Neheim-Hüsten (Nordrhein-Westfalen)
Neheim und Hüsten sind heute zwei Stadtteile von Arnsberg im Hochsauerlandkreis - ca. 20 Kilometer südwestlich von Soest gelegen; mit derzeit ca. 34.000 Einwohnern stellen diese knapp die Hälfte der Gesamtbevölkerung von Arnsberg (Ausschnitt aus hist. Karte von 1886, aus: wikipedia.org CCO und Kartenskizze 'Hochsauerlandkreis', TUBS 2008, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0).
Älteste urkundliche Belege für Ansiedlungen von Juden im Dorfe Neheim stammen aus der Zeit kurz nach dem 30jährigen Kriege; sie hatten sich hier und im nahen Hüsten als „Schutzjuden“ des Erzbischofs von Köln niedergelassen, da ihnen die nahe Stadt Arnsberg keine Aufenthaltsrechte gestattete. Allerdings könnten bereits in den Jahrzehnten zuvor Juden hier gelebt haben. Als einzige Stadt im kurkölnischen Sauerland hatte die Stadt Arnsberg 1671 das Privileg erhalten, „für ewige Zeiten“ keine Juden mehr in ihren Mauern beherbergen zu müssen. Erst mit der Aufhebung des Arnsberger Privilegs 1802 und dem Beginn der Emanzipation wanderten zahlreiche jüdische Familien wieder ins nahe Arnsberg ab. Bis 1832 mussten die Juden von Neheim Schutzgelder entrichten. Ihren Lebensunterhalt bestritten sie zu Beginn des 19.Jahrhunderts immer noch als ambulante Klein- und Viehhändler; erst im Laufe der Zeit eröffneten sie feste Geschäfte. Mit dieser wirtschaftlichen Entwicklung einher ging ihre zunehmende Akzeptanz bei der christlichen Bevölkerung.
Mehrere Versuche, an Stelle ihres Betraumes in einem Privathause eine Synagoge zu errichten, scheiterten zunächst; 1831 erwarben sie einen Betraum in der Mendener Straße, in dem auch die jüdischen Kinder unterrichtet wurden.
Aus dem Jahre 1831 stammte die folgende Synagogen-Ordnung Neheims:
1. Soll jeder mit gehörigem Anstand in die Synagoge hereintreten und herausgehen.
2. Soll niemand während der Vorsänger vorsingt, mitsingen das dieses mitsingen gewöhnlich Spottweise geschieht und hierdurch die Andacht gestört wird.
3. Darf niemand während dem Gottesdienste unter keinem Vorwande sich Plaudereien erlauben.
4. Darf niemand währenddem aus der hl. Thora vorgelesen wird und dieselbe offen liegt, die Synagoge verlassen.
5. Darf niemand während der Vorsänger aus der hl. Thora vorliest hörbar mitlesen.
6. Soll das Hin- und Herlaufen in der Synagoge hiermit untersagt sein ebenso auch alle unanständigen Bewegungen.
7. Alles Lachen oder Spotten über diejenigen welche manchmal zu spät in die Synagoge kommen ist ebenfalls untersagt. ...
11. Haben die Älteren dafür zu sorgen, daß ihre kleinen Kinder die Synagogenordnung genau beobachten im entgegengesetzten Falle wird den Älteren die Strafe treffen.
12. Falls sich jemand erlauben sollte diese Gesetze mehrmalen vorsätzlicher Weise zu übertreten so soll er einer höheren Behörde angezeigt werden. Dem Herren Vorsteher Reifenberg wird es zur Pflicht gemacht jede Übertretung dieser Anordnung zu rügen.
Neheim den 20 Mai 1831 Der königl. Bürgermeister Rochol
Erst Jahrzehnte später konnte der lange geplante Synagogenneubau realisiert werden; der Bau an der Mendener Straße wurde im Oktober 1876 eingeweiht; das Gebäude war teilweise durch eine überregionale Kollekte bzw. Lotterie finanziert worden. Hauptinitiator des Synagogenbaus war der Fabrikant Noe (Noah) Wolff (1809-1907), langjähriger Vorsteher der Gemeinde, gewesen.
Synagoge von Neheim (hist. Aufn., um 1920) Turm der Synagoge in Neheim (Abb. aus: neheims-netz.de)
Mitte der 1850er Jahre wurde Neheim eine selbstständige Kultusgemeinde im Rahmen des Synagogenbezirks Arnsberg.
Die 1903 errichtete kleine Synagoge der israelitischen Gemeinde Hüsten befand sich auf einem Hinterhofgelände; in den Jahrzehnten zuvor diente ein winziger Anbau an einem Privathaus als Versammlungsort.
Synagoge in Hüsten (Zeichnung, Quelle: ?)
Über die Gestaltung der Synagoge gibt ein Begleitschreiben zum Bauantrag von Ende März 1903 Auskunft: „ ... Die Synagoge der israelitischen Gemeinde Hüsten ist direkt hinter dem alten Wohnhaus des Herrn L. Jordan untergebracht. Da dieselbe jetzt mit abgebrochen werden soll, so muß H. Jordan der Gemeinde eine neue Synagoge in seinem Garten errichten. Dieselbe ist ganz einfach gehalten, jedoch für die kleine Gemeinde genügend groß bemessen. Die Wände sind aus Ziegelsteinen in Kalkmörtel gedacht und erhalten ausreichend große Fenster. Die Decke ist eine Holzbalkendecke ... Der Fußboden, welcher als Holzfußboden auf eichenen Balken gedacht ist, liegt ca. 60 cm über der Erde, um ein Verfaulen desselben zu vermeiden. Die Empore besteht aus Holzbalken mit tannenem Fußboden. Das Dach wird mit schwarzen Falzziegeln eingedeckt.“
Die seit Mitte des 17.Jahrhunderts existierende kleine jüdische Gemeinschaft Hüstens erreichte mit knapp 90 Personen ihren Höchststand in den 1920er Jahren.
Sowohl die Neheimer als auch die Hüstener Juden verfügten jeweils über einen eigenen Friedhof; war der Begräbnisplatz in Hüsten vermutlich bereits im 18.Jahrhundert geschaffen worden, so datiert die Anlage des Neheimer jüdischen Friedhofs in die Mitte des 19.Jahrhunderts.
Juden in Neheim: in Hüsten:
--- 1675 .................. 3 jüd. Familien, .................. 2 Familien,
--- 1802 ................. 7 “ “ , um 1805 ................. 37 Juden,
--- 1829 .................. 39 Juden, ................. 37 “ ,
--- 1846 ................. 62 “ ,
--- 1858 ................. 70 “ , ................. 8 Familien,
--- 1888 ................. 90 “ ,
--- 1905 ................. 30 Familien, ................. 20 Familien,
--- 1910 ................. 103 Juden,
--- 1925 ................. 62 “ , ................. 87 Juden,
--- 1932/33 .............. 62 “ , ................. 50 “ ,
--- 1942 (Dez.) .......... keine. ................. keine.
Angaben aus: Werner Saure, Juden in Neheim und Hüsten, S. 170
und Michael Brocke (Hrg.), Feuer an dein Heiligtum gelegt - Zerstörte Synagogen 1938, S. 641
Das einvernehmliche Zusammenleben der Juden Neheims und Hüstens mit der christlichen Bevölkerungsmehrheit fand mit Beginn der NS-Zeit schnell ein Ende. Mit dem Boykott jüdischer Geschäfte und einer Diffamierungskampagne der einheimischen SA und SS gegen jüdische Familien begann die Ausgrenzung.
Während des Novemberpogroms von 1938 wurde die Inneneinrichtung der Neheimer Synagoge samt der Kultgegenstände herausgeschleppt und geschändet; die Thorarollen und die Kultgewänder sollen - zum Gespött der Anwesenden - auf einem Gitterzaun aufgespießt worden sein. Das brennbare Mobiliar wurde vor dem Ort verbrannt. Zahlreiche Wohnungen und das einzige jüdische Geschäft am Ort wurden von SA-Leuten stark demoliert, Männer festgenommen. Die letzten hier lebenden Juden wurden im Herbst 1941 zwangsweise in die beiden „Judenbaracken“ Im Ohl eingewiesen und zur Zwangsarbeit verpflichtet; von hier aus wurden sie Ende Febr. 1943 - über die Zwischenstation Dortmund - „in den Osten“ (nach Auschwitz) deportiert.
Nach Unterlagen des Einwohnermeldeamtes sollen in den „Judenbaracken“ sieben Familien untergebracht gewesen sein, die dann „unbekannt verzogen“ sind. Wenige Wochen später wurden in den beiden Holzbaracken Menschen untergebracht, die nach der „Möhne-Katastrophe“ (Mai 1943) obdachlos geworden waren. Mitte der 1950er Jahren wurden die Baracken abgerissen.
Das ehemalige Synagogengebäude Neheims an der Mendener Straße wurde in den Nachkriegsjahrzehnten als Lagerschuppen benutzt. Ein geplanter Abbruch des inzwischen maroden Gebäudes kam wegen dessen Einstufung als Baudenkmal (1982) nicht mehr in Frage; vielmehr erfolgte alsbald eine umfassende vorbildliche Restaurierung durch private Eigentümer. Das einstige Synagogengebäude ist seit 2001 im Besitz des Jägervereins und dient heute vor allem kulturellen Zwecken. Eine Gedenktafel erinnert heute an die einstige jüdische Gemeinde Neheim und an ihre Synagoge mit den folgenden Worten:
Ehemalige Synagoge
1875/76 für die bereits über 50 Jahre bestehende jüdische Gemeinde Neheim errichtet.
Ihr Vorsteher war der Mitbegründer der Neheimer Industrie und seit 1886 Ehrenbürger der Stadt Neheim, Fabrikant Noe Wolff.
In der “Kristallnacht” 1938 wurde die Synagoge von Nationalsozialisten geplündert und geschändet.
Möge dieses 1985 restaurierte Baudenkmal das Gedenken an die während der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft deportierten und umgekommenen jüdischen Mitbürger wachhalten.
Heimatbund Neheim-Hüsten, 1987
Synagoge Neheim (Noah-Wolff-Saal) vor der Restaurierung ehem. Synagoge nach der Restaurierung (Aufn. aus: wikipedia.org, 2007)
Seit 2011 erinnern in Neheim, Hüsten und Arnsberg „Tafeln gegen das Vergessen“ an die Opfer der NS-Verfolgung. Die drei identischen Tafeln listen - aufgeteilt auf die drei früheren Synagogengemeinden - die jüdischen Opfer des Nationalsozialismus in Arnsberg auf, die bisher ermittelt werden konnten und nachweislich in Arnsberg gelebt oder gearbeitet haben. 2013/2014 wurden umfangreiche Sanierungsarbeiten am ehemaligen Synagogengebäude ausgeführt; Fördergelder der NRW-Stiftung unterstützten das Projekt.
In den Straßen Arnsbergs – so auch in Neheim und Hüsten - erinnern insgesamt ca. 25 sog. „Stolpersteine“ (Stand 2023) an jüdische Opfer der NS-Gewaltherrschaft.
zwei "Stolpersteine" in Hüsten (Abb. Machahn, 2015, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0)
und in Neheim (Aufn. A., 2016, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0)
Aufn. Machan, 2020, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 4.0
Der auf einem schmalen Geländestreifen inmitten eines Wohngebietes befindliche jüdische Friedhof in Hüsten – erstmalig 1857 urkundlich erwähnt, aber vermutlich wesentlich älter – weist heute noch ca. 40 Grabstätten mit 23 Grabsteinen auf.
Im Eingangsbereich des jüdischen Friedhofs in Hüsten findet man die abgebildete Gedenkplatte, die den Opfern der NS-Gewaltherrschaft gewidmet ist; sie wurde 1988 dort angebracht (beide Aufn. Machahn, 2015, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0).
Der gegen Mitte des 19.Jahrhunderts angelegte jüdische Friedhof in Neheim, der 1943 durch Überflutung (‚Möhnekatastrophe‘) weitgehend zerstört worden war, konnte nach 1945 nur teilweise wieder hergestellt werden, da nur elf Grabmonumente erhalten geblieben waren. Bei 2012 durchgeführten Renaturierungsarbeiten an der Ruhr wurden mehrere Grabsteine gefunden, die vom jüdischen Friedhof Neheims stammten. Inzwischen haben diese Steine wieder ihren angestammten Platz gefunden. Zudem wurde auch ein Gedenkstein für die Shoa-Opfer aus Neheim aufgestellt.
Blick auf das Friedhofsgelände und Gedenkstein (Aufn. O., 2015, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0)
[vgl. Arnsberg (Nordrhein-Westfalen)]
Weitere Informationen:
Werner Saure, Religionsgemeinschaften: Juden in Neheim und Hüsten, in: 625 Jahre Neheim und Hüsten, Hrg. Stadt Arnsberg, Arnsberg 1983, S. 124 - 164
Werner Saure, Geschichte und Schicksale jüdischer Mitbürger aus Neheim und Hüsten, Hrg. Heimatbund Neheim-Hüsten e.V., Arnsberg 1988
Werner Saure, Die ‘Reichskristallnacht’ in Arnsberg, Neheim und Hüsten, in: A.Bruns/M.Senger (Red.), Das Hakenkreuz im Sauerland, Hrg. Heimatmuseum Schmallenberg-Holthausen, 1988, S. 135 – 139
Uwe Haltaufderheide, Die Baudenkmäler der Stadt Arnsberg. Erfassungszeitraum 1980–1990, hrg. von der Stadt Arnsberg, Arnsberg 1990, S. 230 - 234
Synagogen im Hochsauerland. Was sie einst waren, was aus ihnen wurde, in: Jüdisches Leben im Hochsauerland, Hrg. Hochsauerlandkreis, Grobbel Verlag, Schmallenberg 1994, S. 417 ff.
G. Birkmann/H. Stratmann, Bedenke vor wem du stehst - 300 Synagogen und ihre Geschichte in Westfalen und Lippe, Klartext Verlag, Essen 1998, S. 80/81
Michael Brocke (Hrg.), Feuer an dein Heiligtum gelegt - Zerstörte Synagogen 1938 Nordrhein-Westfalen, Ludwig Steinheim-Institut, Kamp Verlag, Bochum 1999, S. 391 - 394
Reiner Ahlborn , Schicksale jüdischer Mitbürger zwischen 1930 und 1945, in: Werner Saure (Red.), Hüsten – 1200 Jahre. Beiträge zur Vergangenheit und Gegenwart, in: „An Möhne, Röhr und Ruhr", Heft 23/2002, S. 263 - 270
Elfi Pracht-Jörns, Jüdisches Kulturerbe in Nordrhein-Westfalen - Regierungsbezirk Arnsberg, J.P.Bachem Verlag, Köln 2005, S. 280 - 291
Werner Saure, Leben und Sterben israelitischer Bürger/innen in Neheim und Hüsten in drei Jahrhunderten, in: „An Möhne und Ruhr“, Heft 59/2015
Michael Gosmann (Red.), Arnsberg-Hüsten, in: Historisches Handbuch der jüdischen Gemeinschaften in Westfalen und Lippe – Die Ortschaften und Territorien im heutigen Regierungsbezirk Arnsberg, Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Westfalen, Ardey-Verlag Münster 2016, S. 140 – 147
Michael Gosmann (Red.), Arnsberg-Neheim, in: Historisches Handbuch der jüdischen Gemeinschaften in Westfalen und Lippe – Die Ortschaften und Territorien im heutigen Regierungsbezirk Arnsberg, Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Westfalen, Ardey-Verlag Münster 2016, S. 147 – 155
Auflistung der Stolpersteine in Arnsberg (mit Stadtteilen Neheim u. Hüsten), online abrufbar unter: wikipedia.org/wiki/Liste_der_Stolpersteine_in_Arnsberg
N.N. (Red.) Vor 75 Jahren: Aus Neheimer Baracke nach Auschwitz gebracht, in: „WP – Westfalenpost“ vom 27.2.2018
N.N. (Red.), Stolpersteine in der Fußgängerzone (Neheim), in: "Westdeutsche Allgemeine Zeitung" vom 6.6.2018
N.N./radio sauerland (Red.), Arnsberg: gegen das Vergessen, in: radiosauerland.de vom 5.11.2022