Neidenburg/Masuren (Ostpreußen)

 Das masurische Neidenburg liegt heute in Polen und heißt Nidzica (mit derzeit ca. 14.000 Einw). Im Schutze einer erstmals 1359 erwähnten Burg hatte der Deutsche Orden 1381 die Stadt Neidenburg gegründet, die im Laufe ihrer Geschichte von vielen Kriegen und Katastrophen heimgesucht wurde (Ausschnitt aus hist. Landkarte, aus: wikipedia.org, gemeinfrei und Kartenskizze 'Polen' mit Nidzica rot markiert, H. 2006, aus: commons.wikimedia.org CC BY-SA 3.0).

 

In den Jahrzehnten um 1860/1880 erreichte die Zahl der Angehörigen der jüdischen Gemeinde von Neidenburg ihren numerischen Höchststand.

Über erste Ansiedlungen von Juden in Neidenburg liegen keine sicheren Angaben vor; nachweislich der erste mit einem Schutzbrief ausgestattete Jude hielt sich in der zweiten Hälfte des 18.Jahrhunderts in Neidenburg auf. Doch bereits seit dem 16.Jahrhundert sollen jüdische Händler hier ihre Waren auf Jahrmärkten angeboten haben.

Eine in den 1790er Jahren eingerichtete Synagoge wurde vermutlich 1807 zerstört. Im Laufe des 19.Jahrhunderts vergrößerte sich die jüdische Kultusgemeinde bis auf etwa 250 Personen. Zu ihrer Blütezeit errichtete die Gemeinde eine neue Synagoge, die 1884 eingeweiht wurde; ein neues Begräbnisareal war bereits Jahrzehnte zuvor angelegt worden.

 Synagoge hinten links im Bild (hist. Postkarte)

Juden in Neidenburg:

--- 1812 .........................   10 jüdische Familien,

--- 1846 .........................  139 Juden (ca. 5% d. Bevölk.),

--- 1858 .........................  179   “  ,

--- 1871 .........................  241   “   (ca. 6% d. Bevölk.),

--- 1885 ........................   179   “   (ca. 4% d. Bevölk.),

--- 1895 ........................   170   “  ,

--- 1905 .........................  132   “  ,

--- 1925 ........................    92   “  ,

--- 1933 .........................  127   “  ,*      * im Kreis Neidenburg

--- 1937 .........................   56   “  ,

--- 1939 (Mai) ...................   23   “  .

Angaben aus: The Encyclopedia of Jewish Life before and during the Holocaust (Vol. 2), S. 880  und "Nidzica", in: sztetl.org.pl

 

Plik:Neidenburg, Ostpreußen - Ordensschloss und Trümmer (Zeno  Ansichtskarten).jpg – Wikipedia, wolna encyklopedia Neidenburg nach der Zerstörung 1914, Gemälde (aus: wikipedia.org, CCO)

Die schlechte wirtschaftliche Situation der hiesigen Bevölkerung – sie wurde weitgehend den Juden zugeschrieben - führte in Neidenburg bereits Mitte der 1920er Jahre zu antisemitischen Ausschreitungen (Plünderungen von Läden), die sich nach der NS-Machtünernahme noch steigerten.

In Neidenburg, das über eine relativ große NSDAP-Anhängerschaft verfügte, wurden die angeordneten Boykottmaßnahmen gegen jüdische Geschäfte/Unternehmen derart ausgedehnt, dass bereits 1933/1934 ca. 20 jüdische Geschäftsleute ihre Unternehmen/Läden aufgeben mussten.

                        NS-Plakat von 1933

Während des Novemberpogroms von 1938 - inzwischen hatten die allermeisten jüdischen Bewohner die Stadt verlassen - wurde die Synagoge von SA-Angehörigen in Brand gesetzt. Bei den Ausschreitungen kamen auch zwei jüdische Bürger ums Leben, weitere wurden verletzt. (Anm.: 1962 wurden die Haupttäter zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt, ein weiterer, vormals in der DDR lebender Mittäter erhielt seinen Prozess 1992.)

In der ausgebrannten Synagogenruine richtete die Kommune das „Grenzlandmuseum“ ein. 

Bei Kriegsbeginn hielten sich nur ca. 20 Juden in der Neidenburger Region auf; über ihr weiteres Schicksal ist kaum etwas bekannt.

Nach (unbestätigten) Angaben sollen mindestens 83 ehemalige jüdische Bewohner aus Neidenburg der Shoa zum Opfer gefallen sein.

 

Von den beiden jüdischen Grabstätten Neidenburgs sind heute nur noch spärliche Relikte vorhanden.

File:PL Nowy cmentarz żydowski w Nidzicy 01.JPG

Relikte der alten und jüngeren jüdischen Begräbnisstätte (Aufn. W., 2014, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0)

  Aus Neidenburg stammte der 1823 geborene „Eisenbahnkönig“ Baruch (Bethel) Hirsch (Henry) Strausberg (Strousberg); er war der Sohn einer dort bereits seit zwei Generationen ansässigen Kaufmannsfamilie und zählte später zu den schillerndsten Wirtschaftsmagnaten seiner Zeit. Nach einem jahrzehntelangen Aufenthalt in England – hier trat er der anglikanischen Kirche bei - kehrte er nach Berlin zurück und war zunächst als Vertreter englischer Firmen, dann als selbstständiger Unternehmer im Eisenbahnbau tätig. Durch Spekulationsgewinne zu märchenhaften Reichtum gelangt – so besaß er allein 45.000 ha Gutsland -, engagierte er sich in industriellen Großprojekten aller Art in Europa. Über 1.700 Bahnkilometer ließ er allein in Preußen bauen, darunter auch die „Ostpreußische Südbahn“, die Masuren ans Eisenbahnnetz anschloss. Der Zusammenbruch seiner Unternehmen in den 1870er Jahren ließen ihn völlig verarmen. Strausberg verstarb völlig mittellos 1884 in Berlin-Schöneberg.

 

 

 

Im nahen Soldau (poln. Dzialdowo, derzeit ca. 21.000 Einw.) existierte nach 1800/1810 eine kleine jüdische Gemeinschaft, die dann nach Gründung einer Religionsgemeinde (1847) in der Folgezeit mehr als 100 Angehörige, in den 1880er Jahren immerhin fast 200 Personen umfasste. In den Jahrhunderten zuvor war jegliche jüdische Ansässigkeit untersagt gewesen; urkundlich belegt ist aber kurzzeitige Anwesenheit von Händlern, die gegen Entrichtung eines Leibzolls den Ort betreten durften.

Wurden zunächst ein privater Betraum bzw.eine Kapelle im Schloss für gottesdienstliche Zusammenkünfte genutzt, wurde Mitte der 1870er Jahre ein relativ großes Synagogengebäude errichtet.

Aus der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts stammte der hiesige jüdische Friedhof.

Juden in Soldau:

--- 1847 ........................  50 Juden (ca. 3% d. Bevölk.),

--- 1881 ........................ 109   “   (ca. 4% d. Bevölk.),

--- 1885 ........................ 176   “  ,

--- 1895 ......................... 154   “  ,

--- 1937 ........................  19   “  .

Angaben aus: Dzialdowo, in: sztetl.org.pl

 

Marktplatz in Soldau, um 1905 (Abb. aus: commons.wikimedia.org, CCO)

In der lokalen Wirtschaft spielten die jüdischen Familien eine wichtige Rolle; Angehörige der jüdischen Gemeinde zählten zu den reichsten Einwohnern des Ortes; auch im kommunalen Leben hatten sie als Stadtverordnete Einfluss.

Auf Grund der nach dem Ersten Weltkrieg entstandenen neuen politischen Situation – Soldau gehörte nun zum neugegründeten polnischen Staate – verließen die meisten Juden die Stadt in Richtung Deutschland.

1936/1938 lebten nur noch ca. 15 bis 20 jüdische Einwohner in Soldau.

Das in den 1870er Jahren errichtete Synagogengebäude hat die NS-Zeit baulich überstanden und diente jahrzehntelang als Kino; heute ist dort ein Textilhandel untergebracht.

Ehem. Synagogengebäude (Aufn. P. Marynowski, 2012, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0)

Vom zerstörten Friedhof sind nur noch Betonfundamente mehrerer verwüsteter Gräber sichtbar. Das eingezäunte Gelände markiert eine Tafel mit der Inschrift „Cmentarz Zydowski“ („Jüdischer Friedhof“).

Zu Beginn des Zweiten Weltkrieges gab es in Soldau/Dzialdowo ein sog. „Durchgangslager“ (Straflager), in dem u.a. Kriegsgefangene, Angehörige der polnischen Intelligenz, katholische Priester und politische Gefangene inhaftiert waren und dort misshandelt und ermordet wurden; unter den Gefangenen waren auch Juden, die aus verschiedenen polnischen Städten hierher verschleppt worden waren.

 

1939/1940 bestand in Soldau zudem eine von der SS geführte Haftanstalt, in der die polnische Oberschicht gefangen gehalten und auch ermordet wurde. Danach diente das Lager als Mordstätte im Rahmen der „Euthanasie“; an die mehr als 13.000 Opfer erinnern heute mehrere Gedenkzeichen. - Ab Mai 1940 wurde das Lager in ein Arbeitserziehungslager umfunktioniert, das fortan alle ostpreußischen Staatspolizeidienststellen bis Januar 1945 nutzten. Im August 1941 brach im Lager eine Fleckfieberepidemie aus, „zu deren Bekämpfung etwa 600 erkrankte Häftlinge exekutiert werden mussten“, wie einem Untersuchungsbericht des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD vom 18. Februar 1943 zu entnehmen ist. In den umliegenden Wäldern wurden die Leichen in Massengräbern verscharrt.

 

 

 

Weitere Informationen:

Ronny Kabus, Juden in Ostpreußen, Husum 1998

The Encyclopedia of Jewish Life before and during the Holocaust (Vol. 2), New York University Press, Washington Square, New York 2001, S. 880

Franz Salewsky/Wolfgang Gehrke (Bearb.), Neidenburg – Meine Heimatstadt, online abrufbar unter: vomhaff.de (2007)

Kreisgemeinschaft Neidenburg e.V., Zur Geschichte des Kreises Neidenburg, online abrufbar unter: neidenburg.de/kreis-neidenburg/geschichte/  (betr. allgemeine historische Entwicklung)

Nidzica, in: sztetl.org.pl

Dzialdowo, in: sztetl.org.pl

Sławomir Topolewski (Bearb.), Nidzica, in: kirkuty.xip.pl

K. Bielawski (Bearb.), Dzialdowo, in: kirkuty.xip.pl

K. Bielawski. (Bearb.), Friedhof Działdowo – Soldau, Hrg. Jews in East Prussia – History and Culture Society, online abrufbar unter: jewsineastprussia.de/de/cemetery-dzialdowo-soldau/

N.N. (Red.), Friedhof Nidzica - Neidenburg, online abrufbar unter: jewsineastprussia.de/de/cemetery-nidzica-neidenburg/

Justyna Michniuk (Red.), "Diese Welt gibt es nicht mehr. Diese Welt wurde mit den Wurzeln herausgerissen" - Jüdische Spuren in Nidnica (Neidenburg), in: haGalil.com vom 29.12.2020

Justyna Michniuk (Red.), „Tego świata już nie ma. Ten świat został wyrwany z korzeniami”. Ślady żydowskie w Nidzicy, in: nigdywiecej.org, No. 2/2021

Justyna Michniuk (Red.), More traces of Jewish Life remain in Nidzica, Poland, in: Theja.ca vom 3.6.2021