Niederaula (Hessen)
Niederaula ist eine Marktgemeinde mit derzeit ca. 5.300 Einwohnern im Landkreis Hersfeld-Rotenburg im Nordosten von Hessen – ca. 15 Kilometer südwestlich von Bad Hersfeld gelegen (Ausschnitt aus hist. Karte von 1905, aus: wikipedia.org, gemeinfrei und Kartenskizze 'Landkreis Hersfeld-Rotenburg', NNW 2008, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 3.0).
Im ausgehenden 19 Jahrhundert erreichte die Zahl der Angehörigen der jüdischen Gemeinde ihren höchsten Stand; jeder 7. Bewohner Niederaulas gehörte dem mosaischen Glauben an.
Der erste Beleg für eine Ansiedlung einer jüdischen Familie stammt aus dem beginnenden 16.Jahrhundert, als der Hersfelder Abt diese aufnahm. Seit der Mitte des 17.Jahrhunderts siedelten sich weitere Familien im Orte an; doch genaue Angaben über die jüdische Gemeinschaft sind nicht bekannt. Erst ab den 1840er Jahren zogen dann deutlich mehr Juden nach Niederaula; sie stammten teils aus Hattenbach, teils aus den größeren jüdischen Gemeinden der ehemals ritterschaftlichen Orte Rhina und Erdmannsrode. Ihren bescheidenen Lebensunterhalt verdienten sie meist im Kleinhandel mit Textilien, Därmen und Fellen.
Der Betsaal der Gemeinde befand sich unmittelbar neben der Dorfkirche an der Bahnhofstraße; es war das umgebaute Backhaus des Ortes; dessen Alter ist unbekannt. Eine Mikwe war diesem angeschlossen.
Dorfansicht mit Betsaal ganz links im Bild (hist. Aufn. um 1930) - Ausschnittsvergrößerung
Eine jüdischen Elementarschule existierte nachweisbar spätestens seit den 1860er Jahren; sie bestand - mit einer Unterbrechung - bis Mitte der 1930er Jahre, besaß aber nach 1920 nur noch sehr wenige Schüler; noch um 1900 hatten mehr als 50 jüdische Kinder diese Schule besucht.
aus: "Allgemeine Zeitung des Judentums" April 1874
Als der verwitwete jüdische Lehrer (Salomon Aschenbrand) mit seinen zahlreichen Kindern in finanzielle Not geriet, rief die Gemeinde zu einer Spendenaktion auf:
Bereits ein Jahr zuvor hatte sich Salomon Aschenbrand in einer Anzeige in der Zeitschrift „Der Israelit“ vom 19.Januar 1880 an die Öffentlichkeit gewandt:
Ein kleines Friedhofsgelände wurde erst in der Mitte des 19.Jahrhunderts angelegt; zuvor waren die Verstorbenen nach Oberaula gebracht worden.
Die Juden Hattenbachs gehörten auch zur Gemeinde von Niederaula. Bis Ende des 19.Jahrhunderts zählten die Juden aus (Bad) Hersfeld ebenfalls zur israelitischen Gemeinde Niederaula.
Juden in Niederaula:
--- um 1740 ....................... 4 jüdische Familien,
--- 1835 .......................... 72 Juden,
--- 1861 .......................... 97 “ (ca. 8% d. Bevölk.),
--- 1885 .......................... 145 “ (ca. 14% d. Bevölk.),
--- 1893 .......................... 28 jüdische Familien,
--- 1905 .......................... 132 Juden,* *andere Angabe: 114 Pers.
--- 1924 ...................... ca. 110 " (ca. 9% d. Bevölk.)
--- 1933 .......................... 72 “ ,
--- 1936 ...................... ca. 50 " ,
--- 1938 .......................... 41 “ ,
--- 1942 (Mai) .................... 9 “ ,
(Okt.) ................... keine.
Angaben aus: Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang - Untergang - Neubeginn, Bd. 2, S.131
In der jüdischen Presse wurde der Bevölkerung Niederaulas quasi ein „Lob“ ausgestellt, da sie sich nicht an der in den 1880er Jahren um sich greifenden „Judenhetze“ beteiligte.
aus der Zeitschrift "Jeschurun" aus dem Jahre 1883
In den 1890er Jahren erreichte die israelitische Gemeinde Niederaulas ihren Höchststand. Neben Handwerken übten die Juden Niederaulas um 1880/1900 verschiedene Handelsberufe aus; so lebten hier relativ viele Pferdehändler, aber auch Metzger und Kleinhändler.
Gewerbliche Anzeigen jüdischer Geschäftsleute aus den Jahren 1875, 1890 und 1901
Nach 1900 reduzierte sich die Zahl der Gemeindemitglieder stetig, besonders die wohlhabenderen Familien zogen weg oder emigrierten.
Über die Emigrationsziele während der NS-Zeit liegen zwar keine exakten Daten vor. Es gilt aber als sicher, dass nach 1933 - nach dem Verkauf ihres Eigentums - Juden vorrangig in die USA auswanderten.
Aus Anlass des 100jährigen Synagogenjubiläums erschien in der Zeitschrift „Der Israelit“ (Ausgabe vom 12.Nov. 1936) der folgende kurze Beitrag:
Im Jahre 1938 gab es in Niederaula noch elf jüdische Geschäfts- und Handelsleute.
Während des Novemberpogroms von 1938 wurden die Inneneinrichtung sowie Türen und Fenster der Synagoge zerstört, die Kultgegenstände entweiht und auf die Straße geworfen; lediglich die enge Bebauung verhinderte eine Brandlegung des Synagogengebäudes. Der jüdische Friedhof blieb während der NS-Zeit von Zerstörungen verschont.
Aus einer Meldung in der Lokal-Zeitung von Mitte November 1938:
Niederaula. Die Polizei meldet telefonisch, daß in Niederaula gestern abend von unbekannten Tätern die Inneneinrichtung der Synagoge und deren Fenster und Türen vollständig zerstört worden seien. Ferner seien in den Häusern der Juden Apt, Gastwirt Levi, Oppenheim, Goldstein und W.Oppenheim die Türen beschädigt, die Läden heruntergerissen und die Fenster eingeworfen worden. Bei dem Juden Levi sei ein 7jähriges Kind aus dem Fenster eines oberen Stockwerkes gesprungen. Das Kind soll schwer verletzt sein. Nach dem Eintreffen des Bürgermeisters, des SA-Sturmführers und der Gendarmerie sei die Ruhe bald wieder hergestellt worden.
Die in Niederaula verbliebenen jüdischen Bewohner wurden 1942 nach Aufgabe ihres Besitzes gezwungen, in die Räume der jüdischen Gastwirtschaft in der Bahnhofstraße umzuziehen; über ein Zwischenlager wurden sie im September 1942 nach Theresienstadt deportiert. Mit der Deportation der letzten beiden jüdischen Einwohner Niederaulas im Juni 1942 endete die Geschichte der jüdischen Gemeinde in Niederaula.
Nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem/Jerusalem und des „Gedenkbuches – Opfer der Verfolgung der Juden ...“ sind nachweislich 75 gebürtige bzw. über einen längeren Zeitraum hinweg in Niederaula ansässig gewesene Bürger jüdischen Glaubens Opfer der NS-Gewaltherrschaft geworden; aus Hattenbach kamen sieben Juden gewaltsam ums Leben (namentliche Nennung der betroffenen Personen siehe: alemannia-judaica.de/nideraula_synagoge.htm).
Nach Kriegsende diente das Synagogengebäude zeitweilig als katholische Kirche, danach wurde es zu einem Wohnhaus umgebaut; Jahre später wurde es abgerissen.
Ehem. Synagogengebäude (hist. Aufn., um 1960)
An dessen Stelle befindet sich seit 2007 ein Gedenkstein mit einer Inschriftentafel:
Zur Erinnerung an die bis 1942 in Niederaula lebenden Juden.
Hier stand bis 1973 die Mitte des 19. Jahrhunderst erbaute Synagoge der jüdischen Gemeinde Niederaula.
Dieser Gedenkstein soll an das Schicksal der ehemaligen jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger erinnern.
Etwa 60 Grabsteine auf dem ca. 1.100 m² großen Friedhofsgelände (an der Ziegenhainer Straße) erinnern heute noch an Angehörige der ehemaligen jüdischen Gemeinde von Niederaula.
Jüdischer Friedhof in Niederaula - Ansichten (beide Aufn. J. Hahn, 2008)
Im Rahmen einer ökumenischen Gedenkveranstaltung wurde 1994 hier ein Gedenkstein aufgestellt, der die Inschrift trägt: "Allein das Betenkönnen ist schon ein Anfang, die Schwierigkeiten des Lebens zu meistern. Am 6.6.1994 beteten Juden und Christen hier für Verständnis und Frieden."
Seit 2022 findet man an zwei Standorten Niederaulas (Bahnhofstraße u. Querstraße) 13 sog. „Stolpersteine“, die jüdischen NS-Opfern gewidmet sind, so für die Angehörigen der beiden jüdischen Familien Levi und Oppenheim.
verlegt für Fam. Levi (Aufn. aus: gruene-herdfeld-rotenburg.de)
In einer jüngst in der Bahnhofstraße aufgestellten Vitrine wird an die ehemalige Synagoge und die jüdischen Bewohner der Marktgemeinde erinnert (2024).
Weitere Informationen:
Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang - Untergang - Neubeginn, Societäts-Verlag, FrankfurtM. 1971, Bd. 2, S. 131 f.
Paul Görlich, Geschichte der Juden im Kreis Hersfeld, in: "Mein Heimatland - Zeitschrift für Geschichte, Volks- und Heimatkunde", Heft 4/April 1972
Traugott Classen, Niederaula, Hrg. Gemeindeverwaltung Niederaula, Niederaula 1979, S. 320 f.
Thea Altaras, Synagogen in Hessen - was geschah seit 1945 ? Verlag K.R. Langewiesche Nachfolger Hans Köster Verlagsbuchhandlung, Königstein (Taunus) 1988, S. 41/42
Heidi Rößing, Zur Geschichte der Juden in Niederaula, in: "Heimatkalender Krs. Hersfeld-Rotenburg 1995", S. 238 f.
Die jüdische Gemeinde und der jüdische Friedhof in Niederaula, in: Kulturgeschichte - historische Stätten, Denkmäler, vergessene Orte und Museen im Kreis Hersfeld-Rotenburg, Hrg. Hessisches Institut für Lehrerfortbildung, Außenstelle Bad Hersfeld 1995, S. 208 f.
Heimatgeschichtlicher Wegweiser zu Stätten des Widerstandes und der Verfolgung 1933 - 1945, Hessen II: Regierungsbezirke Gießen und Kassel, VAS-Verlag, Frankfurt/M. 1996, S. 64/65
Niederaula mit Hattenbach, in: alemannia-judaica.de (mit diversen Dokumenten zur jüdischen Ortshistorie)
Der jüdische Friedhof in Niederaula, in: alemannia-judaica.de (mit Aufnahmen vom Begräbnisgelände)
Hans-Hubertus Braune (Red), Gegen das Vergessen: 13 Stolpersteine erinnern an jüdische Mitbürger, in: „Osthessen News vom 29.6.2022
Auflistung der in Niederaula verlegten Stolpersteine, online abrufbar unter: wikipedia.org/wiki/Liste_der_Stolpersteine_in_Niederaula
kg/pm (Red.), Niederaula. Vitrine als Erinnerung an ehemalige jüdische Mitbürgert aufgestellt, in: „Osthessen-News“ vom 24.10.2024