Niederwerrn (Unterfranken/Bayern)
Niederwerrn ist eine Kommune mit derzeit ca. 8.000 Einwohnern im unterfränkischen Landkreis Schweinfurt – direkt angrenzend an den im Nordwesten liegenden Stadtteil Hainig der Stadt Schweinfurt (Kartenskizze 'Landkreis Schweinfurt', Hagar 2010, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0).
Die Blütezeit der Niederwerrner jüdischen Gemeinde lag zwischen Mitte des 18. und Mitte des 19.Jahrhunderts. Um 1820/1940 waren nahezu 40% der Dorfbevölkerung Niederwerrns mosaischen Glaubens.
Im Laufe des 16.Jahrhunderts zogen jüdische Familien in das Dorf Niederwerrn bei Schweinfurt - vermutlich waren sie 1555 aus Würzburg vertrieben worden. Doch erstmals urkundlich nachweisbar sind Juden in Niederwerrn gegen Mitte des 17.-Jahrhunderts, als die Adelsfamilie der Freiherren von Münster im schwer durch den 30jährigen Krieg betroffenen Dorf Juden auf ihrem Hofgut ansiedelte und unter ihren ‚Schutz‘ nahm.
1786 errichtete die Judenschaft eine neue Synagoge im Stile des Barock, die einen bestehenden kleineren Bau ablöste; das relativ große Gebäude stand mitten im Dorf. Der aus dem Ort stammende und später als Bankier in Amsterdam und London zu Wohlstand gekommene Löb Kent soll diesen Synagogenbau mit einer Stiftung von 6.000 Gulden finanziert haben. Die Jahreszahl der Erbauung „5546“ (1785/1786) ist in einem Eckstein des Gebäudes festgehalten.
Synagoge in Niederwerrn (links: Abb. von einem Buch-Cover, rechts: hist. Aufn., A.Berlinger, um 1930)
1839 wurde Niederwerrn Sitz eines Distrikt-Rabbiners, doch bereits drei Jahrzehnte (1864) später wurde der Sitz nach Schweinfurt verlegt.
Seit 1877 besaß die jüdische Gemeinde ein neues Schulhaus, das einen Vorgängerbau ablöste; nach 1921 besuchten die wenigen jüdischen Kinder die protestantische Schule des Ortes.
Anzeige in der Zeitschrift "Der Israelit" vom 19. Juni 1924
Da es in Niederwerrn keine jüdische Begräbnisstätte gab, wurden verstorbene Gemeindeangehörige auf dem jüdischen Bezirksfriedhof in Euerbach beerdigt. Von Niederwerrn führte ein eigener „Judenweg” dorthin. War ein jüdischer Dorfbewohner verstorben, wurde der Leichenzug vom evangelischen Pfarrer zum Dorf hinausbegleitet. Die Euerbacher Begräbnisstätte war um 1650 angelegt worden und diente seitdem der Judenschaft des gesamten Umlandes als letzte Ruhestätte.
Seit Ende des 19. Jahrhunderts gehörten auch die im benachbarten Geldersheim lebenden jüdischen Personen zu Niederwerrn.
Juden in Niederwerrn:
--- um 1800 .................. ca. 240 Juden (in 54 Familien, ca. 40% d. Dorfbev.),
--- 1816 ......................... 265 “ ,
--- 1832 ......................... 308 “ (ca. 40% d. Dorfbev.),
--- 1844 ......................... 58 jüdische Familien,
--- 1867 ......................... 207 Juden,
--- 1880 ......................... 197 “ ,
--- 1895 ......................... 162 “ (ca. 22% d. Dorfbev.),
--- 1900 ......................... 140 “ ,* *andere Angabe: 174 Pers.
--- 1910 ......................... 90 “ ,
--- 1917 ......................... 65 “ ,
--- 1925 ......................... 51 “ (ca. 6% d. Dorfbev.),
--- 1933 ......................... 39 “ ,
--- 1937 ......................... 30 “ ,
--- 1939 (Sept.) ................. 14 “ ,
--- 1942 (Febr.) ................. 9 “ ,
(Sept.) ................. keine.
Angaben aus: Karl-Heinz Grossmann, Die Niederwerrner Juden 1871 - 1945, S. 240 (Anhang)
und Ulrich Debler, Geschichte der jüdischen Gemeinde Niederwerrn, Niederwerrn 1988, S. 24
und W.Kraus/H.-Chr. Dittscheid/G. Schneider-Ludorff (Hrg.), Mehr als Steine … Synagogengedenkband Bayern, Unterfranken, Teilband III/2.2, S. 1436
Nachdem der bayrische Matrikelparagraph abgeschafft worden war (1861), setzte nun eine Abwanderung der jüdischen Familien aus Niederwerrn ein (zumeist ins nahe Schweinfurt); innerhalb nur weniger Jahrzehnte hatte sich die Zahl der jüdischen Bewohner mehr als halbiert (siehe Statistik oben)..
Das Zusammenleben der evangelischen Bevölkerungsmehrheit mit der jüdischen Minderheit war in Niederwerrn nicht immer spannungsfrei; meist lösten finanzielle Dinge Streitigkeiten aus. Trotzdem waren die Niederwerrner Juden in die Dorfgesellschaft weitestgehend integriert. Haupterwerbszweige der jüdischen Familien waren bis in die 1920er Jahre der Vieh- und Pferdehandel und die Metzgerei. Abwanderung und Überalterung hatte die Zahl der jüdischen Dorfbewohner um die Jahrhundertwende deutlich reduziert.
Zu Beginn der NS-Zeit lebten in Niederwerrn noch etwa 45 Juden, deren wirtschaftliche Lage sich nun sichtbar verschlechterte. Auch waren sie antisemitischen Übergriffen ausgesetzt: so wurden Mitte der 1930er Jahre mehrfach Fensterscheiben der von Juden bewohnten Häuser eingeworfen. Ihrer wirtschaftlichen Existenz beraubt, verließen die meisten Familien schließlich 1938/1939 ihren Heimatort.
Während des Novemberpogroms von 1938 verwüsteten SS/SA-Angehörige aus Schweinfurt Häuser jüdischer Familien und griffen auch deren Bewohner tätlich an. Viele Dorfbewohner hatten sich den Ausschreitungen angeschlossen. Anschließend drang die Menge in die Synagoge ein, zerstörte deren Inneneinrichtung mitsamt der alten, wertvollen Ritualgegenstände. Die Trümmer wurden anschließend in Brand gesetzt. Auch das jüdische Gemeindehaus und die Lehrerwohnung waren von den Ausschreitungen betroffen. In den Tagen danach mussten alle Juden Niederwerrns ihren Haus- und Grundbesitz veräußern; dabei hatte der Ortsbauernführer die sehr niedrigen Verkaufspreise festgesetzt.
Aus einem Hetzartikel der „Mainfränkischen Zeitung” vom 14.12.1940:
Die Nähe der freien Reichsstadt Schweinfurt und auch die verschiedenen Judenverbote innerhalb der reichsstädtischen Mauern haben es wohl mit sich gebracht, daß Niederwerrn eine Zufluchtsstätte für Juden wurde. ... Als 1900 die Gemeinde auf 800 Einwohner gewachsen war, da wurden 200 Juden gezählt, die sich als fette Läuse im Pelz der dörflichen Gemeinschaft festgesetzt hatten und da Reichtümer auf Reichtümer anhäuften. ... In Niederwerrn wurde daher das Jahr 1933 als reinigendes Gewitter empfunden und begrüßt. Die Jardanesen schüttelten den Staub des ‘ungastlichen’ Deutschland von den Füßen und verdufteten zum Großteil in alle Winde. Im Jahre 1936 zählte man noch 36 plattfüßige und krummnasige ‘Einwohner’, die bis auf sechs das Feld geräumt haben. Die Zeit aber wird nicht mehr ferne sein, da auch Niederwerrn völlig judenfrei und einer Plage los ist, unter der es Jahrhunderte lang litt.
Anfang des Jahres 1942 lebten nur noch neun Juden im Ort; im Laufe des Jahres wurden sie - via Würzburg - nach Izbica bei Lublin und nach Theresienstadt deportiert.
Nach Angaben der Gedenkstätte Yad Vashem/Jerusalem und des "Gedenkbuches - Opfer der Verfolgung der Juden ..." wurden mindestens 30 gebürtige bzw. länger in Niederwerrn ansässig gewesene Juden Opfer der Shoa (namentliche Nennung der Opfer siehe. alemannia-judaica.de/niederwerrn_synagoge.htm).
1950/1951 mussten sich zwölf an den Novemberausschreitungen von 1938 beteiligte Männer und Frauen vor einem Schweinfurter Gericht verantworten; vier der Angeklagten wurden zu Haftstrafen verurteilt, die anderen freigesprochen.
Das ehemalige Synagogen- und das jüdische Schulgebäude befinden sich heute im kommunalen Besitz. Das während der Kriegsjahre als Lagerraum benutzte Synagogengebäude diente später dann als Kino bzw. als Ausbildungsstätte der Industrie- u. Handelskammer. Das Gebäude der ehemaligen jüdischen Schule dient seit Jahrzehnten als Rathaus. Seit 2001 sind im aufwändig renovierten ehemaligen Synagogengebäude in der Schweinfurter Straße die Bibliotheksräume der Gemeinde Niederwerrn untergebracht.
Ehem. Synagogengebäude (Aufn. V. Rudolf, 2008, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0)
Eine Gedenktafel erinnert an die ehemalige jüdische Gemeinde in Niederwerrn:
Dieses Gebäude wurde 1786 erbaut
und diente der Jüdischen Kultusgemeinde als Synagoge.
ZUR ERINNERUNG UND MAHNUNG
Nach Löb Kent, der 1785/86 das Synagogengebäude in seinem Geburtsort Niederwerrn durch die Bereitstellung finanzieller Mittel ermöglicht hatte, ist heute im Ort ein Platz benannt.
Eine Verlegung von sog. "Stolpersteinen" wurde 2013 vom Niederwerrner Gemeinderat mehrheitlich abgelehnt.
Mit einer „Koffer-Skulptur“ ist auch die Kommune Niederwerrn am zentralen Deportations-Projekt in Würzburg vertreten. In Niederwerrn hat der Koffer am Löb-Kent-Platz neben der Gemeindebibliothek, der früheren Synagoge, seinen Platz gefunden (Aufn. Gemeinde Niederwerrn, 2021, aus: denkort-deportationen.de).
Zu den bekanntesten Söhnen Niederwerrns gehörte der 1854 geborene Adolf Theilhaber, der später als Gynäkologe in München tätig war und durch Studien in seinem Fachgebiet bekannt wurde.
Weitere Informationen:
Hermann Bohrer, Niederwerrn. Eine kleine Heimatkunde, Schweinfurt 1917
N.N. (Red.), Löb Kent, in: „ Bayrische Israelitische Gemeindezeitung“ vom 1.9.1934 (L.K. trug wesentlich zur Finanzierung der Synagoge in Niederwerrn bei)
aruch Z.Ophir/F.Wiesemann, Die jüdischen Gemeinden in Bayern 1918 - 1945. Geschichte und Zerstörung, Oldenbourg-Verlag, München 1979, S. 370/371
Gerhard Wilhelm Daniel Mühlinghaus, Der Synagogenbau des 17. u. 18.Jahrhunderts im aschkenasischen Raum, Dissertation, Philosophische Fakultät Marburg/Lahn, 1986, Band 2, S. 272 - 274
Ulrich Debler, Geschichte der jüdischen Gemeinde Niederwerrn, in: „Würzburger Diözesangeschichtsblätter“, No. 48/1986, S. 475 - 508
Gerhard Bach, Zur Geschichte von Niederwerrn, Hrg. Gemeinde Niederwerrn, Schweinfurt 1988, S. 133 - 138
Karl-Heinz Grossmann, Daten und Texte zur Geschichte von Ober- und Niederwerrn, Niederwerrn 1988 (Maschinenmanuskript)
Karl-Heinz Grossmann, Die Niederwerrner Juden 1871 - 1945, Würzburg 1990
Israel Schwierz, Steinerne Zeugnisse jüdischen Lebens in Bayern. Eine Dokumentation, Hrg. Bayrische Landeszentrale für politische Bildungsarbeit, München 1992, S. 104/105
Theodor Harburger, Die Inventarisation jüdischer Kunst- und Kulturdenkmäler in Bayern, Band 3: Markt Berolzheim - Zeckendorf, Hrg. Jüdisches Museum Franken - Fürth & Schnaiitach, Fürth 1998, S. 619 - 621
Michael Schneeberger, Die Juden von Niederwerrn, in: "Jüdisches Leben in Bayern. Mitteilungsblatt des Landesverbandes der Israelitischen Kultusgemeinden in Bayern", No. 93/2003, S. 23 – 30
Niederwerrn, in: alemannia-judaica.de (mit diversen Dokumenten zur jüdischen Ortshistorie)
Dirk Rosenstock (Bearb.), Die unterfränkischen Judenmatrikeln von 1817. Eine namenkundliche und sozialgeschichtliche Quelle, in: "Veröffentlichungen des Stadtarchivs Würzburg", Band 13. Würzburg 2008, S. 246 - 249
Uwe Eichler (Red.), Von einem, der überlebte, in: „Main-Post“ vom 4.10.2011
Uwe Eichler (Red.), Stolpersteine fallen unter den Tisch – SPD-Antrag zum Gedenken an NS-Opfer im Finanzausschuss von Niederwerrn abgelehnt, in: „Main-Post – Lokalausgabe Schweinfurt“ vom 25.11.2013
Uwe Eichler (Red.), Ein Denkort auch für Niederwerrn, in: „Main-Post“ vom 26.9.2019
Uwe Eichler (Red.), Auch Niederwerrn will „DenkOrt“ werden, in: „Main-Post“ vom 27.1.2021
Gerhard Gronauer/Hans-Christof Haas (Bearb.), Niederwerrn: W.Kraus/H.-Chr. Dittscheid/G. Schneider-Ludorff (Hrg.), Mehr als Steine … Synagogengedenkband Bayern, Unterfranken, Teilband III/2.2., Kunstverlag Josef Fink, Lindenberg/Allgäu 2021, S. 1409 - 1443
Uwe Eichler (Red.), Niederwerrn. Erinnerung an die Kinder von nebenan, in: „Main-Post“ vom 10.11.2021