Nieheim (Nordrhein-Westfalen)
Nieheim - derzeit ca. 6.000 Einwohner zählend - ist eine westfälische Kleinstadt im Kreis Höxter (Weser) – knapp 25 Kilometer westlich der Kreisstadt gelegen (hist. Karte von Lippe, aus: wikiwand.com/de/Landratsamt_Blomberg und Kartenskizze 'Kreis Höxter', TUBS 2008, aus: commons.wikimediia.org, CC BY-SA 3.0).
Im letzten Viertel des 19.Jahrhunderts erreichte die Zahl der israelitischen Einwohner ihren höchsten Stand und stellte damals knapp 10% der Ortsbevölkerung.
Erste jüdische Familien siedelten sich in Nieheim nach Ende des Dreißigjährigen Krieges an. Gegen den Willen der Stadtbürger erlaubten die regierenden Fürstbischöfe die Niederlassung der ihnen abgabepflichtigen Juden; auch Proteste des Magistrats von Nieheim änderten wenig am landesherrschaftlichen Willen.
Aus einem Protestschreiben des Stadtrates aus dem Jahre 1795:
„ Gnaedigster Fürst und Herr, Ehedem hat die Stadt Nieheim nur acht jüdische Familien gehabt, allein dermahlen ist ihre Anzahl biß auf 14 Familien gewachsen, welche insgesamt vom schweiß der Bürger leben, ... so hat sie jedannoch jüngstens erfahren, daß noch andere Juden ins Besondere ein gewißer Jude aus Peckelsheim mit dem gedanken umgehe, sich in Niederheim Häußlich niederzulaßen und daselbst eine neue Familie stiften zu wollen. Gleich wie aber dieses ohne Eurer Hochfürstlichen Gnaden Einwilligung gnaedigst nicht geschehen darf, so glaubt der ... Magistrat, die Bitte wagen zu dörfen, dieselbe mit mehreren schutzbriefen gnaedigst zu verschonen.”
Wegen der hohen Zahlungen an die Fürstbischöfe lebten die Juden in recht ärmlichen Verhältnissen. Dazu waren ihren Häuser durch Stadtbrände geschädigt worden. Die meist ablehnende Haltung der christlichen Bevölkerungsmehrheit erschwerte bis weit ins 19.Jahrhundert die gesellschaftliche Integration der Juden.
1798 erhielt die jüdische Gemeinde vom Fürstbischof die Erlaubnis zum Bau einer Synagoge. Bereits ein Jahr später weihte die Nieheimer Judenschaft im hinteren Teil eines zweigeschossigen Fachwerkgebäudes in der Marienstraße diese ein; im Vorderhaus war die Schule mit Lehrerwohnung untergebracht; der Schulbetrieb wurde bis 1890 aufrecht erhalten. Ein geplanter Synagogenneubau gegen Ende des 19.Jahrhunderts scheiterte am Einspruch der Stadt Nieheim, die selbst am betreffenden Grundstück interessiert war.
Der jüdische Friedhof von Nieheim an der Lehmkuhle (in der heutigen Richterstraße) wurde in den 1840er Jahren angelegt; auch verstorbene Juden aus dem nahen Pömbsen fanden hier - gegen Entrichtung eines Begräbnisgeldes - ihre letzte Ruhe.
Zur Gemeinde gehörten auch die wenigen Familien aus den Dörfern Oeynhausen und Himmighausen.
Juden in Nieheim:
--- um 1650 ........................ 3 jüdische Familien,
--- 1666 ........................... 8 “ “ ,
--- 1681 ........................... 10 “ “ ,
--- 1719 ........................... 8 “ “ ,
--- um 1780 ........................ 11 “ “ ,
--- um 1795 ........................ 14 “ “ ,
--- 1802 ........................... 15 “ “ (74 Pers.),
--- 1843 ........................... 74 Juden,
--- 1871 ........................... 150 “ (ca. 9% d. Bevölk.),
--- 1885 ........................... 149 “ ,
--- 1895 ........................... 108 “ ,
--- um 1910 ........................ 95 “ ,
--- 1925 ........................... 75 “ ,
--- 1932 ........................... 77 “ ,
--- 1938 ........................... ? “ .
Angaben aus: Elfi Pracht, Jüdisches Kulturerbe in Nordrhein-Westfalen, Band III: Reg.bez. Detmold, S. 208
Straßenzug in Nieheim, um 1900 (Abb. aus: akpool.de)
Zu Beginn der 1930er Jahre wohnten in Nieheim noch mehr als 70 Personen jüdischen Glaubens.
Die Gewalttätigkeiten des Novemberpogroms von 1938 überstand das Synagogengebäude äußerlich unversehrt; so sollen Nieheimer Bauern den zerstörungswütigen, von auswärts angereisten SA-Angehörigen gewaltsam Einhalt geboten und so zunächst eine Brandlegung des Gebäudes verhindert haben; doch die am folgenden Tage unter Mitwirkung Nieheimer Einwohner durchgeführten Verwüstungen der Inneneinrichtung der Synagoge konnten oder wollten sie nicht verhindern. Zu Beginn des Krieges wurde das ehemalige Synagogengebäude von der Ortsbauernschaft als Kriegsgefangenen- bzw. Zwangsarbeiterlager genutzt. Nach 1945 diente das Gebäude als Wohnhaus. 26 jüdische Bewohner wurden 1941/1942 - meist via Bielefeld - deportiert; fast alle kamen in der Vernichtungslagern ums Leben.
Heute erinnern Kultgegenstände aus der Nieheimer Synagoge im Museum der Wewelsburg an das Schicksal der Gemeinde. Ein Denkmal für die einst hier lebenden Juden Nieheims - entworfen von der einheimischen Künstlerin Ursula Kuptz - wurde 2001 am ehemaligen Synagogenstandort enthüllt. Auf der Bronzetafel des Mahnmals findet man die biblischen Worte: „Warum überläuft es dich heiß - warum senkt sich dein Blick? Gen. 4,6“
Jüdisches Mahnmal (Aufn. Stadt Nieheim)
Heute erinnert der jüdische Friedhof in der Nieheimer Innenstadt mit seinen ca. 150 erhaltenen Grabsteinen an die verstorbenen Angehörigen der einstigen israelitischen Gemeinde; das letzte Begräbnis fand hier 1942 statt.
jüdischer Friedhof Nieheim (Aufn. Ts., 2017, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 4.0)
Hinter dem jüdischen Friedhof wurde 2019 eine Gedenkstätte eingeweiht, die den in der NS-Zeit verfolgten und ermordeten Nieheimer Juden gewidmet ist. Das Mahnmal weist die Namen jener Menschen aus, die sich bis zum Zeitpunkt ihrer Deportation in Nieheim aufhielten; auf den beiden Tafeln sind insgesamt 31 Personen verzeichnet.
Mahnmal wird enthüllt (Aufn. H. Wilfert, 2019, aus: "Westfalen-Blatt")
Weitere Informationen:
Peter Bonk/Siegbert Kuptz, Kirchturm und Hakenkreuz - Untersuchung zur Geschichte der Stadt Nieheim von 1933 bis 1949, Nieheim 1991
Elfi Pracht, Jüdisches Kulturerbe in Nordrhein-Westfalen, Band III: Regierungsbezirk Detmold, J.P. Bachem Verlag, Köln 1998, S. 207 - 211
G. Birkmann/H. Stratmann, Bedenke vor wem du stehst - 300 Synagogen und ihre Geschichte in Westfalen und Lippe, Klartext Verlag, Essen 1998, S. 158
Michael Brocke (Hrg.), Feuer an dein Heiligtum gelegt - Zerstörte Synagogen 1938 Nordrhein-Westfalen, Ludwig Steinheim-Institut, Kamp Verlag, Bochum 1999, S. 402
Ulrich Pieper (Bearb.), Nieheim, in: Historisches Handbuch der jüdischen Gemeinschaften in Westfalen und Lippe. Die Ortschaften und Territorien im heutigen Regierungsbezirk Detmold, Ardey-Verlag, Münster 2013, S. 559 - 566
Josef Köhne (Red.), Stolpersteine oder Gedenktafel, in: “NWZ - Neue Westfälische Zeitung” vom 21.2.2014
Fritz Ostkämper (Red.), Opfer der Schoa aus Nieheim, hrg. von der Jacob Pins Gesellschaft, online abrufbar unter: jacob-pins.de (Anm. enthält Kurzbiografien der verfolgten Juden aus Nieheim)
David Schellenberg (Red.), Streit um jüdisches Mahnmal in Nieheim geht weiter, in: “NWZ - Neue Westfälische Zeitung” vom 27.9.2016
Burkhard Battran (Red.), Nieheimer Ortsausschuss setzt Standort für jüdisches Mahnmal fest, in: “NWZ - Neue Westfälische Zeitung” vom 5.10.2016
Burkhard Battran (Red.), Nieheim. Mahnmal zum Holocaust-Gedenken in Nieheim enthüllt, in: “NWZ - Neue Westfälische Zeitung” vom 28.1.2019
Heinz Wilfert (Red.), “Die Toten sind nicht vergessen” - Mahnmal mit 31 Namen am Holocaust-Gedenktag in Nieheim enthüllt, in: “Westfalen Blatt” vom 28.1.2019
Heinz Wilfert (Red.), Der “Anwalt ohne Recht”, in: “Westfalen-Blatt” vom 23.3.2022 (betr. Anwalt Dr. Ernst Ikenberg aus Nieheim)
Josef Köhne (Red.), Jüdisches Leben in Nieheim nicht vergessen, in: “Westfalen-Blatt” vom 7.11.2023
Deutsche Stiftung Denkmalschutz (Red.), Der jüdische Friedhof in Nieheim, vom 6.6.2024