammer-Schenk, Synagogen in Deutschland. Geschichte einer Baugattung im 19. u. 20.Jahrhundert, Hans Christians Verlag, Hamburg 1981, Teil 1, S. 358 und Teil 2, Abb. 273
Günther Rehme/Konstantin Haase, “... mit Rumpf und Stumpf ausrotten ..” Zur Geschichte der Juden in Marburg und Umgebung nach 1933, in: "Marburger Stadtschriften zur Geschichte und Kultur", No. 6, Hrg. Presseamt der Stadt Marburg, 1982
John Richard Willertz, Marburg unter dem Nationalsozialismus (1933 - 1945), in: E.Dettmering/R.Grenz (Hrg.), Marburger Geschichte - Rückblick auf die Stadtgeschichte in Einzelbeiträgen, Marburg 1982
Rüdiger Mack, Juden an den hessischen Hochschulen im 18.Jahrhundert, in: "Schriften der Kommission für die Geschichte der Juden in Hessen VI", Neunhundert Jahre Geschichte der Juden in Hessen, Wiesbaden 1983, S. 163 - 301
Annie Bardon, Synagogen in Hessen um 1900, in: "Schriften der Kommission für die Geschichte der Juden in Hessen VI", Neunhundert Jahre Geschichte der Juden in Hessen, Wiesbaden 1983, S. 356 - 358
Axel Erdmann, Die Marburger Juden - Ihre Geschichte von den Anfängen bis zur Gegenwart. Dargestellt anhand der staatlichen Quellen unter besonderer Berücksichtigung des 19.Jahrhunderts, Dissertation, Marburg 1987
Wolf-Arno Kropat, Kristallnacht in Hessen - Der Judenpogrom vom November 1938. Eine Dokumentation, in: "Schriften der Kommission für die Geschichte der Juden in Hessen X", Wiesbaden 1988
Erhart Dettmering (Hrg.), Zur Geschichte der Synagoge der jüdischen Gemeinde in Marburg, in: "Marburger Schriftenreihe zur Geschichte und Kultur", No. 39/1992, Hrg. Magistrat der Stadt Marburg, Presseamt, Marburg 1992
B.Händler-Lachmann/Th.Werther, Vergessene Geschäfte - verlorene Geschichte. Jüdisches Wirtschaftsleben in Marburg und seine Vernichtung im Nationalsozialismus, Verlag Hitzeroth, Marburg 1992
B.Händler-Lachmann/U.Schütt, “ unbekannt verzogen” oder “weggemacht”. Schicksale der Juden im alten Landkreis Marburg 1933 - 1945, Verlag Hitzeroth, Marburg 1992 (Anmerkung: enthält zahlreiche Kurzbiographien jüdischer Bürger aus dem Landkreis Marburg)
Gudrun Westphal, Die jüdischen Schülerinnen der ehemaligen Höheren Töchterschule, heute Elisabethschule (1878 – 1938), in: "EXPERIMENT-Sonderheft" (Nov. 1992), Marburg 1992
Germania Judaica, Band III/2, Tübingen 1995, S. 846/847
Heimatgeschichtlicher Wegweiser zu Stätten des Widerstandes und der Verfolgung 1933 - 1945, Hessen II - Regierungsbezirke Gießen und Kassel, Hrg. Studienkreis Deutscher Widerstand, VAS-Verlag, Frankfurt/M. 1996, S. 154 f.
Ulrich Klein, Die Ausgrabung der Marburger Synagoge, in: Der Marburger Markt. 800 Jahre Geschichte über und unter dem Pflaster, "Marburger Stadtschriften zur Geschichte und Kultur", No. 59/1997, Marburg 1997, S. 125 ff.
Ole Harck, Die mittelalterliche Synagoge in Marburg: Zur Tradition und archäologischen Überlieferung des frühen Judentums in Mitteleuropa, in: "Marburger Reihe", No. 20, Marburg 2002
Ulrich Klein, Die Ausgrabung der mittelalterlichen Synagoge von Marburg/Lahn, in: E.Wamers/F.Backhaus (Hrg.), Synagogen, Mikwen, Siedlungen. Jüdisches Alltagsleben im Lichte neuer archäologischer Funde, Archäologisches Museum Frankfurt/M. 2004, S. 179 – 191
Elmar Altwasser, Die Erforschung von mittelalterlichen Synagogen in Hessen, in: "Zeitschrift für Archäologie des Mittelalters", Band 33, Köln 2005, S. 63 - 67
‘Mein Haus soll ein Bethaus für alle Völker genannt werden’. Die neue Synagoge in der Liebigstraße - Schrift zur Einweihung der neuen Synagoge in Marburg im November 2005, Hrg. Stadt Marburg, Marburg 2005
Die Fundamente der Synagoge wurden freigelegt – Archäologen graben Mikwe aus; in: „Oberhessische Presse“ vom 14.7.2008 und „Giessener Anzeiger vom 23.7.2008
Gerald L. Soliday, Die Marburger Juden in der Frühen Neuzeit (1640 – 1800): eine Fallstudie in Familien- und Haushaltsorganisation, in: "Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte", Band 58/2008, S.1 – 25
Ulrich Klein/Cornelia Süßmuth (Bearb.), Die mittelalterliche Synagoge in Marburg: Dokumentation der Ausgrabung, in: "Marburger Stadtschriften zur Geschichte und Kultur", Band 92, Marburg 2009
Annegret Wenz-Haubfleisch, Ein Freudentag für die Jüdische Gemeinde in Marburg – Festakt zur Vollendung der neuen Thora im Staatsarchiv Marburg, in: "Archivnachrichten aus Hessen", 1/11 (2011), S. 45 f.
Geschichtswerkstatt Marburg e.V. - Forschung für Regional- u. Alltagsgeschichte (Bearb.), Stolpersteinverlegungen in Marburg (online abrufbar)
Auflistung der in Marburg verlegten Stolpersteine, online abrufbar unter: wikipedia.org/wiki/Liste_der_Stolpersteine_in_Marburg
Marburg, in: alemannia-judaica.de (mit zahlreichen Dokumenten zur jüdischen Gemeindehistorie)
Johannes Linn (Red.), Stolpersteine für Wehrda, in: myheimat.de vom 5.11.2014
N.N. (Red.), Stolpersteine in Wehrda, in: „Oberhessische Presse“ vom 8.11.2014
Barbara Wagner (Red.), Stolpersteine. Steine gegen das Vergessen, online abrufbar unter: geschichtswerkstatt-marburg.de (mit detaillierten biografischen Angaben zu den betroffenen Familien)
Ersatz in der Synagoge, Kostbare Wolfhager Thora wird nicht begraben, in: hna.de vom 3.12.2015
Gesa Coordes (Red.), Interreligiöse Torafreude. Juden, Muslime und Christen waren am Schreiben der neuen Rolle beteiligt, in: „Jüdische Allgemeine“ vom 3.12.2015
Barbara Rumpf-Lehmann, Der alte jüdische Friedhof zu Marburg. Die Geschichte des Begräbnisplatzes mitsamt einer Beschreibung seiner Grabstätten (mit Fotografien von Andreas Schmidt), in: Stadtschrift No. 104, Marburg 2016
Gesa Coordes (Bearb.), Jüdisches Marburg – ein Stadtspaziergang (Flyer), Hrg Magistrat der Universitätsstadt Marburg/Fachdienst Kultur (als PDF-Datei online abrufbar)
Manfred Hitzeroth (Red.), 700 Jahre Judentum in Marburg: Erinnerung an jüdische Lebenswelten, in: „Oberhessische Presse“ vom 7.1.2017
Gesa Coordes (Red.), Marburg. Bethaus – Schule - Metzgerei, in: „Jüdische Allgemeine“ vom 27.7.2017
Michael Agricola (Red.), Marburg. Synagogen-Brand 1938 Polizei war treibende Kraft bei Aufklärung, in: "Oberhessische Presse“ vom 15.11.2018
Adonia Moscovivi (Red.), Marburg. Bauherr der Gemeinde (Amnon Orbach), in: „Jüdische Allgemeine“ vom 23.1.2020
N.N. (Red.), Jüdisches Leben in Marburg, in: mittelhessen.de vom 17.5.2022
Edith Franke/Alisha Meininghaus/Susanne Rodemeier (Bearb.), Jüdisches Leben in Marburg: Erinnern schafft Identität, in: "Veröffentlichungen der Religionskundlichen Sammlung Marburg 10", Bielefeld 2023
Inosoft AG (Pressemitteilung), Inosoft lässt die Marburger Synagoge wieder auferstehen, in: pressebox.de vom 22.9.2023
R.Dieckmann/A.Spieß/Chr. Vogel (Bearb.), Als wäre die von den Nazis zerstörte Synagoge noch da, in: “Hessenschau“ vom 7.10.2023
Jörn Schumacher (Red.), VR und Geschichte: Ein Besuch in der virtuellen Synagoge in Marburg, online abrufbar unter: mixed.de vom 18.2.2024
Norbert Hummelt (Red.), Familie Strauss in Marburg: Die Geschichte (fast) vergessener Juden, in: „Oberhessische Presse“ vom 22.3.2024
N.N. (Red.), Marburg trauert: Amnon Orbach, Begründer der neuen Jüdischen Gemeinde, ist tot, in: „Oberhessische Presse“ vom 19.8.2024