Miehlen/Westerwald (Rheinland-Pfalz)
Miehlen - heute ein Teil der Verbandsgemeinde Nastätten - ist eine Ortschaft mit derzeit knapp 2.000 Einwohnern im Rhein-Lahn-Kreis – ca. 35 Kilometer südöstlich von Koblenz gelegen (Ausschnitt aus hist. Karte, aus: wikipedia.org, gemeinfrei und Kartenskizze 'Rhein-Lahn-Kreis', aus: kvplusr.de).
In dem zum nassauischen Amt Nastätten zählenden Miehlen sind erstmals in den 1780er Jahren jüdische Bewohner urkundlich nachweisbar. Doch kann wohl davon ausgegangen werden, dass sich bereits schon früher Juden zeitweilig hier aufgehalten haben; dabei soll es sich um sehr arme Familien gehandelt haben, die oft nicht einmal ihr Schutzgeld aufbringen konnten.
Ein seit 1817 in Miehlen an der Hauptstraße existierender Betraum wurde 1872 zerstört, als ein Großbrand im Flecken wütete und etwa 60 Gebäude in Flammen aufgingen. Um einen neuen Betsaal wieder erstellen zu können, hielt die jüdische Gemeinde eine Kollekte ab und rief auch Glaubensgenossen anderer Gemeinden zu Spenden auf:
aus: Zeitschrift „Der Israelit“ vom 30.Oktober 1872
1873 konnte das neue Synagogengebäude an gleicher Stelle eingeweiht werden. Doch vermutlich schien der Spendenaufruf auf wenig Resonanz gestoßen zu sein; denn drei Gemeindeangehörige hatten den Bau aus eigenen Mitteln finanziert. Wenige Jahre später ging das Synagogengebäude in das Eigentum der Kultusgemeinde über. Die mit zwei Rundbogenfenstern versehene Fassade des Gebäudes setzte sich deutlich von den Nachbarhäusern ab. Im Gebäude befand sich auch eine Mikwe.
Synagoge in Miehlen - zweites Haus von rechts (Aufn. vermutlich um 1925, Bildarchiv Helmut Steeg/Nastätten)
Zur Erledigung religiöser Aufgaben wurde im beginnenden 19. Jahrhundert - gemeinsam mit den jüdischen Gemeinden Fachbach und Nievern - ein Lehrer angestellt; später hatte man einen gemeinsamen Lehrer mit Ruppertshofen (siehe Anzeige).
aus: Zeitschrift „Der Israelit“ vom 22.Dez. 1875
Am Hang des Ehrlichsberges befand sich die Begräbnisstätte der Miehlener Juden, die im frühen 19.Jahrhundert angelegt wurde
Ab den 1840er Jahren suchten auch die wenigen Juden aus Marienfels und aus Geisig Gottesdienste in der Synagoge in Miehlen auf. Dabei war den Geisiger Juden von den Behörden der Anschluss an die Gemeinde Singhofen auferlegt worden.
Die Miehlener Gemeinde war dem Rabbinatsbezirk Bad Ems zugehörig.
Juden in Miehlen:
--- 1820 .......................... 12 Juden,
--- 1843 .......................... 43 “ ,
--- 1872 .......................... 63 “ ,
--- 1885 .......................... 42 “ ,
--- 1895 .......................... 39 “ ,
--- 1905 .......................... 61 “ ,
--- 1910 .......................... 64 “ ,
--- 1925/33 ................... ca. 50 “ ,
--- 1939 (Jan.) ................... 8 “ ,
--- 1940 .......................... keine.
Angaben aus: Stefan Fischbach/Ingrid Westerhoff (Bearb.), “ ... und dies ist die Pforte des Himmels “, S. 272
Gegen Ende des 19./Anfang des 20. Jahrhunderts betrieben jüdische Familien Manufaktur- und Kurzwarengeschäfte, eine Metzgerei, ein Kaufhaus (Inh. Emil, danach Alfred Friedberg), eine Vieh- Getreide- u. Futtermittelhandlung (Inh. Emil Strauß), eine Sattler- u. Polsterei u.a.
Die um 1933 knapp 40 Personen zählende Judenschaft Miehlens wurde bereits in den ersten Jahren der NS-Herrschaft tätlich angegriffen; so wurden Fensterscheiben eingeschlagen und andere Sachbeschädigungen vorgenommen; 1935 wurde in die Synagoge eingebrochen und der Betraum demoliert. Im Lagebericht für die Provinz Hessen-Nassau vom September 1935 hieß es: „... Auch im Monat September wurde die Agitation gegen die Juden in umfassender Weise fortgesetzt. Hierbei kam es wiederum zu Ausschreitungen. So wurden die Synagogen in Ruppertshofen und in Miehlen erbrochen und teilweise verwüstet. Bei mehreren Juden wurden Fensterscheiben eingeworfen. Die Ermittlungen nach den Tätern blieben erfolglos.“
Höhepunkt der Gewaltmaßnahmen - organisiert durch die NSDAP-Kreisleitung St. Goarshausen - war auch in Miehlen der Pogrom im November 1938: Fanatische NS-Anhänger schlugen Türen und Fenster des Synagogengebäudes ein, verwüsteten die Inneneinrichtung und stahlen die Ritualien; anschließend setzten sie das Gebäude unter Wasser. Auch Häuser und Geschäftsräume jüdischer Bewohner wurden demoliert und teilweise geplündert. Die verängstigten Juden wurden anschließend per LKW nach Frankfurt/M. gebracht. Mitte Oktober 1939 siedelte das letzte jüdische Ehepaar ins Israelitische Altersheim nach Frankfurt/M. über; seit diesem Zeitpunkt lebten keine Juden mehr im Dorf.
Nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem/Jerusalem und des "Gedenkbuches - Opfer der Verfolgung der Juden ..." wurden 27 gebürtige bzw. länger in Miehlen ansässig gewesene Bewohner mosaischen Glaubens Opfer der Shoa (namentliche Nennung der betroffenen Personen siehe: alemannia-judaica.de/miehlen_synagoge.htm).
Das ehemalige Synagogengebäude war 1950 an eine Privatperson verkauft worden; der neue Besitzer ließ es Mitte der 1960er Jahre abreißen. Nahe dem ehemaligen Synagogenstandort informiert eine Hinweistafel:
Hier stand bis 1945 das Wohn- und Geschäftshaus der Familie Friedberg.
Jüdische Miehlener wurden Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung.
Ihre 1873 erbaute Synagoge in der Hauptstraße wurde im November 1938 verwüstet.
Der Friedhof am Ehrlichsberg erinnert heute noch an die ausgelöschte jüdische Gemeinde von Miehlen.
Das ca. 2.500 m² große Hanggelände des jüdischen Friedhofs (am Ehrlichsberg) war lange Jahre von niederer Vegetation völlig überwachsen und schien völlig in Vergessenheit geraten zu sein, ehe es in den letzten Jahren wieder ins Bewusstsein der Öffentlichkeit getreten ist. Auf dem Gelände verteilt sind etwa 40 Grabsteine auszumachen.
Friedhofsgelände in Miehlen (Aufn. J. Hahn, 2006 und P. Kaminsky, 2017, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 4.0)
Im knapp zehn Kilometer von Miehlen gelegenen Dorfe Geisig sind seit Ende des 18.Jahrhunderts vereinzelt jüdische Bewohner nachweisbar; doch lebten bis in die 1930er Jahre hier nie mehr als 30 Personen. Zur kleinen Landgemeinde zählten auch die Juden aus Gemmerich. In den 1890er Jahren ließen die jüdischen Familien ein kleines Synagogengebäude errichten, das im August 1895 durch Bezirksrabbiner Dr. Weingarten eingeweiht wurde.
Geisig, 9. August. Hier fand am 2. d. M. die Einweihung der neuerbauten Synagoge statt. Die Weiherede hielt Bezirksrabbiner Dr. Weingarten in Gegenwart vieler jüdischer und christlicher Gäste und fesselte durch seine ergreifenden Worte alle Zuhörer. Die Dörfer der Umgegend hatten sämmtlich Deputationen zum Feste geschickt, doch sie mußten vor der Synagoge Platz nehmen, weil der enge Raum sie nicht fassen konnte. Die Festversammlung, die am Abend stattfand, legte besonders Zeugniß ab von dem friedlichen harmonischen Verhältniß, in dem die gesammte andersgläubige Bürgerschaft mit den israelitischen Mitbürgern sich befindet. Die Reihe der Reden wurde von Herrn Bezirksrabbiner Dr. Weingarten durch den begeistert ausgebrachten und begeistert aufgenommenen Kaisertoast eröffnet. Lehrer Friedberg aus Koblenz toastete auf die Civilgemeinde, und der Bürgermeister des Ortes auf die jüdische Gemeinde. Die Festlichkeit am nächsten Tage wurde eingeleitet durch eine treffliche Predigt des Herrn Dr. Weingarten. Das ganze Fest nahm einen sehr schönen Verlauf.
(aus: „Allgemeine Zeitung des Judentums“ vom 16. Aug. 1895)
Verstorbene Gemeindeangehörige wurden auf dem jüdischen Friedhof in Dachsenhausen beerdigt.
Anfang der 1930er Jahre lebten in Geisig ca. sechs jüdische Familien. In den Novembertagen 1938 wurde die Synagoge niedergebrannt, die Ruine alsbald beseitigt. Bis 1938/1939 hatten alle jüdischen Einwohner ihr Heimatdorf verlassen.
Namentlich sind 19 ehemalige bzw. länger im Dorf lebende jüdische Bewohner bekannt, die Opfer der „Endlösung“ geworden sind (namentliche Nennung der betroffenen Personen siehe: alemannia-judaica.de/miehlen_synagoge.htm).
Jüngst wurde eine schlichte Info-Tafel am ehemaligen Standort des Bethauses (Lärchenweg) aufgestellt (2024).
Der seit 1915 bestehende, nur zwei Jahrzehnte genutzte jüdische Friedhof in Dachsenhausen - südlich der Ortschaft gelegen - weist heute ca. 30 Grabstätten auf; hier fanden verstorbene Juden aus Geisig und Gemmerich ihre letzte Ruhe.
Aufn. Hans G. Kuhn, 2015 (aus: alemannia-judaica.de)
Weitere Informationen:
Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang - Untergang - Neubeginn, Societäts-Verlag, Frankfurt/M. 1971, Bd. 1, S. 239 (Geisig) und Bd. 2, S. 89/90 (Miehlen)
Edmund Gross, Miehlen. Aus 700 Jahren seiner Geschichte nebst der Geschichte des Klosters und Hofgutes Aftholderbach, Miehlen 1979, S. 350 f.
Brigitte Meier-Hussing, Jüdisches Leben in Nastätten und Miehlen in der Zeit von 1933 - 1945, in: "SACHOR", 7.Jg., Heft 13, Ausg. 1/1997, S. 19 -23
tefan Fischbach/Ingrid Westerhoff (Bearb.), “ ... und dies ist die Pforte des Himmels “. Synagogen. Rheinland-Pfalz Saarland, Hrg. Landesamt für Denkmalpflege, Mainz 2005, S. 163 (Geisig) und S. 272 (Miehlen)
Miehlen, in: alemannia-judaica.de (mit Dokumenten zur jüdischen Ortshistorie)
Geisig, in: alemannia-judaica.de
Stefanie Witte (Red.), Niemals vergessen: Geisig stellt Erinnerungstafel am Standort der ehemaligen Synagoge auf, in: „BEN-Kurier“ vom 19.7.2024