Nieder-Wöllstadt (Hessen)

Datei:Municipalities in FB.svgMietspiegel für Wöllstadt - wohnpreis.de Nieder-Wöllstadt ist einer der beiden Ortsteile der Gemeinde Wöllstadt im Südwesten des hessischen Wetteraukreises – ca. 20 Kilometer nördlich der Mainmetropole Frankfurt/M. bzw. südlich von Friedberg gelegen (Kartenskizze 'Wetteraukreis', Hagar 2009, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 3.0  und  Skizze aus: Stadtplan Friedberg).

 

In der in der südlichen Wetterau gelegenen Ortschaft Nieder-Wöllstadt ließen sich die ersten jüdischen Familien nach Ende des Dreißigjährigen Krieges dauerhaft nieder. Sie standen unter dem Schutz der Grafen von Solms-Rödelheim. Der erste Hinweis auf einen zeitweiligen Aufenthalt eines Juden stammt aus dem Jahre 1550.

In den ersten Jahren suchten die Familien die Synagoge in Assenheim auf; danach stand ihnen ein eigener Betraum am Ort zur Verfügung; er war anfänglich im alten herrschaftlichen Brauhaus untergebracht. Um 1830 errichtete die hiesige Judenschaft einen kleinen Synagogenbau.

  Synagoge rechts im Bildhintergrund (hist. Aufn., um 1910, aus: P. Arnsberg)

Ein Bericht von 1834 informiert über eine Trauung; darin hieß es:

Nieder-Wöllstadt am 17.Juni 1834

Heute fand in der Synagoge dahier die Kopulation eines israelitischen Brautpaar’s durch den dazu beauftragten Herrn Isaac J. Fuerth, Elementarlehrer zu Münzenberg, statt. Die deutsche Rede, welche Herr Fuerth dabei hielt, war sehr gediegen und herzergreifend; im Tempel herrschte Todesstille und alle anwesenden Juden und Christen waren zu Thränen gerührt. ... Möchten doch öfter in zahlreich besuchten Synagogen solche deutschen Reden gehalten werden; damit viele Juden, wie z.B. heute wenigstens bei Einem der Fall war, nicht auch noch in Zukunft bekennen müssen, daß sie die Lehren ihrer Religion nicht kennen; und woher anders sollen sie solche auch lernen ? ...

Vermutlich gab es in einem Privathaus auch eine Mikwe.

Zeitweilig war von der kleinen Gemeinde ein Lehrer angestellt, der auch als Vorbeter und Schächter fungierte. Später unterrichtete ein auswärtiger Lehrer (aus Groß-Karben) die wenigen jüdischen Kinder. 

Anzeige in der Zeitschrift "Der Israelit" vom 28. Mai 1890

Verstorbene Gemeindeangehörige wurden im 18.Jahrhundert noch auf dem jüdischen Friedhof in Fauerbach begraben; ein eigenes Friedhofsgelände stand den Juden in Nieder-Wöllstadt erst seit dem 19.Jahrhundert am Atzelberg, Ecke Ringstr./Friedberger Straße, zur Verfügung.

Die Gemeinde gehörte zum liberalen Provinzialrabbinat Oberhessen mit Sitz in Gießen.

Juden in Nieder-Wöllstadt:

         --- um 1650 .......................  2 jüdische Familien,

    --- 1715 ..........................  3     “       “    ,

    --- um 1730 .......................  6     “       “    ,

    --- 1760 ..........................  9     “       “    ,

    --- 1800 ..........................  9     “       “    ,

    --- 1830 .......................... 42 Juden,

    --- 1861 .......................... 71   “   (ca. 8% d. Bevölk.),

    --- 1880 .......................... 53   "   (ca. 5% d. Bevölk.)

    --- 1905 .......................... 38   “   (ca. 3% d. Bevölk.),

    --- 1925 .......................... 43   “  ,

    --- 1933 (Mai) .................... 24   “  ,*   *andere Angabe: 33 Pers.

    --- 1942 (Okt.) ................... keine.

Angaben aus: Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang - Untergang - Neubeginn, Bd. 2, S. 145

und                 Klaus Schäfer (Gemeindearchivar), Manuskript 2005

 

Die in Nieder-Wöllstadt lebenden jüdischen Familien verdienten ihren Lebenserwerb größtenteils im Vieh- und Landhandel; einige arbeiteten aber auch als Metzger und Textilkaufleute.

Auf Grund der schwindenden Zahl der Gemeindeangehörigen konnten um die Jahrhundertwende bereits keine regelmäßigen Gottesdienste mehr abgehalten werden.

Ansätze antisemitischen Verhaltens in Nieder-Wöllstadt sollen 1890 vom Bürgermeister in die Schranken verwiesen worden sein.

http://www.alemannia-judaica.de/images/Images%20182/Niederwoellstadt%20Israelit%2018091890.jpgaus der Zeitschrift "Der Israelit" vom 18.9.1890

Während des Novemberpogroms von 1938 demolierten ortsansässige Nationalsozialisten die Synagoge in der Bahnhofstraße und rissen die Wände anschließend mit einem Traktor nieder. Friedberger HJ-Angehörige schändeten den Friedhof und zerstörten die das kleine Areal umgebende Mauer; Grabsteine wurden später u.a. zum Bunkerbau verwendet. Männliche Bewohner wurden ins KZ Buchenwald verschleppt und mehrere Wochen dort inhaftiert.

Mit wenigen Ausnahmen hatten alle Juden bis Ende der 1930er Jahre ihren Heimatort verlassen, meist in Richtung Frankfurt/Main.

Vier Nieder-Wöllstädter Juden wurden Ende September 1942 „in den Osten“ deportiert und fanden dort einen gewaltsamen Tod. Die letzten beiden Jüdinnen wurden noch Mitte Februar 1945 (!) nach Theresienstadt verschleppt, konnten aber überleben.

Nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem/Jerusalem wurden 22 gebürtige bzw. längere Zeit in Nieder-Wöllstadt ansässig gewesene Juden Opfer der NS-Gewaltherrschaft (namentliche Nennung deer Opfer siehe: alemannia-judaica.de/nieder-woellstadt_synagoge.htm).

 

Im November 1978 wurde am ehemaligen Standort der Synagoge in der Bahnhofstraße eine Gedenktafel angebracht, die den folgenden Text trägt:

Hier stand die Synagoge der Jüdischen Gemeinde Nieder-Wöllstadt.

Sie wurde im November 1938 zerstört.

 http://www.alemannia-judaica.de/images/Images%20382/Nieder-Woellstadt%20Friedhof%201507.jpg Jüdischer Friedhof (Aufn. Stefan Haas, 2015)

Auch auf dem mit nur wenigen Grabsteinen besetzten jüdischen Friedhof in der Ringstraße wird seit 1988 mit einem Stein an die einstigen jüdischen Bewohner Nieder-Wöllstadts erinnert:

Wir gedenken in Trauer unserer jüdischen Mitbürger,

die in den Jahren 1933 - 1945 Opfer von Rassenwahn und Unmenschlichkeit wurden.

Gemeinde Wöllstadt  Nov. 1988

 

 

 

Weitere Informationen:

Paul Arnsberg, Die jüdischen Gemeinden in Hessen. Anfang - Untergang - Neubeginn, Societäts-Verlag Frankfurt/M. 1971, Bd. 2, S. 145/146

Dieter Wolf, Vom alten Nieder-Wöllstadt (Wöllstädter Heimatbuch 1), Selbstverlag, 2.Aufl., Nieder-Wöllstadt 1977, S. 92

Dieter Wolf, Nieder-Wöllstadt. Zwei Jahrhunderte in Bildern, in: Fritz Runge/Dieter Wolf (Hrg.), 1200 Jahre Wöllstadt (790 - 1990). Aus der Geschichte von Nieder- und Ober-Wöllstadt, Horb/Neckar 1990, S. 81 - 184

Susanne Gerschlauer, Synagogen, in: Ulrich Schütte (Hrg.), Kirchen und Synagogen in den Dörfern der Wetterau, in: "Wetterauer Geschichtsblätter - Beiträge zur Geschichte und Landeskunde", Band 53, Friedberg (Hessen) 2004, S. 322 und S. 572

Klaus Schäfer, Zur Geschichte der ehemaligen kleinen jüdischen Gemeinde in Nieder-Wöllstadt, Manuskript 2005

Nieder-Wöllstadt, in: alemannia-judaica.de (mit wenigen Dokumenten zur jüdischen Ortshistorie)

Udo Dickenberger (Red.), Wider das Vergessen, in: „Gießener Allgemeine“ vom 2.12.2019 (betr. Anbringung einer Gedenktafel)

Jürgen Schenk (Red.), November-Pogrom. Nach dem Essen fiel die Nieder-Wöllstädter Synagoge, in: „Frankfurter Neue Presse“ vom 18.11.2021