Neustadt a. Rbge. (Niedersachsen)
Neustadt am Rübenberge ist eine von derzeit ca. 45.000 Menschen bewohnte Stadt und selbstständige Kommune der Region Hannover in Niedersachsen - zwischen Bremen und Hannover gelegen (hist. Karte der Landdrostei Lüneburg um 1860, Neustadt/Rbge. unterer linker Kartenrand, aus: wikiwand.com und Kartenskizze 'Region Hannover', TUBS 2009, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 3.0).
"Schloss und Stadt Neustadt am Rubenberge" - Stich M. Merian, um 1650 (Abb. aus: wikipedia.org, gemeinfrei)
Im 18.Jahrhundert lebten in Neustadt a. Rbge. nur sehr wenige jüdische Familien. Bis in die 1840er Jahre galten sie als "Schutzjuden", die dem Amt Neustadt rechtlich unterstanden; Versuche des Neustädter Magistrats, die Juden auszuweisen, scheiterten allerdings. Als 1842 das Schutzverhältnis von Juden aufgehoben wurde, fielen auch die beruflichen Schranken; die Juden konnten nun einem Handwerk oder einem Gewerbe ihrer Wahl nachgehen. Was aber noch blieb, war die sog. „Dominialabgabe“; auch Grund und Boden durften Juden weiterhin nicht erwerben.
Die Synagoge der Neustädter Juden lag unscheinbar zwischen Windmühlen- und Mittelstraße; das alte Fachwerkhaus war von den umgebenden Häusern kaum zu unterscheiden. - Eine jüdische Elementarschule soll bis 1910 in Neustadt bestanden haben; sie war in einem gemeindeeigenen Hause untergebracht, in der sich auch die Lehrerwohnung befand.
Neben dem im beginnenden 19.Jahrhundert angelegten jüdischen Friedhof in Neustadt - auf einer Anhöhe nahe der Leine (am Galgenberg) gelegen - gab es zudem einen Friedhof im nahen Dorfe Mandelsloh.
Grabsteinornamentik (Aufn. aus: ruebenberge.de)
Der 1843 gebildete Synagogenbezirk Neustadt 1843 schloss auch die umliegenden Ortschaften Basse, Mandelsloh, Rodewald und Wulfelade ein; um 1920 kam auch Hagen noch dazu. In den meisten Dörfer im Landkreis Neustadt a. Rbge. lebten keine Juden; nur in Hagen und Rodewald gab es Anfang der 1930er Jahre jeweils eine jüdische Familie.
Juden in Neustadt/Rbge.:
--- 1772 ............................ 4 jüdische Familien,
--- 1828 ............................ 47 Juden,
--- 1848 ............................ 51 “ ,
--- 1864 ............................ 89 “ ,
--- 1871 ............................ 100 “ ,
--- 1885 ............................ 77 “ ,
--- 1895 ............................ 60 “ ,
--- 1900 ............................ 59 “ ,
--- 1913 ............................ 59 “ ,
--- 1925 ............................ 51 “ ,
--- 1933 ............................ 45 “ ,
--- 1935 (Dez.) ..................... 29 “ ,
--- 1939 ............................ 4 “ .
--- 1945 ............................ 3 “ .
Angaben aus: Hubert Brieden, Juden in Neustadt am Rübenberge, S. 149
und Friedel Homeyer, Gestern und heute - Juden im Landkreis Hannover, S. 100
Wallstraße - hist. Ansicht (Abb aus: akpool.de)
Zu Beginn der NS-Zeit lebten in der damaligen Kreisstadt etwa 3.500 Einwohner, davon 45 Juden; die meisten von ihnen verdienten ihren Lebensunterhalt als kleine Gewerbetreibende und Händler, einige übten ein Handwerk aus oder waren im Dienstleistungsbereich tätig.
In den letzten Jahren der Weimarer Republik häuften sich Veranstaltungen bzw. Kundgebungen der NSDAP in Neustadt und im Landkreis, die auch stark antisemitisch ausgerichtet waren; so fanden z.B. Veranstaltungen unter dem Motto „Jüdische Knechtschaft” statt. Neustadt und seine umliegenden Dörfer waren Hochburgen der NSDAP; zeitweilig erreichte die NSDAP hier etwa 50% der Wählerstimmen.
1933 existierten in Neustadt/Rbge. folgende zehn selbstständige Geschäfte/Unternehmen mit jüdischen Inhabern:
--- Kleinvieh- und Altmetallhandel Moritz Behrens,
--- Altpapierhändler Hermann Birkenruth,
--- Schlachterei Erich Meinrath,
--- Bankier Otto Meinrath,
--- Schuhgeschäft Leopold Rosenbaum,
--- Wollgeschäft/Schneiderei Emmy und Martha Rosenstein,
--- Viehhändler Ivan Rosenstein,
--- Wein- und Spirituosenhändler Leopold Schloß,
--- Konfektionsgeschäft Leo Steinberg,
--- Modegeschäft Helene Sternheim.
Erste sichtbare Maßnahme gegen Juden in Neustadt war die Aufstellung von SA-Posten vor den Geschäften jüdischer Inhaber am 1.4.1933. Unter dem wachsenden Druck zogen in den folgenden Jahren einige jüdische Familien weg, vermutlich in größere Städte; 1935 hatte der Neustädter Stadtrat den folgenden Beschluss gefasst: „Handwerker, Geschäftsleute oder Volksgenossen, die noch mit Juden Verkehr pflegen oder bei Juden kaufen, erhalten keine Gemeindeaufträge oder Gemeindearbeit”; dies zerstörte die wirtschaftlichen Existenz der jüdischen Geschäfte und führte zur "freiwilligen" Aufgabe derselben. Bis 1938 war der Ausschluss der Juden aus dem Neustädter Geschäftsleben weitgehend abgeschlossen. Mit der Liquidierung der Bank Meinrath verschwand 1939 der letzte jüdische Betrieb in Neustadt.
Nach einer NSDAP-Veranstaltung am Abend des 9.November 1938 begann auch in Neustadt die reichsweit organisierten Ausschreitungen. Randalierende NSDAP- und SA-Männer zogen durch die Straßen der Kleinstadt. In der Nacht wurde die Synagoge in der Windmühlenstraße geplündert und die Inneneinrichtung zerstört; auf eine Brandlegung verzichtete man, da die Gefahr bestand, dass auch benachbarte Fachwerkhäuser Feuer fingen. Stattdessen wurde das Dach des Synagogengebäudes zerstört, damit eine weitere Nutzung nicht mehr möglich war. Die jüdische Leichenwagen soll - mit Thora-Rollen umwickelt - durch die Kleinstadt geschoben und auf den angrenzenden Leine-Wiesen angezündet worden sein. Auch Wohnungen der wenigen noch in Neustadt lebenden Juden wurden demoliert.
In der lokalen „Leine-Zeitung” vom 11.11.1938 wurde in einem Kurzartikel über die Geschehnisse in Neustadt berichtet:
... Auf die Nachricht vom Tode des deutschen Gesandtschaftsrates vom Rath kam es aus der Empörung über diesen jüdischen Meuchelmord auch in unserer Stadt zu Kundgebungen gegen die Juden, in deren Verlauf gestern in den frühen Morgenstunden 4 männliche Juden in Schutzhaft genommen, zwei jüdische Familien, die in arischen Häusern wohnten, ausquartiert wurden. Das jüdische Gebetshaus wurde geschlossen. - Auch in der Nachbarstadt Wunstorf wurden jüdische Einwohner in Schutzhaft genommen.
Im Frühjahr 1939 musste die jüdische Gemeinde die 1,5 ha große Fuhrenkoppel "Am Galgenberg" an die Neustädter Kommune verkaufen. Der jüdische Friedhof wurde im Mai 1940 für 70 RM (!) an die Stadt abgegeben.
Noch im Februar 1945 (!) wurde eine „in Mischehe“ verheiratete Jüdin nach Theresienstadt deportiert; sie überlebte die letzten Kriegsmonate und kehrte nach Neustadt zurück. Mindestens 21 gebürtige bzw. längere Zeit in Neustadt ansässig gewesene jüdische Bürger wurden Opfer der Shoa; über das Schicksal weiterer elf Personen ist nichts bekannt.
An der Stelle der einstigen, in den 1950er Jahren abgerissen Synagoge und des Gemeindehauses in der Windmühlen-/Mittelstraße (Abb. aus: haz.de) verweist seit 1985 eine Gedenktafel (Aufn. P. Chadde) auf die ehemalige jüdische Gemeinde in Neustadt; ihre Inschrift lautet:
Zum Gedenken an die jüdischen Mitbürger und an die Synagoge, die hier stand,
den Lebenden zur Mahnung
Stadt Neustadt a. Rbge. 10.11.1985
Auf dem jüdischen Friedhof an der Hannoverschen Heerstraße (heute Hannoversche Straße), der auch lange Jahre nach Kriegsende noch in einem verwahrlosten Zustand war, steht heute auf dem knapp 1.000 m² großen Areal zwischen den noch vorhandenen etwa 60 Grabsteinen ein vom Kunsterzieher Hans-Peter Zaumbrecher entworfener und von Schülern der ehemaligen Realschule gestalteter Gedenkstein mit folgendem Text:
Haben wir nicht alle einen Vater
Junge Menschen der Stadt 1968
Jüdischer Friedhof in Neustadt/Rbge. (Aufn. AnMa., 2021, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 4.0, R.Reiter, 2007 u. L.A. 2013, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 3.0)
Das in den 1980er Jahren wieder in einen ansehbaren Zustand versetzte Friedhofsgelände war danach mehrfach von Schändungen betroffen.
2014 wurden in den Gehwegen Neustädter Straßen die ersten sieben sog. „Stolpersteine“ verlegt, die an die Wohnstätten und Geschäftshäuser ehemaliger jüdischer Einwohner erinnern; derzeit werden ca. 25 Steine gezählt (Stand 2023).
verlegt in der Marktstraße
verlegt am Rundeel und Zwischen den Brücken (alle Aufn. Tim.Rademacher, 2015, commons.wikimedia.org, CC BY-SA 4.0)
Die Einweihung eines längst geplanten, durch kontroverse Debatten und nicht-gesicherte Finanzierung immer wieder verzögerten Mahnmals in Erinnerung an die ermordeten Neustädter Juden wurde schließlich 2018 vollzogen. Den ersten Entwurf hatten Schüler/innen des Gymnasiums Neustadt bereits 2009 gefertigt. Die Skulptur – drei ineinander verkantete Stahlplatten – steht nun auf dem Platz "Zwischen den Brücken"; die gekippten Platten sind mit den Namen derer beschriftet, die die Stadt in den Jahren des Nationalsozialismus verlassen mussten.
Mahnmal (Aufn. Hubert Brieden, aus: radioflora.de)
Die einzige im nahen Dorf Hagen lebende jüdische Familie war die des Schlachters Arnold Samuel (geb. 1880 in Rodewald); einige Jahre nach der Machtergreifung verließ die Familie mit zwei ihrer Kinder das Dorf und verzog nach Hannover. Für drei Angehörige der Familie brachte die Deportation nach Riga den Tod (1941/42). Paul Samuel (ein Sohn) kehrte nach Kriegsende nach Hagen zurück. Seit 2009 erinnert eine Gedenktafel an der Schule an das Schicksal der Familie Samuel.
(vgl. Biografien der Angehörigen der Familie Samuel in: ak-regionalgeschichte.de/judenverfolgung-judenverfolgung-neustadt_a_rbge/)
Weitere Informationen:
Wilhelm Winkel, Geschichte der Stadt Neustadt a. Rbge., Neustadt 1966
H.Brieden/H.Dettinger/H.Hergt/D.Strege, Neustadt 1933 - 1945 - Nationalsozialismus in der Provinz. Eine Dokumentation, Neustadt 1983, S. 177 ff.
Friedel Homeyer, Gestern und heute - Juden im Landkreis Hannover, Hrg. Landkreis Hannover, Hannover 1984
Hubert Brieden, Juden in Neustadt am Rübenberge. Diskriminierung, Verfolgung und Vernichtung einer Minderheit, Neustadt 1992
Albert Marx, Geschichte der Juden in Niedersachsen, Fackelträger-Verlag GmbH, Hannover 1995
Heimatgeschichtlicher Wegweiser zu Stätten des Widerstandes und der Verfolgung 1933 - 1945, Niedersachsen II (Regierungsbezirke Hannover und Weser-Ems), Pahl-Rugenstein Verlag, Köln 1986, S. 66 f.
Nancy Kratochwill-Gertich/Antje C. Naujoks (Bearb.), Neustadt am Rübenberge, in: Herbert Obenaus (Hrg.), Historisches Handbuch der jüdischen Gemeinden in Niedersachsen und Bremen, Wallstein-Verlag, Göttingen 2005, Band 2, S. 1091 – 1098
Arbeitskreis Regionalgeschichte e.V. (Hrg.), Schicksal der Jüdinnen und Juden aus Neustadt a. Rbge. 1933 – 1945, o.J. (online abrufbar unter: ak.regionalgeschichte.de)
Stadt Neustadt a. Rbge., Über den „Judenfriedhof“ in Neustadt am Rübenberge (online abrufbar unter: ruebenberge.de)
Hubert Brieden, „Das jüdische Gebetshaus wurde geschlossen“. Diskriminierung, Verfolgung und Vernichtung einer Minderheit in Neustadt am Rübenberge, Verlag Region + Geschichte, 2007 (Neuauflage)
Hubert Brieden, „Das jüdische Gebetshaus wurde geschlossen.“ Der Novemberpogrom 1938 und die Vernichtung der Synagogengemeinde in Neustadt am Rübenberge, in: "Schriften des Historischen Museums", 33/2008, S. 111 – 123
Arbeitskreis Regionalgeschichte (Hrg.), Schicksal der Jüdinnen und Juden aus Neustadt am Rübenberge 1933 – 1945. Ein Überblick Personendaten (online abrufbar unter: ak-regionalgeschichte.de)
Heinz Busse, Ein Dorf in der Zeit des Nationalsozialismus. Hagen in der Region Hannover, Edition Religion + Geschichte, 2014
Arbeitskreis Regionalgeschichte (Hrg.), Erste Stolpersteine in Neustadt a. Rbge (online abrufbar unter: ak-regionalgeschichte.de)
Uwe Sternbeck, Neue Stolpersteine erinnern an Judenverfolgung in Neustadt (online abrufbar unter: sternbeck.info vom 17.12.2015)
Auflistung der in Neustadt verlegten Stolpersteine, online abrufbar unter: wikipedia.org/wiki/Liste_der_Stolpersteine_in_Neustadt_am_Rübenberge
Eine Ausstellung. Jüdisches Leben in Neustadt a. Rbge., Broschüre anlässlich der Ausstellung (Frühjahr 2015)
H. Brieden/H.-H. Bückmann/H. Dyck/H.-E. Hergt (Bearb.), Neustadt am Rübenberge – Geschichte in Fotografien, Verlag Arbeitskreis Regionalgeschichte, 2. Aufl. 2015
Stadt Neustadt a. Rbge (Hrg.), Über den "Judenfriedhof" in Neustadt am Rübenberge, online abrufbar unter: ruebenberge.de/historisches/friedhof_juedische_gemeinde_judenfriedhof.html
Kathrin Götze (Red.), Mahnmal-Standort ist beschlossen, in: „Neue Presse“ vom 9.4.2018
Bernd Haase (Red.), Stolpersteine erinnern an vertriebene Juden, in: "Neue Presse" vom 14.9.2018
Benjamin Behrens (Red.), Neustadt. Mahnmal und Vorträge erinnern an die Pogromnacht, in: „Hannoversche Allgemeine“ vom 31.10.2018
Kathrin Götze (Red.), Nach langem Streit steht nun das Mahnmal, in: „Hannoversche Allgemeine" bzw. "Neue Presse“ vom 7.11.2018
Uwe Sternbeck (Bearb.), 80 Jahre nach der Pogromnacht: Mahnmal steht endlich, online abrufbar unter: sternbeck.info (26.11.2018)
Hubert Brieden (Hrg.), 9.November 1938: Pogromnacht in Neustadt am Rübenberge (Region Hannover), in: radioflora.de vom 9.11.2019
N.N. (Red.), Broschüre führt zu Orten jüdischen Lebens, in: „Hannoversche Allgemeine" bzw. "Neue Presse“ vom 4.4.2021