Niederstetten (Baden-Württemberg)
Niederstetten ist eine von ca. 4.800 Menschen bewohnte Kleinstadt in Hohenlohe im fränkischen Nordosten von Baden-Württemberg, die dem Main-Tauber-Kreis angehört - ca. 15 Kilometer südöstlich von Bad Mergentheim gelegen (Ausschnitt aus hist. Karte ohne Eintrag von Niederstetten, aus: deutsche-schutzgebiete.de und Kartenskizze 'Main-Tauber-Kreis', F. Paul 2009, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0).
Nach Überlieferung des "Nürnberger Memorbuches" sollen bereits 1298 Juden in Niederstetten gewohnt haben, die während blutiger Verfolgungen hier ums Leben gekommen sind. Ende des 17. Jahrhunderts entstand die neuzeitliche jüdische Gemeinde; in der zweiten Hälfte des 17.Jahrhunderts hatten die Fürsten von Hatzfeld - in einem Generalschutzbrief - mehreren jüdischen Familien die dauerhafte Ansiedlung in der Kleinstadt gestattet; seit 1675 soll eine kleine Judensiedlung bestanden haben, die seit 1714 auch einen Betsaal besaß.
Zwei Jahrzehnte später soll auch ein eigener Friedhof oberhalb des Schlosses Haltenbergstetten angelegt worden sein, der bis in die NS-Zeit belegt wurde. In den Zeiten zuvor sollen die Verstorbenen auf dem Friedhof in Schopfloch im Landkreis Ansbach/Bayern bzw. in Unterbalbach, seit 1730 auf dem in Weikersheim begraben worden sein.
Seit Mitte des 18.Jahrhunderts verfügte die jüdische Gemeinde über ein eigenes Bethaus (in der Mittelgasse); ein neues Synagogengebäude wurde 1824 errichtet. Jedes Gemeindemitglied besaß einen Synagogenplatz und ein Gebetpult für seine rituelle Habe; bei einer allgemeinen Renovierung in den 1870er Jahren ersetzte man die Gebetspulte durch feste Bänke. Die Frauen nahmen an den Gottesdiensten nicht - wie allgemein üblich - auf einer Empore teil, sondern hielten sich – wenngleich vollkommen von den Männern getrennt – auch im unteren Teil der Synagoge auf. Uneins war man sich unter den männlichen Gemeindegliedern, ob die Frauen denselben Eingang wie die Männer benutzen durften (!).
Synagogengebäude (hist. Aufn., aus: Bruno Stern) und Chuppastein (aus: Jüdische Gotteshäuser u. Friedhöfe in Württemberg", 1932)
neues Synagogengebäude (hist. Aufn., kurz vor der Zerstörung)
Im Betraum (alle hist. Aufnahmen aus: Bruno Stein, Meine Jugenderinnerungen ...)
Im Hof vor der Synagoge befand sich das rituelle Bad.
Ein seitens der Gemeinde angestellter Lehrer verrichtete die religiösen Aufgaben; zeitweilig war auch ein zweiter vorhanden bzw. auch andere Personen waren als Vorbeter/Schochet tätig.
In den 1830er Jahren war auch eine jüdische Elementarschule eröffnet worden; sie bestand noch bis 1933 als Konfessionsschule. Letzter jüdischer Lehrer in Niederstetten war der Martin Schloss (geb. 1915), der in den Jahren 1937 bis zu seiner Emigration (1939) hier war.
Die jüdische Gemeinde gehörte seit 1832 zum Rabbinatsbezirk Mergentheim.
Juden in Niederstetten:
--- um 1750 .......................... 15 jüdische Familien,
--- 1807 ............................. 138 Juden (ca. 9% d. Bevölk.),
--- 1824 ............................. 171 “ ,
--- 1843 ............................. 195 “ (ca. 11% d. Bevölk.),
--- 1845 ............................. 217 “ ,
--- 1854 ............................. 215 “ (ca. 13% d. Bevölk.),
--- 1871 ............................. 185 " (ca. 10% d. Bevölk.)
--- 1886 ............................. 192 “ ,
--- 1900 ............................. 163 “ ,
--- 1905 ............................. 146 “ (ca. 9% d. Bevölk.),
--- 1910 ............................. 116 “ ,
--- 1933 ............................. 81 “ ,
--- 1941 ............................. 42 “ .
Angaben aus: Paul Sauer, Die jüdischen Gemeinden in Württemberg und Hohenzollern, S. 134
Niederstetten auf hist. Postkarte (aus: plz-suche.org)
Die Juden Niederstettens waren für die Wirtschaft der kaum 2.000 Menschen zählenden Kleinstadt von erheblicher Bedeutung; Geschäfte verschiedenster Branchen waren in jüdischem Besitz. Gehandelt wurde vor allem mit Vieh, Wein- u. Landesprodukten und Eisenwaren; daneben gab es auch einige Textilgeschäfte, Metzgereien und Viehhandlungen; auch eine Schleiferei für Industriediamanten befand sich am Ort.
Lehrstellenangebote 1901/1903
Die jüdischen Familien waren weitestgehend in die kleinstädtische Gesellschaft integriert; sie gehörten lokalen Vereinen an, waren in den demokratischen Parteien engagiert und übten Mandate im Gemeinderat aus.
Antijüdische Aktivitäten in Niederstetten wurden bereits im Herbst 1929 für alle sichtbar, als dort „unbekannte“ Täter etliche Grabsteine auf dem jüdischen Friedhof mit Hakenkreuzen versahen.
Nach der NS-Machtübernahme 1933 hatten die jüdischen Geschäftsleute unter den Boykottmaßnahmen zu leiden. Bald verloren sie ihre Lebensgrundlage und emigrierten zumeist.
Bereits Ende März 1933 waren SA-Angehörige in Häuser/Wohnungen jüdischer Bürger eingedrungen, hatten die Männer ins Rathaus gebracht und dort schwer misshandelt.
Hermann Umfrid (geb. 1892), Pfarrer der evangelischen Kirchengemeinde Niederstetten, hatte daraufhin in seiner Predigt gegen diese Misshandlungen Stellung genommen. Danach wurde er von den NS-Behörden bedroht; auch seine Kirchenleitung rügte ihn wegen seiner öffentlich gezeigten Solidarität mit Juden. Auf Grund des auf ihn ausgeübten psychischen Druckes und der Androhung, seines Amtes enthoben zu werden, nahm Hermann Umfrid sich im Januar 1934 das Leben.
Die letzten jüdischen Geschäfte mussten Ende November 1938 schließen.
In der Pogromnacht vom November 1938 wurde zwar die Synagoge nicht zerstört; doch wurden einige männliche Juden Niederstettens inhaftiert und mehrere Wochen lang festgehalten.
1941/1942 wurden die mehr als 40 in Niederstetten verbliebenen Juden deportiert; nur drei von ihnen kehrten nach Kriegsende zurück. Noch im Februar 1945 (!) wurde eine „in Mischehe“ lebende Jüdin nach Theresienstadt verschleppt.
Der NS-Vernichtungspolitik sind nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem/Jerusalem und des "Gedenkbuches - Opfer der Verfolgung der Juden ..." nachweislich 48 gebürtige bzw. längere Zeit in Niederstetten ansässig gewesene Juden zum Opfer gefallen (namentliche Nennung der betroffenen Personen siehe: alemannia-judaica.de/niederstetten_synagoge.htm).
Das einstige Synagogengebäude in Niederstetten wurde im Frühjahr 1945 durch Kriegseinwirkung zerstört und brannte völlig aus; die Kultgegenstände waren zuvor in Sicherheit gebracht worden. Eine Tafel informiert wie folgt:
SYNAGOGE
Dieses Haus steht auf den Grundmauern der Synagoge der ehemaligen jüdischen Gemeinde
1824 erbaut, 1945 durch Bomben zerstört. (9.April)
Der erhaltengebliebene Friedhof (südlich vom Schloss beim Eulhof) mit seinen mehr als 500 Grabsteinen - umgeben von einer massiven Steinmauer - erinnert heute noch an die ehemalige hier beheimatete jüdische Gemeinde; der älteste Stein auf dem ca. 3.500 m² großen Areal datiert von 1739.
Blick über das Friedhofsgelände Niederstetten (Aufn. Schorle, 2018, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 4.0)
alle Aufnahmen: Eva Maria Kraiss u. Marion Reuter, Bet Hachajim - Haus des Lebens. Jüdische Friedhöfe in Württembergisch Franken
Der Rabbiner, Journalist und spätere sozialistische Schriftsteller Jakob (Isaak) Stern wurde in Niederstetten 1843 geboren. Nach seiner religiösen Ausbildung in Zell/Main, an der Jeschiwa in Preßburg und einem Studium in Tübingen kehrte er an seinen Geburtsort Niederstetten zurück, wo er als Rabbinatskandidat auf eine Anstellung wartete. 1873 war er kurzzeitig als Rabbinatsverweser beim Bezirksrabbinat Mühringen eingesetzt, ehe er dann als Rabbiner nach Buttenhausen ging. Auf Grund seiner freidenkerischen Äußerungen in der Gemeinde wurde er 1880 als Rabbiner suspendiert. Danach bestritt Jakob Stern seinen Lebensunterhalt als Journalist und Schriftsteller in Stuttgart; als Theoretiker der Sozialdemokraten Württembergs veröffentlichte er regelmäßig politische Artikel und betätigte sich als sozialdemokratischer Funktionär: er kandidierte 1887 für den Reichstag und 1889 für den württembergischen Landtag. Auf dem Erfurter Parteitag der SPD (1891) legte Stern sogar einen eigenen Programmentwurf vor. Von schweren Erkrankungen gezeichnet beging er 1911 Selbstmord. Im Laufe seines Lebens hat Jakob Stern viele Publikationen (unterschiedlichster Themen) und eine Unmenge von Aufsätzen und Zeitungsartikeln verfasst.
Weitere Informationen:
Paul Sauer, Die jüdischen Gemeinden in Württemberg und Hohenzollern. Denkmale - Geschichte - Schicksale, Hrg. Archivdirektion Stuttgart, Kohlhammer Verlag, Stuttgart 1966, S. 134 - 136
Bruno Stern, Meine Jugenderinnerungen an eine württembergische Kleinstadt und ihre jüdische Geschichte. Mit einer Chronik der Juden in Niederstetten u. Hohenlohe vom Mittelalter bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges, in: Lebendige Vergangenheit, Bd. 4, Stuttgart 1968
Utz Jeggle, Judendörfer in Württemberg, Dissertation (Universität Tübingen), Nagold 1969
Hermann Dicker, Aus Württembergs jüdischer Vergangenheit und Gegenwart, Bleicher Verlag, Gerlingen 1984, S. 59 ff.
Die Juden in Tauberfranken 1933 - 1945. Quellen und didaktische Hinweise für die Hand des Lehrers, Hrg. Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg, 1984
Eggert Hornig, Der jüdische Friedhof in Niederstetten, in: Beiträge zur Geschichte, hrg. vom Heimatverein e.V., 1986
Joachim Hahn, Erinnerungen und Zeugnisse jüdischer Geschichte in Baden-Württemberg, Konrad Theiss Verlag, Stuttgart 1988, S. 352 f.
Elfriede Hahn, Jüdischer Alltag in Niederstetten, in: "Niederstetter Heimatbuch, Niederstetten 1990", S. 332 – 334
Hartwig Behr, Gedenket unser - Zur Geschichte der jüdischen Gemeinde von Niederstetten, in: Walter Krüger (Hrg.), 650 Jahre Stadt Niederstetten, Niederstetten 1991, S. 317 - 331
Elfriede Hahn, Jüdischer Alltag in Niederstetten, in: Walter Krüger (Hrg.), 650 Jahre Stadt Niederstetten, Niederstetten 1991, S. 332 - 335
Situtunga Michal Antmann (Bearb.), Der jüdische Friedhof von Niederstetten, Unveröffentlichte Grunddokumentation des Landesdenkmalamtes Baden-Württemberg, 1996
Heiner Jestrabek (Hrg.), Vom Rabbiner zum Atheisten. Ausgewählte religionskritische Schriften / Jakob Stern, Aschaffenburg/Berlin 1997
Hellmut G. Haasis (Bearb.), „Ich bin ein armer Teufel, der ums liebe Brot schreibt“. Zum 150. Geburtstag des württembergischen Reformrabbiners und sozialistischen Schriftstellers Jakob Stern (1843-1911) aus Niederstetten, in: Manfred Bosch (Hrg.), Alemannisches Judentum. Spuren einer verlorenen Kultur, Eggingen 2001, S. 341 – 352
Eva Maria Kraiss/Marion Reuter, Bet Hachajim - Haus des Lebens. Jüdische Friedhöfe in Württembergisch Franken, Swiridoff Verlag, Künzelsau 2003, S. 124 - 129
Niederstetten, in: alemannia-judaica.de (mit zahlreichen Text- und Bilddokumenten zur jüdischen Ortshistorie, insbes. personenbezogener Art)
Joachim Hahn/Jürgen Krüger, “Hier ist nichts anderes als Gottes Haus ...” Synagogen in Baden-Württemberg, Teilband 2: Orte und Einrichtungen, Konrad Theiss Verlag GmbH, Stuttgart 2007, S. 350 - 352
Jörg Thierfelder, Hermann Umfrid (1892-1934) – Protest eines Pfarrers gegen den Pogrom in Niederstetten 1933, in: Angela Borgstedt/u. a., Mut bewiesen. Widerstandsbiographien aus dem Südwesten, in Schriften zur politischen Landeskunde Baden-Württembergs, Hrg. Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg, Bd. 46, Stuttgart 2017
Arbeitskreis Jüdischer Kulturweg. Hohenlohe – Tauber (Bearb.), Niederstetten (und weitere Orte) – Broschüre oder online abrufbar unter: juedischer-kulturweg.de (letzte Aktualisierung Mai 2018)
Lena Bayer Red.), Niederstetten: Verschlossene Türen, ein Blick über massive Mauern, in: “Main-Post” vom 9.9.2020