Naumburg/Saale (Sachsen-Anhalt)
Naumburg (Saale) ist eine Stadt mit derzeit ca. 32.000 Einwohnern im Süden von Sachsen-Anhalt und Verwaltungssitz des Burgenlandkreises - etwa 40 Kilometer südlich von Halle/Saale bzw. südwestlich von Leipzig gelegen (Ausschnitt aus hist. Karte von 1905, aus: wikipedia.org Bild-PD-alt und Kartenskizze 'Burgenlandkreis', Hagar 2009, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 3.0).
Wann sich die ersten Juden in Naumburg ansiedelten, ist unbekannt. Erstmals werden Juden in Naumburg gegen Mitte des 14.Jahrhunderts in einer Ratsrechnung erwähnt. Trotz der Verfolgung in den Pestjahren lebten bereits 1354 wieder Juden in der Stadt. Sie wohnten in der „Jüdengasse“ östlich des Marktes nahe der Stadtkirche St. Wenzel, wo sich auch die Synagoge und eine Mikwe befanden. Die Häuser, in denen Naumburgs Juden lebten, waren Eigentum der Stadt und wurden von ihr in Ordnung gehalten. Juden durften hier keinen Grundbesitz erwerben. Nach einem Großbrand in Naumburg 1384 ließ die Stadt die Häuser der Judengasse neu errichten.
Blick in Richtung Judengasse (hist. Ansicht, um 1900, aus: alemannia-judaica.de)
Gegen Ende des Mittelalters stand die Naumburger Judengemeinde in voller Blüte; etwa 100 Juden sollen um 1410 in der Saalestadt gelebt haben. 1410 schlossen der Rat der Stadt und die Juden Naumburgs einen Vertrag ab, in dem 22 Schutzjuden und ihren Familien das Wohnrecht zugesichert wurde; dieser kollektive Schutzbrief verbot aber auch gleichzeitig den Zuzug weiterer Familien nach Naumburg. Trotz dieser vertraglichen Regelung wurden wenig später die Juden inhaftiert und ihnen alle ihre Habe genommen. Ab Mitte des 15.Jahrhunderts mussten sich die Naumburger Juden mit dem "Judenhut" kennzeichnen, nachdem christliche Prediger eine antijüdische Stimmung erzeugt hatten.
Juden mit typischer Kopfbedeckung (am Fries des Naumburger Doms) und Juden als Zuschauer bei der Geiselung Christi (Aufn. W.Sauber, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0)
Trotz dieser Diskriminierung hielt der Stadtrat an „seinen“ Juden fest und sanierte die Gebäude der „Jüdengasse“ mit erheblichem Aufwand. Doch im Mai 1494 wurden die in Naumburg ansässigen Juden endgültig vertrieben; initiiert wurde deren „Aussiedlung auf ewige Zeiten” vom Landesherrn, dem Kurfürsten Friedrich d. Weisen, der diese Maßnahme in allen sächsischen Städten durchführen ließ. Auch die hiesige Synagoge wurde abgebrochen, die Steine verkauft. 1499 wurde dem Magistrat der Stadt Naumburg vertraglich zugesichert, dass in Zukunft keine Juden mehr in der Stadt leben dürfen. Nur zu den Naumburger Messen war es fortan jüdischen Händlern noch erlaubt, für kurze Zeit in der Stadt Herberge zu beziehen und auf dem Markt zu handeln (an dieser judenfeindlichen Haltung hielt der Naumburger Rat über mehrere Jahrhunderte fest!).
Stadtbild von Naumburg um 1670 - Stich Merian (Abb. aus: wikipedia.org, gemeinfrei)
Erst Mitte des 19.Jahrhunderts lässt sich wieder eine dauerhafte Ansiedlung allerdings nur weniger jüdischer Familien in Naumburg wieder nachweisen.
Ihre Toten begruben die Naumburger Juden auf dem bereits 1794 (?) angelegten Bestattungsgelände in der Halleschen Straße, ab den 1880er Jahren dann auf dem jüdischen Friedhof im nahen Weißenfels. Angeblich sollen bis in die erste Hälfte des 19.Jahrhunderts auch in Leipzig verstorbene Juden auf dem jüdischen Friedhof in Naumburg beerdigt worden sein. Der alte Naumburger Friedhof war in den 1880er Jahren eingeebnet und das Gelände völlig neu überbaut worden.
Juden in Naumburg/Saale:
--- 1410 ......................... ca. 100 Juden,
--- um 1440 ...................... ca. 25 “ ,
--- 1861 ............................. 9 “ ,
--- 1910 ............................. 42 “ ,
--- 1925 ............................. 39 “ ,
--- 1933 ......................... ca. 35 “ ,
--- 1939 ............................. 8 “ ,
--- 1944 ............................. ein Jude.
Angaben aus: Helmut Eschwege, Geschichte der Juden im Territorium der ehemaligen DDR, Band I, S. 409 f.
Als 1815 das Stift Naumburg an Preußen fiel, wurde wenige Jahre später die Naumburger Messe ausgesetzt; dies bedeutete gleichzeitig auch ein Ausbleiben jüdischer Kaufleute. Der Magistrat der Stadt Naumburg lehnte weiterhin die Ansiedlung von Juden in der Stadt ab und berief sich dabei auf den „Judenbrief“ von 1494.
Blick auf Naumburg/Saale, um 1845 (Abb. aus: commons.wikimedia.org, gemeinfrei)
Erst um 1860 gab es wieder vereinzelt Ansiedlungen von Juden in der Saalestadt, zumeist waren es Kaufleute. Das erste Kaufkaus in Naumburg gründete im Jahre 1886 der Kaufmann Max Cohn*. *Nach dem Tod seiner Ehefrau (1917) rief der sozial engagierte Cohn die "Luise-Cohn-Stiftung" ins Leben, die hilfebedürftige Bürger unterstützte.
Eine Kultusgemeinde konnte sich wegen der geringen Zahl und der Fluktuation der jüdischen Familien nicht bilden. Auch der wirtschaftliche Einfluss der Familien in der Stadt war relativ gering.
Im Jahre der NS-Machtübernahme lebten in der Naumburg ca. 35 Bürger jüdischen Glaubens.
Am Abend des 1.April 1933 wurden die Bürger Naumburgs zu einer „Demonstration gegen das Judentum“ aufgerufen.
Aufruf zur Kundgebung am 1.April 1933
Das „Naumburger Tageblatt“ veröffentlicht am 3. April 1933 eine Liste mit zwanzig jüdischen Geschäften und Rechtsanwälten mit dem Aufruf, diese zu boykottieren. Der „Kampfbund für den gewerbliche Mittelstand“ organisierte die Boykottmaßnahmen; zudem griff dieser aktiv in die Auftragsvergabe der Kommunalverwaltung an Firmen und Geschäfte ein und übte zudem auch massiven Einfluss auf das Kaufverhalten der Naumburger Bürger. Von den bestehenden ca. 15 jüdischen Geschäften sind u.a. zu nennen: Kaufhaus Max Cohn/Inh. Jonas (Herrenstraße), Kaufhaus Max Ahlfeld (Große Salzstraße), Konfektionsgeschäft Hardt (Markt), Textilgeschäft/Kurzwaren Josef Gross (Salzstraße), Haus der Damenhüte (Inh. William Wolff, Lindenring), Darmgroßhandlung & Fleischereiartikel - Inh. Friedmann (Am Georgentor) und die Viehhandlung Gebr. Mannheim (Roßbacher Str.). Im „Interesse der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ruhe und Ordnung“ wurden dann alle jüdischen Händler vom im gleichen Monat stattfindenden „Topfmarkt“ ausgeschlossen bzw. wurden gezwungen, umgehend den Markt zu verlassen.
Noch während der ersten fünf Jahre der NS-Zeit verließen die meisten jüdischen Familien die Stadt; sie emigrierten oder tauchten in der Anonymität deutscher Großstädte unter.
1937/38 wurden die Geschäfte jüdischer Besitzer ‚arisiert‘.
Beispiel für die "Arisierung" in Naumburg:
Geschäftsanzeigen, links: um 1925 - rechts: im Frühjahr 1938 durch den neuen Besitzer
In der Pogromnacht vom November 1938 wurden die wenigen, noch bestehenden jüdischen Geschäfte Naumburgs geplündert und zerstört. Einen Tag später erschien in der „Mitteldeutschen Nationalzeitung“ über die Ereignisse in Naumburg der folgende Bericht:
„ In Naumburg kam es gestern in den späten Abendstunden zu einer Ansammlung vor einem jüdischen Geschäft in der Salzstraße. Da die Tür des jüdischen Geschäfts geschlossen blieb, drang man in die Räume ein und warf die Waren durcheinander. Das Schaufenster wurde ausgeräumt und mit Aufschriften "Ab nach Palästina" versehen. Diesen wohlgemeinten Rat gaben die sich rasch bildenden Sprechchöre dem Inhaber des Geschäftes, der allerdings unsichtbar blieb. Dann zogen die Teilnehmer der Kundgebung zum Markt … Der Kreisleiter und Oberbürgermeister Parteigenosse Uebelhoer trat aus dem Rathaus und richtete einige Worte an die Volksmenge. Er könne verstehen, dass das deutsche Volk über den Mord an dem deutschen Gesandtschaftsrat von Rath in der deutschen Botschaft in Paris durch den Judenlümmel Grünspan empört sei. Dem Weltjudentum passe es nicht, dass wir den zersetzenden und schädlichen Einfluss der Juden bei uns ausgeschaltet, die Volksgemeinschaft der Deutschen aufgerichtet hätten und dieses Reich im Frieden aufbauten.“
Die sehr wenigen bis 1942 in Naumburg verbliebenen, meist älteren Juden mussten ins jüdische Altersheim nach Halle/Saale umziehen; von dort aus wurden sie deportiert.
Mehr als 20 gebürtige bzw. längere Zeit in der Stadt ansässig gewesene jüdische Bewohner sollen Opfer der „Endlösung“ geworden sein (namentliche Nennung der Opfer siehe: alemannia-judaica.de/naumburg_saale_friedhof.htm) .
Nach Kriegsende hat es keine jüdischen Bewohner mehr in Naumburg gegeben.
Seit 1999 erinnert eine Tafel am Eingang zur Jüdengasse am Topfmarkt an die aus Naumburg stammenden Juden, die während der NS-Zeit gewaltsam ums Leben kamen.
Fünf Jahre zuvor hatte der Bildhauer Peter Fiedler ein kleines Relief geschaffen, das an die Vertreibung der Juden aus Naumburg erinnern soll.
Gedenkrelief zur jüdischen Verfolgungsgeschichte - vom Mittelalter bis in die NS-Zeit (Aufn. J. Hahn, 2013)
Von dem alten jüdischen Friedhof, der in den 1880er Jahren eingeebnet und danach völlig überbaut wurde, zeugen heute nur noch wenige Steine des einstigen Portals, die am Domfriedhof angebracht sind und die Worte tragen: „Tod ist nicht Tod, ist nur Veredlung sterblicher Natur.”
Mit mehr als 20 sog. „Stolpersteinen“ (Stand 2024) wird an ihren ehemaligen Wohnsitzen an Opfer der NS-Gewaltherrschaft in Naumburger Straßen erinnert.
Stolpersteine verlegt in der Salzstraße, Herrenstraße, Kösener Straße und Parkstraße (Abb. Gmbo, 2018, aus: wikipedia.org, CCO)
in der Franz-Ludwig-Rasch-Straße (Aufn. A. Mauriszat, 2021
Weitere Informationen:
Karl von Heister, Die Juden zu Naumburg an der Saale, in: "Anzeiger für Kunde der deutschen Vorzeit - Organ des Germanischen Museums", NF 13/1866, Sp 87 ff.
Germania Judaica, Band II/2, Tübingen 1968, S. 570/571 und Band III/2, Tübingen 1995, S. 928 – 934
Dorothea Quien, Zur Geschichte der Juden in Naumburg während des Mittelalters 1302 - 1426, Naumburg 1984 (unveröffentlches Manuskript)
Helmut Eschwege, Geschichte der Juden im Territorium der ehemaligen DDR, Dresden 1990, Band I, S. 409 f.
Zeugnisse jüdischer Kultur - Erinnerungsstätten in Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Berlin, Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thüringen, Tourist Verlag GmbH, Berlin 1992, S. 201
M.Brocke/E.Ruthenberg/K.U.Schulenburg, Stein und Name. Die jüdischen Friedhöfe in Ostdeutschland (Neue Bundesländer/DDR und Berlin), in: "Veröffentlichungen aus dem Institut Kirche und Judentum", Hrg. Peter v.d.Osten-Sacken, Band 22, Berlin 1994, S. 515
Martin Onnasch, Die Ausweisung der Juden aus Naumburg vor 500 Jahren, in: "Beiträge zur Geschichte jüdischen Lebens in Thüringen", Heft 29, Jena 1996 (Vortrag von 1994)
Martin Onnasch, Verfolgungen von Juden in Naumburg 1933 - 1945. Eine Liste der von den “Rassegesetzen” betroffenen Bürger, in: "Saale-Unstrut-Jahrbuch - Jahrbuch für Kulturgeschichte und Naturkunde der Saale-Unstrut Region", 1/1996
Geschichte jüdischer Gemeinden in Sachsen-Anhalt - Versuch einer Erinnerung, Hrg. Landesverband Jüdischer Gemeinden Sachsen-Anhalt, Oemler-Verlag, Wernigerode 1997, S. 201 - 204
Martin Onnasch, Naumburg, in: Jutta Dick/Marina Sassenberg (Hrg.), Wegweiser durch das jüdische Sachsen-Anhalt, Verlag für Berlin-Brandenburg, Potsdam 1998, S. 142 ff.
Martin Onnasch, Verfolgt - vertrieben - umgebracht. Naumburger Juden 1933 - 1945, in: "Saale-Unstrut-Jahrbuch - Jahrbuch für Kulturgeschichte und Naturkunde der Saale-Unstrut Region", 4/1999, S. 91 - 100
Auflistung der in Naumburg während der Jahre 1933 – 1945 wohnhaft gewesenen Juden und Enteignung ("Arisierung") jüdischer Geschäfte in Naumburg, online abrufbar unter: naumburg-geschichte.de/geschichte/juden.htm#04
Detlef Belau, Naumburg an der Saale 1919 bis 1945. Notizen zur Stadtgeschichte, 2010, unter Rubrik: Judenverfolgung und -vernichtung, online abrufbar unter: naumburg-geschichte.de (Anm.: sehr breit gefächerte informative Präsentation)
Naumburg/Saale, in: alemannia-judaica.de (vor allem Verweise auf die spätmittelalterliche jüdische Geschichte der Stadt)
Albrecht Günther (Red.), Stolpersteine als Mahnmale, in: "Naumburger Tageblatt" vom 5.8.2009
Auflistung der in Naumburg/Saale verlegten Stolpersteine, online abrufbar unter: wikipedia.org/wiki/Liste_der_Stolpersteine_in_Naumburg_(Saale)